Tichys Einblick
SPD-Bundesparteitag

Im roten Paralleluniversum

Die Sozialdemokraten treffen sich, aber die Wirklichkeit ist nicht eingeladen. Real existierende Bürger und deren real existierende Probleme kommen nicht vor. Dafür macht der Kongress die Sicht frei auf faszinierende Fantasien. Bericht von einem fernen Planeten: dem SPD-Bundesparteitag in Berlin.

IMAGO/photothek
„Politik ist Nahkampf“, hat Helmut Schmidt einmal gesagt, und dabei konnte man dem großen Sozialdemokraten am Gesicht ablesen, wie sehr er den harten politischen Streit mochte. Der gehört, fand der verstorbene Altkanzler, zu einer richtigen Demokratie einfach dazu.

Tempora mutantur, die Zeiten ändern sich.

Was die Roten von heute vom Meinungskampf mit offenem Visier halten, zeigt eine kleine Begebenheit vom Parteitag an diesem Wochenende in Berlin. Da erklärt der Sitzungsleiter den 600 Delegierten mit versteinerter Miene: „Das Präsidium erwartet, dass geklatscht wird, wenn jemand gewählt wird. Es ist aber nicht solidarisch, wenn geklatscht wird, wenn jemand nicht gewählt wird.“

Nun würde man vielleicht erwarten, dass so ein Berufspolitiker im viertgrößten Industriestaat der Welt doch vielleicht zumindest ähnlich gute Nerven haben sollte wie ein handelsüblicher Fußballprofi – und der erträgt es ja auch, wenn ihn ein paar zehntausend Fans mal auspfeifen. Aber der zeitgenössische Sozialdemokrat ist wohl eher zart besaitet. Trifft er auf Widerstand, fängt er an zu weinen oder jedenfalls zu quengeln.

Das richtige Leben bietet Widerstände im Überfluss. Normale Menschen wissen das und gehen damit um. Es ist nur folgerichtig, dass sich die SPD von heute deshalb nur äußerst ungerne mit dem richtigen Leben auseinandersetzt. In freier Wildbahn lässt sich das nicht immer vermeiden. Aber auf ihrem eigenen Parteitag kann Deutschlands aktuelle Kanzlerpartei natürlich machen, was sie will.

Das tut sie auch tatsächlich: Sie flüchtet sich in ein Paralleluniversum.

In diesem Universum kann ein amtierender Bundesminister einfach mal sagen, dass Juden gegen Muslime sind und die Gesellschaft spalten – und die SPD vergibt dafür im Internet auch noch Herzchen:

Es ist ein Universum, in dem nicht nur ein Prozent (1 %) der Wähler mit der SPD-geführten Regierung „sehr zufrieden“ sind. In dem nicht nur 16 Prozent der Wähler mit ihrer Regierung zumindest „zufrieden“ sind (der schlechteste je gemessene Wert). In dem deshalb SPD-Chef Lars Klingbeil in seiner Rede die überwältigende Mehrheit der Unzufriedenen als „Schreihälse“ beschimpfen kann, die „mit der Polarisierung ihre Geschäfte machen“.

In diesem Universum nimmt der Staat nicht jedes Jahr eine Rekordsumme von mehr als einer Billion (1.000.000.000.000) Euro an Steuern ein und steckt auch nicht den mit weitem Abstand größten Teil davon in soziale Wohltaten. Deshalb kann der Parteivorsitzende Klingbeil allen Ernstes unter dem Jubel der Delegierten vor „Angriffen auf den Sozialstaat“ warnen. Und er kann Bürger, die den Staat als aufgeblähtes Monster empfinden, pauschal diffamieren, sie würden den „Staat verachten“.

Es ist ein Universum, in dem das Geld auf den Bäumen wächst – ohne dass man die Bäume pflanzen und gießen müsste. In dem die in Deutschlands Verfassung festgeschriebene Schuldenbremse als „Zukunftsbremse“ verächtlich gemacht wird und die Delegierten deshalb einstimmig (!) deren Aussetzung mindestens auch für 2024 fordern.

