Tichys Einblick
Gesamtbetriebsrat SPD

SPD: Rückabwicklung eines Kandidaten

So manche sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre beten vor dem Schlafengehen heimlich, dass die Union so viele Stimmen an die AfD verliert, dass es für eine Kleine Koalition rechnerisch nicht reicht.

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„Jeder dritte SPD-Anhänger zweifelt an Schulz‘ Kompetenz“. So überschreibt die FAZ vom 1. September die Ergebnisse einer aktuellen Forsa-Umfrage. Aus ihr geht hervor, dass nur 19 % aller Wahlberechtigten und lediglich 14% der noch Unentschlossenen Schulz zutrauen, mit den Problemen des Landes fertig zu werden. Gleichwohl behauptet nicht nur Schulz, sondern auch Gabriel, das Rennen um die Kanzlerschaft am 24. September sei noch völlig offen. Die Beteuerungen der Wahlkämpfer der SPD, ihre Partei könne bei der Bundestagswahl stärkste Partei werden, ist angesichts aller demoskopischen Umfragen inzwischen nicht nur peinlich; sie vermitteln den Wählern darüber hinaus den Eindruck, die SPD habe jeglichen Bezug zur Realität verloren. Das führt vermutlich selbst bei solchen Wählern, die am 24. September möglicherweise ihr Kreuz bei der SPD gemacht hätten, dazu, dies lieber nicht zu tun oder auch gar nicht zur Wahl zu gehen. Wer will schon einem Traumtänzer seine Stimme geben, wenn dessen politisches Programm sich ohnehin nicht allzu sehr von dem seiner Hauptkonkurrentin unterscheidet ?

Martin Schulz sitzt damit in einer Falle, aus der er bis zur Wahl nicht mehr herauskommt. Anerkennt er die Realitäten, wirkt dies wie das Handtuchwerfen des Verlierers in einem Boxkampf kurz vor dem Knock Out (KO) und der Wahlkampf könnte vorzeitig abgebrochen werden. Behauptet er weiterhin, den Kampf gewinnen zu können, obwohl er nach Punkten schon weit zurück liegt, interessiert die Wähler allenfalls die Frage, wie groß die Punktedifferenz nach der letzten Runde sein wird oder ob er schon vorher komplett zu Boden geht. Theoretisch denkbar wäre noch, dass Schulz die legendäre Taktik von Muhammad Ali (alias Cassius Clay) nutzt, die dieser in dem im Oktober 1974 in Zaire ausgetragenen Boxkampf mit George Foreman angewendet hat, der als „Rumble in the Jungle“ in die Annalen der Boxgeschichte einging. Der Herausforderer Ali ließ sich in den ersten sieben Runden von einem sich völlig verausgabenden amtierenden Weltmeister Foreman derart vermöbeln, dass diesem allmählich die Kräfte ausgingen und Ali ihn in der achten Runde treffsicher KO schlagen konnte.

Im derzeitigen Wahlkampf sind die Rollenverteilungen zwischen dem Herausforderer und der Amtsinhaberin allerdings genau umgekehrt angeordnet. Der Kanzlerkandidat strampelt sich erkennbar und sicherlich auch äußerst kräftezehrend ab, gegen die Amtsinhaberin zu punkten, während diese ihn locker und weitgehend anstrengungslos auspendelt. Im Unterschied zu Foreman setzt Schulz noch nicht einmal irgendwelche Treffer, die Merkel auch nur ansatzweise zu schaffen machen könnten. Deshalb ist auch nicht zu erwarten, dass am Sonntag-Abend bei dem Rededuell zwischen Merkel und Schulz für Schulz gewissermaßen Runde 8 von Muhammad Ali beginnt. Interessant wird eher sein, ob Schulz danach noch genug Puste hat, um bis zum Ende durchzuhalten. Einzelne Parteigenossen winken schon vorsorglich mit dem Handtuch.

