Tichys Einblick
Corona-Update 11.01.2021

Wann wird endlich gelockert? Die Politik in der Falle ihrer willkürlichen Richtwerte

Die Politik hat sich an die Zahl 50 von 100.000 gebunden. Doch ist das wirklich sinnvoll? Es müsste jetzt eine Öffnungsdebatte beginnen, doch man hat sich selbst gefesselt. Wie ist der Stand beim Impfen? Alles Wichtige im Überblick.

imago images / Bildgehege

Die gemeldeten Corona-Infektionen gingen in der letzten Woche leicht zurück. Die Zahl der insgesamt durchgeführten Tests ist aber zuletzt ebenfalls stark zurückgegangen – das führt automatisch auch zu weniger Positiv-Getesteten, die als Neuinfektionen registriert werden. Wir erfassen also zur Zeit weniger Infektionen, ob es aber tatsächlich weniger gibt, ist die Frage. Die Zahl der Neuinfektionen stagniert seit der 45. Kalenderwoche im großen und ganzen.

Die Zahl der Toten erreicht diese Woche einen neuen Höchststand, wohl auch bedingt durch Nachmeldungen über die Feiertage. Zurückzuführen ist die Zahl weiterhin auf die ungebrochen hohe Zahl der Infektionen in den Altersheimen.

Auf den Intensivstationen – hier liegen die verlässlichsten Zahlen vor – ist die Zahl der Corona-Patieten rückläufig. Das ist insofern bemerkenswert, als dass diese Zahl keinen großen Schwankungen unterliegt und bis dato seit beginn der 2. Welle konstant gestiegen war. Unser Gesundheitssystem ist in den vergangenen Monaten mit konstant hohen Infektionszahlen zurecht gekommen. Es gab viele Probleme, die durch die grundsätzlich schlechte Verfassung unseres Gesundheitssystems ausgelöst wurden, aber eine Triage konnte immer vermieden werden. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass sich daran jetzt etwas ändern sollte – im Gegenteil, die Lage verbessert sich. 

Die Frage ist: Wo – jetzt fast vier Wochen nach der Einführung des harten Lockdowns – zeigt sich seine Wirkung? Auch im internationalen Vergleich: Schweden liegt bei den Toten unterhalb des europäischen Durchschnitts, die Todeszahlen im einstigen Musterstaat Israel steigen und man befindet sich bereits in der dritten Welle. Auch in Japan und Südkorea, die bisher durch harte Maßnahmen die Zahlen am Boden hielten, erreichen die Todeszahlen jetzt neue Höchststände.

Sicherlich können konsequente Isolationsmaßnahmen die Infektionen im Gesamten drücken (auch wenn sich das bis dato in Deutschland kaum abzeichnet). Aber im Geschäft und Restaurant steckt sich tendenziell nicht die Hochrisikogruppe über 80 an, die Menschen sterben in den Altersheimen. Hier hat der Lockdown also ohnehin eine sehr beschränkte Wirkung. Eine Evidenz, dass die Schließung des Einzelhandels oder der Gastronomie irgendetwas Substanzielles bewirken würde, gibt es nicht. 

Erinnern wir uns an den Start des Lockdowns: Die Argumentation war nie, dass man durch den Lockdown Tote verhindern kann, das wurde auch klipp und klar so gesagt. Es ging immer nur darum, die Fälle zu verschleppen, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Sie erinnern sich an die Kurve im Fernsehen, die einmal das Limit unseres Gesundheitssystems überschreitet und dann gestaucht wird (die Summe aber gleich bleibt) und dann unter der Belastungsgrenze liegt. Das war die einzige wirklich plausible Argumentation hinter dem Lockdown, an die sollten wir uns erinnern. Tägliche Schreckensmeldungen der Totenzahlen sagen uns da erst mal gar nichts, ohnehin sind insgesamt nicht mal 40% der Corona-Patienten auf den Intensivstationen gestorben, in den letzten Tagen sogar weniger als 25%.

