Tichys Einblick
Heute Bismarck, morgen wer?

Wenn moralisches Überlegenheitsgefühl auf Unwissenheit trifft, droht Unheil

Wie so vieles aus Amerika, man denke nur an amerikanische Schnellrestaurantketten, Sportartikelhersteller, Fernsehserien oder Kinofilme, schwappt der Protest auch über den Atlantik zu uns nach Deutschland.

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Das Bismarck-Nationaldenkmal am Großen Stern im Großen Tiergarten in Berlin wurde mit linken Parolen beschmiert! Dort steht: „Unified Germany“, „Destroyer Africa“ und „Colonizer“. Das Maß ist voll! Ich habe Anzeige bei der Berliner Polizei erstattet. Auch gegen das weltweit größte Bismarck-Denkmal in Hamburg gibt es Proteste. Wenn wir jetzt nicht massiv gegensteuern, ist es zu spät. Wenn linke Idioten Kulturrevolution spielen wollen, dann bitte irgendwo in einem kommunistischen Arbeiter- und Bauernparadies, z. B. Nordkorea, aber nicht in unserer Heimat!

„Damnatio memoriae“, lateinisch für „Verdammung des Andenkens“, bezeichnet die Praxis der Verfluchung oder demonstrativen Tilgung des Andenkens einer Person durch die Nachwelt. Bezieht sich der Begriff primär auf die Zeit des Römischen Reiches, wo man noch von „abolitio nominis“ sprach, so lassen sich auch in der Moderne vielfältige Beispiele für diese Praxis finden. Stalins Geheimpolizei etwa war berüchtigt dafür, Personen die in Ungnade gefallen und als Konterrevolutionäre entweder im Gulag oder vor dem Erschießungskommando gelandet waren, aus Photographien und Gemälden des Diktators herausgeschnitten zu haben. Die betreffenden Personen sollten, weil sie mittlerweile als politisch unliebsam galten, aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt werden.

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Doch scheinbar sind die Methoden der alten Römer und des KGB wieder in Mode. In den USA gehen Zehntausende auf die Straße, um – mal mehr, mal minder friedlich – gegen einen latenten Rassismus gegenüber Afroamerikanern zu protestieren. Inwieweit, die Plünderung von Geschäften diesem noblen Anliegen dient, sei jetzt einfach mal dahingestellt. Eine Kernforderung der Demonstranten ist der Abbau von Denkmälern konföderierter Generale und Politiker. Nun kann ich jeden schwarzen US-Amerikaner verstehen, der nicht begeistert ist, dass der öffentliche Raum in manchen US-Bundesstaaten mit Denkmälern gepflastert ist, die eben jenen Offizieren huldigen, die für die Konföderation im Amerikanischen Bürgerkrieg kämpften.

Und wie so vieles aus Amerika, man denke nur an amerikanische Schnellrestaurantketten, Sportartikelhersteller, Fernsehserien oder Kinofilme, schwappt der Protest auch über den Atlantik zu uns nach Deutschland. Nur fehlen bei uns im Land glücklicherweise die Denkmäler für Erzschurken vom Kaliber der Sklavenhalter im amerikanischen Süden. Sklaverei, die gab es in Deutschland nicht. Die Leibeigenschaft wurde in Preußen 1807 abgeschafft. Ein Jahr später zog das Herzogtum Nassau nach, dessen Territorium teilidentisch mit meinem Wahlkreis ist.

Darum musste sich die junge radikalisierte Linke in Deutschland ein anderes Feindbild suchen. Nach der deutschen Polizei und Immanuel Kant scheint man nun anderweitig fündig geworden zu sein. So lassen sich zumindest die roten Beschmierungen deuten, die vor einigen Tagen auch auf einem Bismarck-Denkmal im Hamburger Schleepark entdeckt wurden. Bismarck scheint den Extremisten ein ähnlicher Dorn im Auge zu sein, wie die konföderierten Generale den Protestierern in Alabama, Georgia und anderen US-Südstaaten.

In den Medien wurden die Randalierer bereits vermehrt mit protestantischen Bilderstürmern verglichen. So strapaziert diese Analogie auch sein mag, so treffend ist sie auch zugleich. Mich erinnert der Eifer einiger meist junger Leute an das Wirken ideologischer oder religiöser Puritaner. Weniger wohlwollend könnte man auch von Fanatikern sprechen. Sie glauben, die Welt würde ein besserer Ort, wenn man nur genügend Triggerwarnungen ausspricht, die geschriebene Sprache mit dem Genderstern verunstaltet, die gesprochene Sprache mit dem Stotter-Stern verhunzt und unliebsame Meinungen und Personen an den Rand drängt.

Dieser Text soll darum auch keine Ode an Otto von Bismarck sein. Vielmehr möchte ich mich an dem versuchen, was die Linken als „historische Einordnung“ so lieben.

