Tichys Einblick
Verfall des Westens

Vom Niedergang der Demokratie

Der Liberalismus trug den Keim des Sozialismus bereits von Anfang an in sich selbst. Von den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war das bestimmende Element eben nicht die Freiheit, sondern die Gleichheit.

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Die Demokratie gilt seit Churchill als die schlechteste Regierungsform – mit Ausnahme aller anderen. Mit Francis Fukuyamas „Ende der Geschichte“ bestätigte der Westen sich selbst seine geistige und materielle Fortschrittsideologie auch in Regierungshinsicht; spätestens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion glaubten die freiheitlich-demokratischen Grundordnungen der Ersten Welt, dass der letzte Sinn dieses Planeten darin bestehe, dass alle Staaten die Demokratie westlicher Prägung über kurz oder lang annähmen – inklusive des marktwirtschaftlichen Wirtschaftssystems, das ideengeschichtlich und historisch stark mit dieser Herrschaftsform verbunden ist.

Es ist kein Zufall, dass der Liberalismus sowohl eine politische, als auch eine wirtschaftliche Ideologie meint. Das ist deswegen bezeichnend, weil seit dieser Ära ökonomische und politische Theorie zusammengehören; ein Gedanke übrigens, der im Keim den Sozialismus als Antithese bereits vorbereitet. In der Frühen Neuzeit existierten bereits freihändlerische und merkantilistische, kooperationistische und anarchische Wirtschaftsideen, aber sie waren keiner Regierungsform zugeordnet. Die Republik Venedig wie auch das Königreich Portugal kennen Phasen des Freihandels und Phasen des Merkantilismus.

Dass ein Wirtschaftsmodell nicht zwangsweise mit einem Staatsaufbau verbunden ist, sondern Nationen ihr Wirtschaftsmodell auswählen können, wie es am besten für die Wohlfahrt der eigenen Nation förderlich ist, musste Europa bitter im Falle Chinas einsehen. China ist derzeit die größte geistestheoretische Herausforderung, denn die Botschaft lautet: nicht das überlegene demokratische, freiheitliche und marktwirtschaftliche System des Westens hat den Kommunismus der Sowjetunion besiegt. Sondern der Ostblock ist in sich zusammengefallen, da er kein überlebensfähiges Wirtschaftssystem hatte.

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Der Westen ist stattdessen nur „geblieben“. Dass China seine autoritäre Staatsverfassung behält, sein Wirtschaftssystem dagegen umgekrempelt hat und sich trotz händlerischen Wandels kein Mentalitätswandel im Reich der Mitte ergibt, ist eine Herausforderung für den Liberalismus, der davon ausgeht, dass alle Menschen letztlich zu seinen Idealen streben, sobald sie diese erkannt hätten. Auf der Makroebene ist der Verfall des globalen Liberalismus schon lange kein Geheimnis mehr. Die Staaten des Orients, die in der Nachkriegszeit westlichen Idealen folgten – von Ägypten über Iran bis Afghanistan – und neben Frauenausbildung, Kopftuchverbot und westlichem Stil den klassischen Nationalismus als Zusammenhalt ihrer Gesellschaften postulierten, haben sich nahezu unisono ihrer islamischen Wurzeln besonnen. Dass selbst die Türkei, die mit Atatürk sogar das lateinische Alphabet übernahm, um demonstrativ die Zugehörigkeit zur modernen Zivilisation zu verkünden, sich heute mehr denn je als Erbin des Osmanischen Reiches ansieht, mag hier Symbol genug sein. Deutlich wird der Wandel auch am Zusammengehörigkeitsgefühl der arabischen Welt, das sich nicht mehr aus pan-arabischen, nationalen Ideen speist, sondern wieder aus dem Islam.

Der Panarabismus ist genauso tot wie der gesamte Hang zu westlichen Idealen, der größtenteils nur noch von einer kleinen Elite oder mehrheitlich in bürgerlich-mittelständischen Verhältnissen des Nahen Ostens gepflegt wird, die allerdings über Internet und Presse in engem Kontakt zur westlichen Welt steht. Ironischerweise spielt einzig die iranische Gesellschaft hier eine Sonderrolle, was auszuführen jedoch zu weit ginge. Was für den Nahen Osten gilt, gilt ebenso für Afrika, wo der chinesische Kolonialeinfluss nicht ohne Konsequenzen bleibt; sowie für Südostasien, wo man seinen eigenen Weg sucht. Dass Indien mit seinem Kastensystem nach wie vor als „größte Demokratie der Welt“ tituliert wird, ist zwar eine lobenswerte Marketingstrategie, hat aber mit den De-facto-Verhältnissen im Land nichts zu tun. Von Russland, das seine ganz eigenen Erfahrungen unter der „Demokratie“ Jelzins gemacht hat, wird man ebenso wenig erwarten können, in den nächsten drei Generationen ein ähnliches Experiment wagen zu wollen.

