Tichys Einblick
Aussichten zur Bundestagswahl

Die Union wird Opfer ihrer Unterschiedslosigkeit zu SPD und Grünen

Die jüngsten Umfragen zur Bundestagswahl legen nahe, dass die Union der größte Wahlverlierer sein dürfte. Nach der Wahl wird sie wahrscheinlich vor der Frage stehen, zusammen mit der AfD und der Linken in die Opposition zu gehen oder sich der SPD als Juniorpartner anzudienen.

IMAGO/Mike Schmidt

Gemessen an den Umfragen der vergangenen Monate haben sich die Wählerpräferenzen inzwischen so sehr verschoben, dass am 26. September nicht mehr die Union, sondern die SPD zur stärksten Partei werden könnte. Fände die Wahl schon heute oder morgen statt, würden laut der jüngsten INSA-Umfrage 25 Prozent Wähler der SPD und nur noch zwanzig Prozent der Union ihre Stimme geben, nachdem sie bei der Wahl 2017 noch 32,9 Prozent erreichte und letztes Jahr in Umfragen sogar bei 38 Prozent lag. Für die Grünen, die in Umfragen unlängst noch 25 Prozent erreichten, würden gleichzeitig nur noch 16,5 Prozent der Wähler stimmen. Auf dem Niveau lag vor kurzem in den Umfragen noch die SPD.

Mit Blick auf die Wahl in knapp vier Wochen wurden die bisherigen Ausganspositionen der drei um das Kanzleramt buhlenden Parteien von den Befragten so gleichsam auf den Kopf gestellt. Möglich wurde dies offenkundig dadurch, dass zahlreiche Befragte, die bislang für die Grünen stimmen wollten, nun doch lieber für die SPD votieren wollen. Darüber hinaus scheinen aber auch Befragte, die bislang der Union mit Angela Merkel zuneigten, inzwischen (wieder) die SPD mit Olaf Scholz vorzuziehen. Sein Kalkül, sozialdemokratisch orientierte Merkel-Wähler, die bei den zurückliegenden Wahlen von der SPD zur CDU wanderten, (wieder) zu gewinnen, scheint teilweise aufzugehen. Der SPD ist es so gelungen, die Union von der bis vor kurzem noch als uneinnehmbar geltenden Pole-Position im Wahlkampf zu verdrängen.

5 vor 12
Wahlkampf, aber ehrlich!
Ein so gleichermaßen plötzlicher wie drastischer Umfrage-Umschwung ist zum einen Ausdruck der inhaltlichen Nähe und weitgehenden Unterschiedslosigkeit von Union, SPD und Grünen. Sie ermöglicht den immer zahlreicher gewordenen Wechsel-Wählern, je nach politischer Stimmungslage nicht nur bei Wahlen, sondern auch in Umfragen mal für die eine und dann wieder für die andere der drei Parteien zu votieren. Keiner ihrer zahlreichen Wechsel-Wähler der stark umworbenen „politischen Mitte“ begeht heute einen Verrat an seinen Überzeugungen, wenn er genau dies tut. Im Gegenzug spielen die weniger werdenden, nicht so launenhaften Stammwähler bei Wahlen und Umfragen eine zusehends geringere Rolle und sorgen derzeit allenfalls noch bei der Linken und der AfD, sowie mit Einschränkung bei der FDP, für stabile, damit aber notgedrungen auch niedrigere Umfrage- und Wahlergebnisse. Wer heute mehrheitsfähig werden will, muss einen Teil der Wechselwähler zu sich herüberziehen können. Darauf beruhen unter anderem die jüngsten Wahl- und Umfrageerfolge der Grünen. Wie instabil solche Erfolge indes für alle Parteien sind, zeigen die zusehends volatileren Umfrage- und Wahlergebnisse. Nicht nur das Kapital, sondern auch die Wechselwähler gleichen inzwischen einem scheuen Reh, das mal da-, mal dorthin springt.