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Ja, es stimmt, Bismarck nahm, um sein Ziel der deutschen Einheit zu erreichen, drei Kriege in Kauf. Doch ihn als gewissenlosen Kriegshetzer zu verunglimpfen, wie es unter „engagierten Studierenden“ der Politologie, Soziologie oder Historie scheinbar Mode ist, das wäre zu kurz gedacht. Für ihn waren der Deutsch-Dänische Krieg 1864, der Deutsche oder Preußisch-Österreichische Krieg 1866 und der Deutsch-Französische Krieg 1870/1871 nur Mittel zu einem Zweck: der Bildung eines deutschen Nationalstaates unter preußischer Führung. Und der Erfolg gab ihm Recht: in den zuvor benannten, später Einigungskriege getauften Auseinandersetzungen, gelang es Preußen unter der Regierung Bismarcks, die unerträgliche deutsche Kleinstaaterei zu beenden und Österreich aus Deutschland hinauszudrängen, ohne es jedoch dabei dauerhaft zu antagonisieren.

Für das Verhältnis von Staatsmännern des 19. Jahrhunderts zum Krieg, ist ein viel bemühtes Zitat des preußischen Historikers und Militärwissenschaftlers Carl von Clausewitz sehr aufschlussreich. In seinem Werk „Vom Kriege“ führt er aus, dass der Krieg nur ein Teil des politischen Verkehrs sei, nichts selbstständiges, „(…) nichts als eine Fortsetzung des politischen Verkehrs mit Einmischung anderer Mittel.“ Für die Staatsmänner des 19. Jahrhunderts (Ja, es waren nur Männer, mag die engagierte Genderforscherin meinen, was sie will!) war es damals völlig normal sich mit Kavallerie und Artillerie zu beharken, wenn Verhandlungen und diplomatische Depeschen keine Lösung versprachen. Dies mag man zwar aus heutiger Sicht verdammen, ändern kann der moralische Zorn die Vergangenheit jedoch nicht. Bismarcks Politik entsprang darum den Gewohnheiten, Zwängen und Prioritäten ihrer Zeit. Ihn anhand heutiger Vorstellung von politischer Korrektheit zu bemessen, ist ahistorisch und ein grober Akt der Heuchelei.

Auch der Nationalstaat, den Bismarck für Deutschland maßgeblich mit erschuf, ist unserer Tage leider in Verruf geraten. Das 19. Jahrhundert hingegen, in dem Bismarck lebte und wirkte, ist unter Historikern nach wie vor als das Zeitalter der Nationalstaaten bekannt. Nicht nur in den deutschen Zwergfürstentümern war der Drang nach nationaler Vereinigung zu dieser Zeit groß. Auch auf der italienischen Halbinsel gelang es erst 1861, also 10 Jahre vor der Gründung des Deutschen Reiches, erstmals in der Geschichte ein vereinigtes Italien zu erschaffen. Ein anderes Beispiel ist Griechenland, das sich im 19. Jahrhundert vom osmanischen Joch befreite. Ein polnischer Staat, der nach drei Teilungen über 100 Jahre von der Landkarte verschwunden war, konnte sogar erst nach dem Ersten Weltkrieg neu gebildet werden.

An einer ernsthaften Historisierung Bismarcks, in all seinen Facetten, können die tiefrot-grünen Kulturkämpfer von heute kein Interesse haben. Zu viele unliebsame Fakten ließen sich anführen, die den bequemen Narrativ vom erzbösen Vertreter des preußischen Obrigkeitsstaates konterkarieren. Doch um Fakten geht es den linksextremen Propagandisten ja eh nicht, sondern einzig um die absolute Dominanz ihrer Weltanschauung!

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Im Jahre 1998 stellte die Historikerin Karina Urbach fest, dass keine andere deutsche politische Figur dermaßen für politische Ziele benutzt und missbraucht worden sei, wie Otto von Bismarck. Galten bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs die Hohenzollern als Stifter der Reichseinheit, so vereinnahmte die deutsche Kriegspropaganda den eisernen Kanzler rasch für ihre Zwecke. In der Weimarer Republik wurde Bismarcks Gedächtnis instrumentalisiert, um gegen die Demokratie zu agitieren und die Nationalsozialisten stellten Adolf Hitler in ihrer Propaganda in eine Kontinuitätslinie zu Bismarck. Und nun haben ihn die linken Kulturkämpfer in ihrem pseudomoralischen Kampf gegen Kolonialismus, Faschismus und jede vermeintliche Form von Diskriminierung für sich als Feindbild entdeckt!