Die Frage über das Für und Wider eines Lockdowns hängt also vor allem an der Frage: Droht uns eine Triage?

Seit Wochen ist die Zahl der insgesamt belegten Intensivbetten konstant, wir haben konstant viele freie Betten und eine erhebliche Notfallreserve. Wir haben durchschnittlich deutlich weniger belegte Betten als in den Vorjahren. Und jetzt ist die Zahl der Corona-bedingten Belegungen ebenfalls rückläufig. Dieser Punkt allein müsste das Ende des Lockdowns bedeuten oder zumindest eine Diskussion über eine Öffnungsstrategie beginnen.

Aber hier zeigt sich ein Grundproblem: Die Richtwerte. Während man gegenüber den Bürgern immer mit der Überlastung des Gesundheitssystems und der Triage argumentiert, machte man den Lockdown an der berühmten Zahl 50 fest. 50 auf 100.000 – allerdings nicht belegte Intensivbetten sondern „Infektionen“. 

Zu den „Infektionen“ wissen wir aber überhaupt wenig, selbst konservative Schätzungen gehen davon aus, dass wir eine Dunkelziffer von mindestens 100% haben. Auf Grundlage der von der WHO angegebenen Letalität lässt sich eine Dunkelziffer von über 800% vermuten. Eine Analyse von Edge Health modelliert eine Dunkelziffer von über 400% in Großbritannien. Wir ermitteln also maximal jede zweite Corona-Infektion und wieviele wir finden, hängt vor allem davon ab, wieviel wir testen – und das schwankt enorm. 

Während die Zahl der Infektionen also sehr ungenau ist, sind die Zahlen, die das DIVI-Intensivregister uns über die Lage in den Krankhenhäusern gibt, sehr präzise, aktuell und flächendeckend.
Statt unsere Politik an der deutlich valideren Zahl der belegten Intensivbetten zu orientieren, hat man sich die unsicherste und ungenaueste Zahl ausgesucht: Die Inzidenz der wöchentlichen Infektionen auf 100.000 Einwohner. Und da ist der Wert 50 wiederum völlig willkürlich festgelegt. 

Im Interview mit der Welt sagte Klaus Stöhr, der ehemalige Leiter des globalen Influenza-Überwachungsprogramms und der Pandemievorbereitung der WHO und Entdecker des SARS-CoV1-Virus, dass dieser Wert ohnehin nicht zu erreichen sei. „Selbst bei einem harten Lockdown sind Inzidenzen unter 100 nur schwer vorstellbar.“ Er führt das auf die saisonalen Verläufe solcher Atemwegserkrankungen zurück. Bei den Grippewellen hatte man teilweise 8.000 Infizierte am Tag, obwohl bereits ein Großteil der Bevölkerung immun ist. 

Und so steckt die Politik in ihrer eigenen Falle – die von ihr gesetzten Kriterien erlauben kein konsequentes Verhalten mehr. Denn man muss den Lockdown auch in der Praxis an dem orientieren, womit man ihn in der Theorie begründet: An der Lage des Gesundheitssystems.

Wenn wir nicht im Lockdown bleiben wollen, bis der Sommer oder der Impfstoff kommt (und dann im Herbst gleich nochmal loslegen wollen), muss die Politik ihre völlig willkürlichen Festlegungen auf Grenzwerte ändern. 

Der Stand bei der Impfung

Nach wie vor geht das Impfen in Deutschland nur schleppend voran. Die extreme Anforderung, den BionTech-Impfstoff auf -70 Grad zu kühlen, stellt Deutschland vor große Probleme. Es wurden jetzt schon mehrere Fälle bekannt, bei denen Impfstoff im Wert von zehntausenden Euro aus diesem Grund vernichtet werden musste. Wie hoch hier die Zahl der Fälle ist, bei denen Unterbrechungen der Kühlkette gar nicht bemerkt werden und dadurch nicht wirksame Impfdosen verabreicht werden, ist offen – auch möglich ist, dass Unterbrechungen der Kühlkette aus Furcht vor Konsequenzen von den regional Verantwortlichen bewusst unterschlagen werden. 

