Tichys Einblick
Deutsche Stinger- und Strela-Raketen

Auch veraltete Flugabwehrwaffen können der ukrainischen Armee helfen

Die Idee, den ukrainischen Streitkräften auch alte Flugabwehrwaffen aus NVA-Beständen zu liefern, weil neuere nicht ausreichend vorhanden sind, ist nicht von vornherein abwegig. Für bedrohte Soldaten kann auch eine veraltete Waffe eine Überlebenshilfe sein.

Stinger-Flugabwehr-Rakete. Hier bei einer Übung der amerikanische Streitkräfte im März 2021

IMAGO / ZUMA Wire

Nachdem die deutsche Selbstbeschränkung gefallen ist, in Kriegs- oder Spannungsgebiete Waffen zu liefern, ergeben sich überraschende Eingriffsmöglichkeiten. Noch von der Nationalen Volksarmee der DDR stammende Strela-Lenkflugkörper sollen der ukrainischen Armee in ihrem Abwehrkampf gegen die russischen Streitkräfte zur Verfügung gestellt werden. Der Bundessicherheitsrat hat darüber zu entscheiden.

Die ukrainische Armee ist den russischen Angreifern in vielerlei Hinsicht unterlegen. Weit mehr und besser ausgerüstete Truppen, moderne Waffensysteme in großer Stückzahl mit dem Potenzial einer militärischen Weltmacht lassen die ukrainischen Verteidigungsanstrengungen als weitgehend aussichtslos erscheinen. Und dennoch kommt Putins Armee offenbar nicht so voran, wie es sich dessen Strategen vorgestellt haben. Zwei Faktoren dürften dabei neben der hohen Motivation, die eigene Heimat gegen Eindringlinge zu verteidigen, eine entscheidende Rolle spielen: Zum einen kennen die Verteidiger Gelände und Land besser, um den Angreifern das Leben schwer zu machen. Zum anderen werden der Ukraine seit einigen Jahren moderne westliche Systeme zur Verfügung gestellt. Selbst Deutschland liefert inzwischen 1.000 moderne Panzerabwehrwaffen und 500 Flugabwehrraketen des Typs „Stinger“, in Deutschland „Fliegerfaust 2“ genannt.

Moderne Waffen oder keine?

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Diese aus Beständen der Bundeswehr kommende Waffe wird gegen Flugziele im Tiefstflug und in mittleren Flughöhen in einer Entfernung von bis zu sechs Kilometern eingesetzt. Deren Selbstzielsuchsystem kann Flugzeuge und Hubschrauber bis in 3.000 Meter Höhe mit einer Trefferwahrscheinlichkeit von bis zu 80 Prozent bekämpfen. Das 16 Kilo schwere Gerät wird von einer Person getragen und von der Schulter aus „verschossen“. Der Lenkflugkörper des US-Waffenherstellers Raytheon nutzt Infrarot- und Ultraviolettsignale und verfolgt Ziele nach dem Anvisieren automatisch.

Was aber ist von dem Vorhaben zu halten, den Ukrainern zusätzlich noch 2.700 Strela-Flugabwehrwaffen russisch-sowjetischer Produktion aus den 1980er Jahren mit veralteter Technik zur Verfügung zu stellen? Steckt lediglich dahinter, sich Entsorgungskosten zu sparen und gleichzeitig den Eindruck von Unterstützung zu erwecken? Immerhin benutzt die Bundeswehr das aus der NVA übernommene System schon seit 2014 nicht mehr bei scharfem Übungsschießen. Damals wurden Strela-Raketen „aus Sicherheitsgründen“ gesperrt, wie der Spiegel unter Berufung auf einen vertraulichen Vermerk berichtet. Grund dafür waren Mikrorisse im Treibsatz der Munition, die zu Korrosion/Oxidation führten. Siehe hier. Hinzu kommt die begrenzte Lebensdauer derartiger Systeme von bis zu 30 Jahren auch bei sachgerechter Lagerung für die Chemikalien von Antrieb und Sprengkopf sowie die Elektronik. Allerdings werden die Raketen in dieser Zeit nicht abgenutzt, sie liegen unter kontrollierten Bedingungen geschützt in Transportkisten.

