Tichys Einblick
Gebrochenes Versprechen

Wahlprogramm der Union: keine Wende in der Asyl- und Migrationspolitik

In ihrem Wahlprogramm senden CDU und CSU den Wählern unter anderem die ungewollte Botschaft, dass sie mit den durch die bisher praktizierte Asyl- und Migrationspolitik erzeugten Problemen weiter leben müssen.

IMAGO / Winfried Rothermel

Diejenigen ehemaligen Unions-Wähler, die CDU und CSU vor allem aufgrund ihrer seit dem Jahr 2015 praktizierten Asyl- und Migrationspolitik den Rücken gekehrt haben, werden wenigstens in Teilen im jüngst veröffentlichten Wahlprogramm der beiden Schwesterparteien nachlesen, ob sie aus ihren Fehlern der letzten Jahre Konsequenzen gezogen haben und wie diese aussehen. Nicht zuletzt vom Ergebnis dieser Prüfung werden sie wohl abhängig machen, ob sie bei der kommenden Bundestagswahl wieder zur Union zurückkehren oder nicht. Das wissen auch die Wahlstrategen um Armin Laschet und Markus Söder, die auf diesen Teil der Unions- Wählerschaft nicht verzichten wollen, um zunächst in den Umfragen und dann bei der Wahl am 26. September wieder die 30-Prozent-Marke überschreiten zu können. In ihrem mit 140 Seiten recht umfangreichen, zahlreiche Politikfelder abhandelnden „Programm für Stabilität und Erneuerung“ haben sie deswegen dem Thema Asyl und Migration einen vergleichsweise breiten Stellenwert eingeräumt. 

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Vorwiegend abgehandelt wird dieses Thema im zweiten Kapitel des Grundsatzprogramms, das den Titel „Neue Weltpolitikfähigkeit – mit Leidenschaft für ein neues Europa“ trägt. Dort erfährt man zunächst im Unterkapitel „Unser Europa der Ordnung und Sicherheit“, dass Europa eine „Sicherheitsunion“ benötige, die auch Deutschland mehr Sicherheit biete. Gemeint ist hier nicht etwa die Sicherheit vor militärischen Angriffen anderer Länder, sondern der Schutz vor „Drogenschmugglern, Menschenhändlern, international agierenden Banden, Gefährdern und Terroristen“, die aufgrund der offenen Binnengrenzen und der Reisefreiheit im Schengen-Raum die „innere Sicherheit in der Europäischen Union“ bedrohten. Eine ebenso ungewöhnliche wie besorgniserregende Lagebeschreibung für einen Staatenbund, der sich den freien Austausch von Gütern, Kapital und Menschen aufs Panier geschrieben hat.

Da die offenen Grenzen in der EU gleichwohl „ein Gewinn für uns alle“ seien und deswegen gegen mögliche Sicherheits- und Schließungsmaßnahmen zwischen den verschiedenen EU-Ländern verteidigt werden müssten, sollen die Außengrenzen der EU besser geschützt werden. Hierfür soll zum Beispiel die europäische Grenzschutzagentur Frontex zu „einer echten Grenzpolizei und Küstenwache mit hoheitlichen Befugnissen“ und Europol zu „einer Art europäischem FBI“ ausgebaut werden. Was geschehen soll, wenn sich derlei Maßnahmen, die alles andere als neu sind, innerhalb der EU nicht durch- und umsetzen lassen, erfährt man aus dem Wahlprogramm der beiden Unionsparteien indes nicht – obwohl jedermann weiß, dass sie nach wie vor geringe bis gar keine Realisierungschancen haben. 

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Das wissen freilich auch die Strategen von CDU und CSU. Sie geben daher in Ihrem Wahlprogramm ein „Unionsversprechen“ ab, das da lautet: „Wir wollen, dass die Menschen in unserem Land auf ein Leben in Sicherheit und Freiheit vertrauen können: ob zu Hause, unterwegs auf Straßen oder Plätzen, in Bussen oder Bahnen, bei Tag oder Nacht, analog oder digital.“ Bei anhaltend offenen Binnengrenzen und einem weiterhin nicht funktionierenden Außenschutz sollen aufgrund der damit einhergehenden Bedrohungen für die Bürger, wie schon in den letzten Jahren, die inneren Sicherheitsorgane gestärkt und ausgebaut werden. Wer den Wählern ein solches Versprechen abgibt, geht nach sechzehn Jahren eigener Regierungsverantwortung offenkundig nicht davon aus, dass sich die Sicherheitslage in Deutschland in den nächsten Jahren verbessern wird, sondern sich weiter verschlechtert, sonst wären nicht noch mehr Polizei- und Sicherheitskräfte als schon heute erforderlich.

Moralisch überhöht und so legitimiert wird diese unerfreuliche Botschaft mit einem Bekenntnis „zum Grundrecht auf Asyl und den rechtlichen und humanitären Verpflichtungen Deutschlands und Europas“ sowie der Behauptung, die damit einhergehende Zuwanderung sei „ein Gewinn und eine Chance, für unser Land, wenn sie von gelungener Integration begleitet ist – in unseren Arbeitsmarkt ebenso wie in unsere Gesellschaft.“ Eine Zuwanderung in die Sozialsysteme lehnen die beiden Unionsparteien, wie sie in ihrem Programm behaupten, hingegen ab, obgleich sie wissen, dass die Migration über den Asylweg, anders als die normale Arbeitsmigration, für die Migranten, einmal in Deutschland angekommen, mit dem Rechtsanspruch auf Sozialleistungen startet. Daran wollen CDU und CSU allerdings in keinster Weise rühren. Wohl deshalb bleibt es bei der bloß verbalen Ablehnung der Zuwanderung in die Sozialsysteme, ohne sie praktisch abstellen zu wollen.