Panik auf der Titanic
SPD – Der Untergang, Teil 4
Wie kommt es, dass sämtliche SPD-Kanzlerkandidaten sich seit 2005 nun schon zum wiederholten Male in einer so chancenlosen Lage befinden? 2005 wäre es Schröder nach einer fulminanten Aufholjagd am Ende fast noch gelungen, trotz seiner Agenda 2010 gemeinsam mit Fischer die Wahl erneut zu gewinnen. Die SPD lag mit 34,2 % nur knapp hinter dem Ergebnis von CDU/CSU von 35,2 %. Danach ging es nur noch steil bergab. Dies liegt unter anderem daran, dass die SPD einen Teil ihrer Anhänger und Wähler an die damalige PDS und heutige Partei Die Linke verloren hat. Diese nimmt bis heute die Agenda 2010 zum Anlass, der SPD einen Verrat an ihren ureigensten sozialdemokratischen Zielen und Werten vorzuwerfen und erreicht damit einen Teil des sozialdemokratischen Wählerpotentials, insbesondere im unteren Drittel der Gesellschaft. Diese Wähler ließen sich vermutlich nur dadurch wieder zurückerobern, wenn die SPD die Agenda 2010 komplett rückabwickeln könnte, was die Partei Die Linke zwar ständig fordert, in Wahrheit aber vermutlich nicht wirklich will, da sie dann ja einen Teil ihrer Wähler wieder an die SPD verlieren könnte. Lafontaine, Wagenknecht und Genossen leben nachgerade von der SPD-Verrats-Legende, die sie über die Jahre mühsam aufgebaut und ihren Anhängern und Wählern eingetrichtert haben.

Nachdem in den neunziger Jahren ein früherer Aderlass schon in Richtung Grüne ausblutete, bei dem die SPD zwar keine Wähler aus der Arbeiterschaft, dafür jedoch aus dem linksliberalen Bürgertum, den Sozialberufen und der Beamtenschaft verloren gingen, droht inzwischen ein dritter Aderlass in Richtung AfD. Er speist sich vorwiegend aus dem Umstand, dass die SPD eine (ultra-)liberale Haltung in Fragen der Flüchtlings- und Migrationspolitik vertritt, womit sie ein weiteres Mal gegen die Interessen eines Teils ihrer (verbliebenen) Anhänger- und Wählerschaft verstößt. Wer es als Partei der „kleinen Leute“ zulässt, dass eine unbegrenzte Anzahl überwiegend unqualifizierter Zuwanderer als Asylbewerber ins Land kommt, die Sozialleistungen beziehen und auf die Arbeits- und Wohnungsmärkte drängen, darf sich nicht wundern, wenn ihm Teile seiner Anhänger und Wähler von der Stange gehen. Viele „hart arbeitende“ Menschen, die „schon länger hier wohnen“, betrachten die Menschen, die jetzt in großer Zahl „neu hinzukommen“, keineswegs als eine zu begrüßende Bereicherung ihrer noch nicht hinreichend „pluralisierten Lebensformen“, sondern als das, was sie für sie faktisch sind: Wettbewerber um Jobs und Wohnungen, die als arbeitslose Transferempfänger überdies noch die Staatskasse belasten.

„Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral“. Diese von Bert Brecht auf den Punkt gebrachte Lebenshaltung ist vor allem in den unteren Schichten unserer Gesellschaft weit verbreitet. Lediglich dort, wo „das Fressen“ weitgehend gesichert ist und im alltäglichen Lebenskampf keine große Rolle spielt, kann man es sich materiell leisten, weltoffener „Gutmensch“ zu sein. Wem dies nicht vergönnt ist, muss mit weniger hehren Lebensgrundsätzen vorlieb nehmen und steht deswegen in ständiger Gefahr, migrationspolitisch ins „Dunkeldeutschland“ abzugleiten. Mit ihrer (ultra-)liberalen Haltung in der Flüchtlings- und Migrationspolitik und ihrem damit einhergehenden anscheindende universalistischen Humanismus verprellt die SPD einen weiteren Teil ihrer Anhänger- und Wählerschaft nicht nur in den unteren, sondern auch in den mittleren sozialen Schichten. Warum sie dies tut, ist ein großes Rätsel und wirft die Frage auf, ob die SPD in den Millionen Immigranten dieser Welt, die sie aufnehmen, in den Arbeits- und Wohnungsmarkt integrieren und schließlich einbürgern möchte, eine Art Wachstumsreservoir für neue Mitglieder, Anhänger und Wähler sieht.