Doch wie stets: Wenn ein moralisches Überlegenheitsgefühl auf Unwissenheit trifft, droht Unheil. Die sogenannten „Aktivisten“ blenden nämlich bewusst in ihrem Kampf um die Deutungshoheit im öffentlichen Diskurs all das aus, was Bismarck aus ihrer Sicht entlasten könnte. Viel lieber wird er stattdessen als Rassist und Kolonialist verunglimpft. Wer aber Bismarck rassistischen Hass unterstellt, verkennt schlicht die Fakten. Man muss zwar einräumen, dass der eiserne Kanzler Polen oder Dänen sicher nicht besonders wohlwollend gegenüberstand. Allerdings ging es ihm dabei nie um die Ethnie. Viel mehr sah er durch deren eigene nationalistische Tendenzen die Einheit des Deutschen Reiches bedroht. Und die galt es für ihn nun mal zu schützen. Das ist kein Rassismus, sondern politisches Kalkül!

Auch der Vorwurf, Bismarck sei ein grausamer Kolonialherr gewesen, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als geschichtsklitternde Heuchelei. Insgesamt stand er nämlich dem Thema Kolonien bemerkenswert reserviert gegenüber. Zwar wurden auf der Berliner Kongokonferenz 1884/1885 Einflusssphären der europäischen Großmächte im afrikanischen Kongobecken abgesteckt und das, wie damals üblich, über die Köpfe der dortigen Stämme und Völker hinweg. Jedoch bezweckte er damit nur eine Annäherung an den ehemaligen Kriegsgegner Frankreich, indem er dessen Interessen in der Region unterstützte. Dem Afrikareisenden und Journalisten Eugen Wolf gegenüber soll er 1888 folgendes geäußert haben: „Ihre Karte von Afrika ist ja sehr schön, aber meine Karte von Afrika liegt in Europa.“

Zum Schluss vielleicht noch etwas für die laizistischen Seelen unter der Leserschaft. Denn Otto von Bismarck war nicht nur Außenpolitiker. Auch in der Innenpolitik des damaligen Deutschlands war er eine der gestaltenden Kräfte. Gegen den entschiedenen Widerstand der katholischen Kirche regelte Bismarck 1875 mit dem Gesetz über die Eheschließung die Einführung der Zivilehe in Deutschland. So konnte ohne Beteiligung der Kirchen geheiratet werden. Sicher, Bismarck nutzte dies im Rahmen seines „Kulturkampfes“ gegen den Katholizismus primär, um den Einfluss der Kirche zu beschneiden. Am Ende zählt hier jedoch eher das praktische Ergebnis als die tatsächliche Motivation.

Und auch für den sozialdemokratisch gesinnten Geist hier noch ein Happen. Denn man glaubt es kaum oder möchte eventuell auch nicht daran erinnert werden, dass unser heutiger umfassender Sozialstaat in Deutschland auf die Initiative des Eisernen Kanzlers zurückgeht. Die von seiner Regierung ab 1883 eingeführten Versicherungen, namentlich die Unfallversicherung, Krankenversicherung, Invaliditätsversicherung und Rentenversicherung bilden noch heute das Fundament des deutschen Sozialstaates.

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Bismarck war Adliger, Reaktionär, Katholikenfresser, Ministerpräsident, erster deutscher Kanzler. Aber auch der Stifter der deutschen Reichseinheit, Begründer unseres Sozialversicherungssystems und Vorkämpfer für die Säkularisation. Vor allem aber war er ein Kind seiner Zeit. Ob er nun Genie oder Dämon war, daran scheiden sich die Geister. In jedem Fall war er ein geschickter Diplomat und ein Meister des politischen Spiels, der Gelegenheiten erkannte und ergriff. Noch im Jahre 2003 lokalisierte eine repräsentative Umfrage für die ZDF-Sendung „Unsere Besten“ Otto von Bismarck in der Kategorie „Die größten Deutsche“ auf dem neunten Rang, direkt hinter Johannes Gutenberg und noch vor Albert Einstein.

Wenn jetzt Bismarck-Denkmäler abgebaut werden sollen oder mit sogenannten „Informationstafeln“ in einen bestimmten Kontext gesetzt werden, dann hier ein Vorschlag meinerseits: wo wir schon bei der historischen Hygiene sind und die Erinnerung an Teile unserer Vergangenheit zwanghaft bereinigen wollen, sollten wir dann nicht auch erwägen, uns den mannigfaltigen Denkmäler für Karl Marx zu widmen? Schließlich war es seine Ideologie, die bis heute den traurigen Rekord hält, als einziger mehr Elend und Verheerung über die Welt gebracht zu haben, als alle nationalsozialistischen und faschistischen Diktatoren zusammen. Ach nein, denn Marx wurde ja immer nur falsch verstanden.

Heute wird versucht Bismarck aus dem kollektiven Gedächtnis zu drängen, morgen dann ein anderer konservativer Kopf, welcher der linken Avantgarde nicht mehr genehm ist. In meinem Wahlkreis thront am Niederwald eindrucksvoll die Germania über dem Rhein und erinnert an die Einigung Deutschlands 1871. Man muss sich wohl leider fragen, wie lange noch. Hingegen haben wohl die meisten Marx-Denkmäler auch zukünftig wenig zu befürchten. Willkommen im schönen Deutschland, der Republik der Doppelstandards!

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