Auf der Mikroebene, das heißt, auf der innenpolitischen Ebene der westlichen Nationalstaaten, steckt diese Erkenntnis noch in den Kinderschuhen. Noch mehr: die offensichtlichen Dekadenzerscheinungen des demokratischen Systems werden nicht nur übersehen, sie werden mithin geradezu als Krönung oder Auszeichnung verklärt. Seit der Antike bis hin zur Französischen Revolution und namentlich von Geistesgrößen wie Aristoteles oder Tocqueville hat die Demokratie in ihrer theoretischen wie praktischen Version vor allem einen Vorwurf einstecken müssen: den der Tyrannei der Mehrheit. Die Gegenwart hat es verstanden, den Begriff „Minderheit“ auf eine rein ethnische oder religiöse Komponente herunterzubrechen. Im heutigen politischen Diskurs ist daher klar, dass Lega oder AfD „gegen Minderheiten“ sind. Dass der Begriff der Minderheit aber zuerst eine politische Minderheit meint, heißt: eine Gruppe, die divergierende Ansichten vom Rest der Mehrheit hat, wird so gut wie gar nicht mehr kommuniziert – wohl, weil dann das Problem entstünde, dass beispielsweise AfD-Wähler selbst eine Minderheit in ihrem Land sind, die dieselben Rechte und Toleranzgebote einfordern dürfen, wie alle anderen auch. Dass aber „Hass keine Meinung“ sei, disqualifiziert den unliebsamen politischen Kontrahenten als jemanden, der gar nicht dazu befähigt ist, am politischen Diskurs teilzunehmen.

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Das Exempel zeigt, dass von den Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit das bestimmende Element eben nicht die Freiheit, sondern die Gleichheit ist. Entgegen anderslautender Propaganda kannte die Welt vor 1789 den Wert der Freiheit sehr genau. Dass das Christentum die Brüderlichkeit Jahrhunderte davor predigte, ist ebenfalls kein Geheimnis. Was die Demokratie als Neuheit bringt, ist eben jene Gleichheit des Menschen, die in dieser Form erst Rousseau ins Spiel gebracht hat: aus Gleichheit vor dem Recht pervertierte die Vorstellung sozialer Gleichheit. Der Liberalismus trug also bereits den Keim des Sozialismus von Anfang an in sich selbst. Aber konnten denn die Liberalen ahnen, dass ihre Idee degenerieren könnte? Konnte Marx wissen, was aus seiner Idee wird?

Die Antwort lautet: ja, konnten sie. Bereits die Kritiker der Französischen Revolution erkannten das Prinzip der Gleichheit als die Wurzel des Übels. Sie standen in der antiken Tradition, welche die Degeneration der Demokratie zur Ochlokratie als unvermeidlich sah. Vittorio Barzoni, der den Untergang seiner Republik Venedig „live“ miterlebte, kommentierte hinsichtlich der Demokratie, dass diese in der Quintessenz nicht nur dafür sorgte, dass sich der Pöbel gegen den Adel, der Arme gegen den Reichen erhob, sondern zuletzt auch der Dumme gegen den Schlauen – mit dem letztgültigen Argument absoluter Gleichheit. Die Demokratie als Form der Mittelmäßigkeit, die ihre Legitimität aus der Gleichheit aller Menschen zog, würde zuletzt darin enden, dass der Idiot das Genie erschlage, weil dieser es gewagt hatte, anders zu sein. Der Vergleich erscheint überspitzt und polemisch, aber er ist in der letzten Sache konsequent. Die Demokratie schützt nicht die Meinungsfreiheit, sie erstickt diese. Nicht über Gewalt, nicht über staatliche Behörden – sondern über feinere Mechanismen. Tocqueville hat diese in seinen Betrachtungen „Über die Demokratie in Amerika“ so zusammengefasst: „Die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voranging, zu vergleichen sein.“

Wenn daher heute ohne Ablass gerufen wird „Wir sind mehr!“ oder ein englischer Schlagersänger fordert, die gesellschaftliche Meinung zu diktieren, dann sind das keine Exzesse, sondern Anzeichen dafür, dass die Demokratie in ihre letzte Phase geht. Die Demokratie ist im Gegensatz zur Monarchie oder der aristokratischen Republik eine verhältnismäßig kurzlebige Einrichtung (die Römische Republik, Athen und andere sind dafür Beispiele). Was sie hält: Gesetze und Einrichtungen aus den Vorgängerstaaten, sowie Traditionen und Bräuche, die sich unter diesen entwickelt haben. Wenn diese aufgebraucht sind, geht das Gesellschaftswesen rasch zu Ende – wenn nicht die ordnende Hand eines Volkstribuns, Cäsaren oder Signore eingreift. Wenn das Recht zugunsten einer tagesaktuellen Ideologie gebrochen wird – man mag es heute fälschlich „Moral“ nennen – dann ist dies eben kein Anzeichen von Menschlichkeit, sondern die Wegbereitung von Exzess, Rebellion und Gewalt.

Der Beitrag von Marco Gallina erschien zuerst bei marcogallina.de

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