Risiken für die eigenen Soldaten ausschließen

Ganz so einfach ist die Frage nach deren weiterer Einsetzbarkeit aber dann doch nicht. In der Bundeswehr wurden die Strela-Raketen bisher für Gewöhnungsschießen verwendet, erklärte ein Militärexperte in der Süddeutschen Zeitung (Kein Zögern und Zaudern mehr – Seite 2 vom 4. März 2022). Bevor Soldaten in die Ausbildung am Stinger-System gehen, sollen erste Erfahrungen mit Lenkwaffen gemacht werden. Das scheint durchaus vernünftig, um Ausbildungskosten bei Verwendung der teuren Fliegerfaust zu reduzieren. Wer die Bundeswehr nur halbwegs kennt, weiß damit aber auch, dass zumindest mit dem Übungseinsatz der Strela keine Sicherheitsbedenken verbunden sein können. Fehler kommen zwar immer vor, aber: Nichts wird in der Bundeswehr vor dem Einsatz gründlicher geprüft als Waffen und Munitionsteile, um vermeidbare Risiken für eigene Soldaten auszuschließen. 

Licht ins Dunkel
Sanktionen, die wen nochmal treffen?
Frühere NVA-Soldaten äußern sich je nach Version noch heute angetan über die Eigenschaften der Strela (russisch „Pfeil“). Das A und O des Einsatzes sei der richtige Erfassungswinkel des Zielsuchkopfes gewesen. Die Bedienung denkbar einfach: die Rakete auf das Handteil aufsetzen, Batterie aktivieren, Ziel anvisieren und abfeuern – fertig. Insofern ist deren Verwendung durch ukrainische Soldaten keinesfalls abwegig. Das Gerät dürfte dort bekannt sein, es entsteht praktisch kein Übungsaufwand. Mit einer Einsatzreichweite von bis zu 4,2 Kilometern und 2,3 Kilometern Flughöhe ist sie von aktuellen Stinger-Versionen auch nicht gar so weit entfernt. Der in die Jahre gekommene Zielsuchkopf kann allerdings durch Täuschungs- und Abwehrmaßnahmen leichter gestört werden. Wenn ein Beschuss nicht ausgeschlossen werden kann, wird der Gegner aber unabhängig davon auf größere Höhen ausweichen, was dessen Erfolgsaussichten im Einsatz zu reduzieren hilft. 
Keine Alternative zu einer Verhandlungslösung

Selbstverständlich kann die Leistungsfähigkeit der Strela-Lenkflugkörper nicht mit denen der Stinger konkurrieren. Aber einen Bedrohungseffekt zumindest für ungepanzerte Hubschrauber und Transportflugzeuge in niedrigen Höhen ergibt die Waffe allemal. Für gegnerische Kräfte ist sie eine Gefahr und erschwert damit deren Bewegungen auf dem Gefechtsfeld. 

Ist es nun besser, den Ukrainern lieber nichts zu liefern als eine veraltete Flugabwehrrakete, wenn moderne Systeme nicht in genügender Stückzahl zur Verfügung stehen? Die Antwort auf diese Frage kann wie so oft im Leben unterschiedlich ausfallen. Für den Soldaten, der einer Bedrohung aus der Luft ausgesetzt ist, kann auch eine veraltete Waffe eine Überlebenshilfe darstellen. Andererseits wird Putins Armee auf diese Art und Weise nicht zu stoppen sein. Nachdem Nato-Generalsekretär Stoltenberg wiederholt erklärt hat, dass die Allianz nicht Teil dieses Konfliktes sei, werden am Ende nur schlechte Ergebnisse übrig bleiben: eine Verhandlungslösung zwischen Russland und der Ukraine mit bitteren Zugeständnissen. Oder ein Zermürbungskrieg mit Abertausenden Opfern und einer weitgehenden Zerstörung des Landes. Dieser Albtraum mitten in Europa darf nicht Realität werden.

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