Vor diesem Hintergrund stimmt die Aussage, dass sich die Umfragen bis zur Wahl erneut ändern können und die tatsächliche Stimmenverteilung zwischen Union, SPD und Grünen am 26. September anders ausfällt als die derzeitigen Umfrageergebnisse. Je näher ein Wahltermin allerdings rückt, desto näher liegen normalerweise die Umfragen am tatsächlichen Ergebnis und desto geringer wird die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Präferenzen der Wähler noch einmal so unvermittelt ändern wie in den letzten Wochen. Sollten sie in etwa so bleiben wie in der aktuellen INSA-Umfrage, dann könnte die Union zwar mit den Grünen und der FDP rechnerisch noch eine mehrheitsfähige Koalition bilden; als, gemessen an der letzten Bundestagswahl, größter und vielleicht sogar einziger Wahlverlierer hätte sie ihren Anspruch auf das Kanzleramt aber definitiv an die SPD verloren. Olaf Scholz und nicht Armin Laschet könnte dann den Grünen und der FDP Sondierungsgespräche anbieten, die von beiden gewiss nicht abgelehnt werden (können). Auf der Ersatzbank säße die Partei die Linke für den Fall, dass es rechnerisch auch für eine rot-grün-rote Koalition reichen sollte und die anschließenden Sondierungsgespräche für eine von der SPD und den Grünen dominierte Ampel-Koalition an der FDP scheitern würden.

Stephans Spitzen: 
Worüber die Kanzlerkandidaten schweigen
Die FDP müsste sich im Falle des Nichtzustandekommens einer Ampel-Koalition den Vorwurf gefallen lassen, eine rot-grün-rote Koalition mit in den Sattel gehoben zu haben. Da sie sich diesem Vorwurf gewiss nicht aussetzen will, wird ihr nichts anderes übrigbleiben als sich den politischen Vorstellungen der SPD und der Grünen, insbesondere in Wirtschafts-, Finanz- und Steuerfragen, anzupassen. Vor allem deswegen weigert sich Olaf Scholz bislang standhaft, einer Koalition mit der Linken vor der Wahl eine Absage zu erteilen. Das würde seine Verhandlungsposition gegenüber seinem Wunschpartner FDP unnötig schwächen, birgt aber das Risiko, die umworbenen Merkel-Wähler zu verprellen. Deutschland bekäme eine Art Neuauflage einer sozialliberalen Koalition mit grünem Anstrich, die auf deutlich mehr Staat und weniger Markt setzt. Ob die FDP dann vier Jahre später, wie schon 2013, erneut aus dem Bundestag fliegen könnte, ist nur eine der Fragen, die sich ihre Parteiführung angesichts der jüngsten Umfragen wahrscheinlich schon jetzt stellt.

Die Union hingegen könnte nur für den Fall noch Koalitionsgespräche mit den Grünen und der FDP aufnehmen, wenn nicht nur die rot-grün-gelben, sondern auch die rot-grün-roten Sondierungen scheitern sollten. Da damit kaum zu rechnen ist, muss sich die Union wohl, wie schon 1998, mit der Rolle des Oppositionsführers zufriedengeben. Im Falle einer Ampel-Koalition wäre sie dann darauf angewiesen, fallweise mit der AfD und/oder der Linken, unter Umständen noch mit einigen direkt gewählten Freien Wählern (FW), Oppositionspolitik zu betreiben. Dies würde im besten Fall ihren Erneuerungsprozess, im schlechtesten aber ihren weiteren Verfall beschleunigen. Vielleicht ziehen es Armin Laschet und Markus Söder angesichts solcher Aussichten dann doch vor, Olaf Scholz die Union als Juniorpartner anzudienen, nachdem die CDU diese Rolle in Baden-Württemberg für Wilfried Kretschmann ja schon übernommen hat, um nicht zusammen mit der AfD Oppositionspolitik betreiben zu müssen. Wer von beiden dann Vizekanzler wird, müsste dann in dem gewohnt freundschaftlichen Wettstreit zwischen Laschet- und Söder-Anhängern bei CDU und CSU freilich erst noch geklärt werden.

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