In diesem Universum kann die SPD weiterhin fröhlich fordern, dass der arbeitende Teil der Bevölkerung immer mehr an den Staat zahlt, damit der immer mehr Geld über den nicht arbeitenden Teil ausschütten kann. Arbeitende (die sogenannten „Reichen“) sollen mehr Steuern zahlen. Schon einmal versteuerte Erbschaften sollen doppelt besteuert werden. Besonders viel Arbeitende und deshalb gut Verdienende sollen zugunsten der nicht arbeitenden Leute eine „temporäre Krisenabgabe“ zahlen.

Es ist ein Universum, in dem die SPD auf keines ihrer Lieblingsprojekte verzichten muss und Kompromisse immer nur von den anderen verlangt werden können: von den Grünen und vor allem von der FDP.

In diesem Universum können die Jungsozialisten (Jusos) – die offizielle Nachwuchsorganisation der SPD – mal eben einen generellen Stundenlohn von 15 Euro fordern, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, was die Rentnerin dann für einen Friseurbesuch bezahlen würde.

Es ist ein Universum, in dem jeder Flüchtling dorthin ziehen kann, wohin er will – und in dem keine EU-Grenzagentur FRONTEX das kontrolliert. In Deutschland würde jeder Ausländer sofort automatisch einen Rechtsanspruch auf Bürgergeld haben. Beides jedenfalls fordern die Jusos.

In diesem Universum gibt es keine Leute, die faul sind und nicht arbeiten wollen. Deshalb soll es für Empfänger von Bürgergeld keinerlei Verpflichtung mehr geben, eine Arbeit aufzunehmen. Mehr noch: Durch das Bürgergeld sollen Rentenansprüche entstehen. Das jedenfalls fordern mehrere Anträge.

Es ist ein Universum des allgemeinen Überflusses – das Land, in dem Milch und Honig fließen. Mühelos, ohne Anstrengung, ohne Entbehrungen. Ein Universum, in dem es allen Betrieben so sensationell gut geht, dass der Urlaubsanspruch mal eben um volle 50 Prozent angehoben wird: bei einer Fünf-Tage Woche auf 30 Tage (bisher: 20 Tage). Das jedenfalls fordert die SPD Sachsen. Und alle sollen weniger arbeiten: grundsätzlich nur noch 32 Stunden pro Woche statt bisher 40, natürlich bei vollem Lohnausgleich. Das fordert die SPD Berlin.

In diesem Universum haben klassische sozialdemokratische Werte keinen Platz mehr. Entsprechend werden ehemalige Parteigrößen ausgegrenzt – etwa Wolfgang Thierse, der sagt: „Die SPD hat keine Chance, wenn sie meint, jede Minderheit berücksichtigen und bedienen zu müssen.“ Doch in diesem Universum ist die SPD eben keine Volkspartei mehr, sondern eine Klientelpartei. Wer weiter Politik nicht nur für einige wenige machen will, sondern für möglichst viele, hat in diesem Universum keinen Platz – wie der Landrat von Vorpommern-Rügen, Wolfgang Kerth. Nach Jahrzehnten in der Partei ist er jetzt ausgetreten – aus Protest dagegen, dass man in der SPD nicht mehr kritisch über die Migration diskutieren darf.

Auf dem Parteitag in Berlin spielen Kerth und Thierse keine Rolle.

Das Paralleluniversum des SPD-Parteitags in Berlin ist auch deshalb so faszinierend, weil es räumlich direkt neben dem Universum liegt, in dem 82 Millionen leben – aber gedanklich doch weiter entfernt ist als der Andromeda-Nebel von der Erde.

Es ist ein Universum, zu dem auch die „Spiegel“-Redakteurin Juliane Löffler gehört. In diesem Universum gehört es zu den relevanten Problemen, dass Kinder sogenannte non-binäre Verwandte nicht „Tante“ oder „Onkel“ nennen sollen:

Die SPD kreist um sich selbst. Der Parteitag ist sich selbst genug. Je länger man sich den Live-Stream von dieser bizarren Veranstaltung ansieht, desto mehr gewinnt man den Eindruck: Die Wirklichkeit würde hier bloß stören.

Willkommen in der ganz eigenen Welt der neuen deutschen Sozialdemokratie.

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