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Wie schon in den letzten Jahren beschwören die beiden Unionsparteien wortreich eine „wirksame Ordnung und Steuerung von Migration“ zur Verhinderung illegaler Migration und besseren Durchsetzung von Ausreisepflichten im Falle abgelehnter Asylbewerber. So wollen sie „Weltoffenheit und Konsequenz, Humanität und Ordnung“ miteinander vereinen. Als probates Mittel gilt ihnen dabei die Festlegung zusätzlicher sicherer Herkunftsstaaten, deren Bürger laut Artikel 16a des Grundgesetztes und der europäischen Asylverfahrensrichtlinie keine Asylansprüche in Deutschland geltend machen können. Damit sollen Anreize, über den Asylweg nach Deutschland zu kommen, reduziert und zugleich die Rückführung trotzdem eingewanderter Asylbewerber in deren Heimatländer erleichtert werden. Da in Deutschland dieser Ansatz in aller Regeln im Bundesrat am dortigen Einfluss der identitätslinken Refugee-Welcome-Parteien scheitert, streben CDU und CSU laut ihrem Wahlprogramm nun die Schaffung „kleiner“ sicherer Herkunftsstaaten an, die nicht mehr auf die Mitwirkung der Bundesländer angewiesen wäre. Wie dieser neue Ansatz genau aussehen und rechtlich funktionieren soll, darauf erhält man aus dem Wahlprogramm leider ebenso wenig eine Antwort wie auf die Frage, wie die beiden Unionsparteien weiterhin mit Asylbewerbern verfahren wollen, die nach wie vor täglich aus sicheren Drittstaaten nach Deutschland einreisen. Gemäß Artikel 16a des Grundgesetzes haben sie in Deutschland keinen Asylanspruch. Trotzdem erhalten Asylbewerber aus Drittstaaten in keineswegs geringer Anzahl in Deutschland seit Jahren Asyl.

Offenkundig planen die beiden Unionsparteien gemäß ihres Wahlprogramms keine Wieder-Anwendung von Artikel 16a des Grundgesetzes, der im Jahr 1993 gegen den im Zuge des Jugoslawienkrieges entstandenen Missbrauch des Asylrechts für Zuwanderung von ihnen selbst entwickelt und höchst wirksam durch- wie auch umgesetzt worden ist. Stattdessen sollen Bleiberechtsmöglichkeiten abgelehnter Asylbewerber stärker eingeschränkt, Straftäter konsequenter abgeschoben und der Druck auf Identitätstäuscher und Mitwirkungsverweigerer erhöht werden. Auch dabei bleibt es durchweg bei bloßen Absichtserklärungen ohne Hinweise auf konkrete Maßnahmen, die den Befürwortern einer weiteren Liberalisierung der Asyl- und Migrationspolitik bei den Grünen, der SPD und der Linkspartei Angriffsflächen im Wahlkampf bieten, sowie nach dem 26. September anstehende Koalitionsverhandlungen mit den Grünen und/oder der SPD erschweren könnten.

Am Ende steht im Wahlprogramm der Union dann erneut der Verweis auf eine grundlegende Reformierung der „europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik“, deren vorrangiges Ziel es sei, „Menschen in ihrer Heimat oder in deren Nähe Lebensperspektiven zu eröffnen“.

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Hierfür müsse das gemeinsame europäische Asylsystem „grundlegend reformiert werden.“ Dadurch solle es zu „einer fairen und solidarischen Verteilung der Kosten und Lasten“ innerhalb der EU kommen. Wie schon seit Jahren ist die Rede von „europäisch verwalteten Entscheidungszentren an den EU-Außengrenzen“, von „gemeinsamen Standards im europäischen Asylrecht“ sowie einer „europaweiten Harmonisierung der Aufnahmebedingungen“, ergänzt um Bemühungen um eine verbesserte Integration der Asylbewerber auf nationaler Ebene. Alter Wein in nicht einmal neuen Schläuchen, der mittlerweile schon so sauer geworden ist, dass ihn nicht nur die osteuropäischen, sondern vermehrt auch die nordeuropäischen EU-Mitgliedsländer immer weniger trinken wollen. Wie weit er den deutschen Wählern noch schmeckt, wird man spätestens am 26. September genauer wissen.

Schlussendlich landen CDU und CSU also erneut vorrangig bei der EU sowie bei hehren Absichtserklärungen, wenn es darum geht, die sich auch in Deutschland zusehends verschärfenden Probleme der Asylmigration zu lösen. Damit senden sie den Wählern eher ungewollt als gewollt das Signal, Deutschland allein könne diese Probleme nicht bewältigen und müsse, sollten sie sich, wie zu erwarten, auf EU-Ebene in absehbarer Zeit nicht lösen lassen, mit ihnen eben zu leben lernen.

Deswegen der Focus auf die Stärkung und den Ausbau der Polizei- und Sicherheitsbehörden sowie der angekündigte erhöhte Druck auf Ausreisepflichtige, Identitätstäuscher, Mitwirkungsverweigerer sowie auf Straffällige, deren Anzahl vor dem Hintergrund einer anhaltenden, sich in zu- und abnehmenden Wellen bewegenden Asylzuwanderung wohl insgesamt eher zu- als abnehmen wird.

Von einer grundlegenden Wende in der Asyl- und Migrationspolitik, wie sie vor nicht allzu langer Zeit noch insbesondere von der CSU gefordert worden ist, kann daher gemäß des neuen Wahlprogramms der Union selbst keine Rede sein.

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