War die Agenda 2010 noch aus der Not einer stetig steigenden Massenarbeitslosigkeit geboren, besteht für die SPD heute keine Not, große Teile ihrer Anhänger und Wähler, die laut SPD ohnehin schon unter zu geringen Löhnen und zu hohen Mieten leiden, mit einer weitgehend ungesteuerten Massenmigration unter Druck zu setzen. Dass zahlreiche Arbeiter dies genau so sehen, bestätigte unlängst Hans-Jürgen Urban, Mitarbeiter der Zentrale der IG Metall, auf einer an der Universität Jena durchgeführten Tagung über Rechtspopulismus, über die die FAZ am 28. Juni unter dem Titel „Rechte Leute von links“ berichtete. Urban sprach auf dieser Tagung von einem „Populismus ohne Öffentlichkeit“, der sich in den Unternehmen der Metall- und Dienstleistungsbranche zusehends ausbreitet und der IG Metall große Sorgen bereite.

Von Aufstieg und Niedergang der Parteien
SPD
Trotz des geschwundenen Rückhalts in der Bevölkerung ist die SPD nach wie vor eine Partei, die quer durch verschiedene Bevölkerungsschichten ihre Anhänger und Wähler hat. Diese machen inzwischen 20 bis 25 % der Wählerschaft aus. Das macht sie gewissermaßen zur „ersten Wahl“ als Mehrheitsbeschaffer einer großen Koalition mit der CDU/CSU, deren Anhänger- und Wählerpotential derzeit bei 35 bis 40 % liegt. Je mehr dieses Potential in den nächsten Jahren unter anderem durch einen weiteren Zuwachs der AfD in Richtung 30% schrumpfen sollte, und gleichzeitig eine Koalition mit der neuen Konkurrenz von rechts seitens der CDU/CSU ausgeschlossen bleibt, desto geringer sind die Chancen der Christdemokraten, eine Koalition mit der FDP und/oder den Grünen bilden zu können und umso mehr sind sie auf die SPD als Juniorpartner angewiesen. Das weiß zum Beispiel auch Christian Lindner, der deswegen am 1. September in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung erklärte, er halte schon jetzt die Fortführung der Großen Koalition unter Führung von Merkel für das wahrscheinlichste Ergebnis der Bundestagswahl und arbeite deswegen dafür, mit der FDP als drittstärkster Partei die Rolle des Oppositionsführers übernehmen zu können.

Deutschland könnte sich kurz- und mittelfristig vor diesem Hintergrund auf eine Art Dauerkoalition von Christ- und Sozialdemokraten zubewegen, wie wir sie schon aus Österreich kennen, hier allerdings mit festen Rollenverteilungen zwischen Koch und Kellner, solange die SPD auf Dauer weit abgeschlagen hinter CDU/CSU landet. Die Große Koalition mit der SPD als Juniorpartner entspricht auch den objektiven Interessen und subjektiven Wünschen eines Großteils der Wählerschaft, nicht zuletzt der SPD. Viele ihrer Anhänger und Wähler sind in Unternehmen beschäftigt, wo sie tagtäglich erleben, wie wirtschaftlicher Erfolg mit sozialem Ausgleich kombiniert werden kann. Das gilt nicht nur für die großen Dax-Unternehmen, sondern ebenso für viele Mittelständler. Überall arbeiten sich die Unternehmensleitungen mit den Betriebsräten und den Gewerkschaften mehr oder weniger konfliktfrei daran ab, die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen zu erhalten und zu verbessern sowie die Beschäftigten am wirtschaftlichen Fortschritt zu beteiligen. Dies ist, weit mehr als etwa die Agenda 2010, sicherlich der wichtigste Erfolgsfaktor für die derzeitige Stärke der deutschen Wirtschaft, etwa im Vergleich zu Frankreich.

Parteiensystem Ost und West?
Wiedervereinigung Linke und SPD?
Das wissen auch die meisten Beschäftigten und haben daher dieses Modell inzwischen nolens volens auf die gesamte Bundesrepublik übertragen, die sie gewissermaßen als Deutschland AG betrachten. Der SPD fällt vor diesem Hintergrund die Rolle des Gesamtbetriebsrates zu, der dafür Sorge zu tragen hat, dass die Beschäftigten am volkswirtschaftlichen Gesamtkuchen gerecht beteiligt werden, während CDU/CSU die Aufgabe zukommt, die Verantwortung für den wirtschaftlichen Erfolg zu übernehmen und den Gesamtbetriebsrat in alle wichtigen Entscheidungen einzubeziehen. Die ideologische Klammer dieses Bündnisses bildet der sozialpolitische Grundkonsens, den alle drei Partner inzwischen miteinander teilen.