Auch die mangelnde Bereitschaft des Pflegepersonals, sich impfen zu lassen, stellt die Politik vor Herausforderungen – denn genau auf diese Gruppe hat man gesetzt, um die Hochrisikogruppen indirekt schützen zu können. Erste Daten, die Träger von Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern herausgeben, zeigen, dass sich teilweise nicht mal die Hälfte des Personals impfen lassen möchte. Doris Schneider, Geschäftsführerin von 27 Heimen im Bistum München der Caritas, schätzt laut FAZ, dass nur etwa ein Drittel der Beschäftigten sich unbedingt impfen lassen wolle und ein weiteres Drittel erstmal abwarte – der Rest will sich gar nicht impfen lassen. 

Der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses im Bundestag, Erwin Rüddel, sagte: „Da muss man sich die Frage stellen, ob in der Ausbildung nicht etwas falsch gelaufen ist“, und brachte indirekt eine Impfpflicht für das Pflegepersonal ins Gespräch. Umgekehrt kann man sich natürlich auch die Frage stellen, ob die medizinische Ausbildung des Diplom-Betriebswirts Erwin Rüddel ausreichend ist, um einen Gesundheitsausschuss im Deutschen Bundestag zu leiten. Die große Liebe zu den Pflegehelden, für die der ganze Lockdown ja angeblich gemacht wurde, ist also auch sehr schnell vorbei, wenn die nicht auf Regierungslinie spuren.  

Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Impfung weiterhin im Hintertreffen, Israel will bis März die gesamte Bevölkerung, soweit sie es möchte, geimpft haben. 

Ab kommender Woche soll der nun zugelassene zweite Impfstoff von Moderna eingesetzt werden. In Deutschland wird der erstmal keine große Rolle spielen, im ersten Quartal 2021 kommen erst zwei Millionen Dosen nach Deutschland. Bis Ende Januar wird die Zulassung des dritten Impfstoffs (von Astra Zeneca) erwartet, die deutlich relevanter wird. 400 Millionen Dosen des deutlich preiswerteren Impfstoffs wurden von der EU bestellt, das Kühlproblem fällt hier weg, der Astra Zeneca-Impfstoff kann bei Kühlschranktemperaturen gelagert werden. (Auch BionTech möchte seine Dosen ab Ende Januar mit größerer Temperaturtoleranz ausliefern). 

In Deutschland kann man mit einer durch den Impfstoff hergestellten Herdenimmunität aller frühestens im Herbst rechnen, sofern weitere Pannen vermieden werden. Zu diesem Zeitpunkt wird die Pandemie dann seit 1 3/4 Jahren laufen. Bei einem sehr schnellen Durchbruch bei der Impfstoff-Erforschung kann der uns auf diese Weise also nach über 20 Monaten aus dem Lockdown holen. Und nächstes Jahr? Bei der nächsten Grippewelle? Will man das da einfach wiederholen? 

Das Warten auf den Impfstoff ist als Strategie fatal: wir müssten dann in Zukunft immer wieder – bei jeder Grippeepidemie  – in den Lockdown gehen. Das RKI schätzt die Toten der Grippesaison 2017/2018 immerhin auf allein 25.000 – und auch das ist nichts Einmaliges, in der Saison 2016/2017 schätzt man 22.900 und in der Saison 2014/2015 21.300 Grippetote, im Vergleich zu maximal 29.000 tatsächlichen Corona-Toten 2020.

Es müssen rationale Kriterien her, an denen wir verhältnismäßige Maßnahmen orientieren können. Nur so kann eine langfristige Strategie entstehen, die die ineffektive und vor allen Dingen hochgradig zerstörerische Panik- und Impulspolitik beenden kann. 

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