Auch den Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften kommt dieses Modell sehr entgegen, stellt es zum einen sicher, dass auf volkswirtschaftlicher Ebene politisch grundsätzlich nicht anders verfahren und gehandelt wird als auf betriebswirtschaftlicher Ebene und zum anderen die von beiden Seiten jeweils präferierten Parteien gemeinsam die Geschicke des Landes bestimmen. Hinzu kommt im Falle der großen Gewerkschaften (IG Metall, Verdi, IGBC), dass der Juniorpartner SPD sicherstellt, dass sie mittels des Arbeits- und Sozialministeriums sowie des Familienministeriums die Arbeits- und Sozialpolitik des Landes maßgeblich beeinflussen und steuern können.

Völlig illusorisch und deplaziert ist es angesichts dieser Sachlage, wenn der von den Wählern designierte Gesamtbetriebsrat SPD in Abständen von jeweils vier Jahren immer wieder den Anspruch auf den Vorstandsvorsitz erhebt. Diese Rolle wird einem Betriebsrat in aller Regel von seinen Wählern weder zugetraut noch zugebilligt. So verhält es sich in den Unternehmen und ebenso in der Deutschland AG. Noch abstruser wird diese Anspruchshaltung, wenn sie mit politischen Forderungen begründet wird, welche die eigene Betriebsratsrolle absolut in den Vordergrund stellen. Mit seinem Gerechtigkeits-Wahlkampf, der vorrangig, um nicht zu sagen ausschließlich verteilungspolitische Interessen bestimmter Wählergruppen bedient, bewirbt sich Schulz faktisch um die Position des Gesamtbetriebsratsvorsitzenden der Deutschland AG, sagt aber ständig, es ginge ihm um den Vorstandsvorsitz.

Von einem, der 40 Jahre SPD wählte
Adieu - Ich wähle die SPD nicht mehr
Deswegen sind seine Beteuerungen, für die SPD komme die Juniorpartnerschaft in einer Großen Koalition nicht mehr in Frage, spätestens am Tag nach der Bundestagswahl Schall und Rauch. Sie entsprechen weder den Interessen und dem Willen der meisten SPD-Wähler, noch den Interessen und dem Willen der in der SPD äußerst einflußreichen Gewerkschaften. Schon 2013 waren sie es, die die SPD nach der verlorenen Wahl dazu drängten, vielleicht auch nötigten, eine Große Koalition unter der Führung von Merkel einzugehen. Dies war aus ihrer Sicht angesichts der getroffenen Regeln zur Rente mit 63, dem Mindestlohn, der Mietpreisbremse und anderen sozialpolitischen Maßnahmen auch von Vorteil.

Warum sollten sie dies nach dem 24. September nicht wieder tun, zumal sie seit Franz Müntefering wissen, dass Opposition Mist ist und die Bundeskanzlerin in vielerlei Hinsicht sozialdemokratisch tickt ? Der Spatz in der Hand ist da allemal besser als die Taube auf dem Dach.

Einen Strich durch die Rechnung der Neuauflage der Großen Koalition könnte den Gewerkschaften und der SPD nur ein Ergebnis von CDU/CSU machen, das diese in die Lage versetzt, mit der FDP oder den Grünen oder beiden zusammen eine Koalition zu bilden. Vor diesem Hintergrund ist nicht auszuschließen, dass manche sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre vor dem Schlafengehen heimlich dafür beten, dass CDU/CSU so viele Stimmen an die AfD verlieren, dass es den Christdemokraten für eine Kleine Koalition rechnerisch nicht reicht.


Roland Springer arbeitete als Führungskraft in der Autoindustrie. Er gründete im Jahr 2000 das von ihm geleitete Institut für Innovation und Management. Sein Buch Spurwechsel – Wie Flüchtlingspolitik wirklich gelingt erhalten Sie in unserem Shop www.tichyseinblick.shop