Tichys Einblick
Putins Krieg und die Russen und wir

Die Schuld, die Schuldigen und die Opfer

Es ist Putins Krieg, aber die Russen müssen ihn beenden. Es ist falsch, unsere kulturellen und zivilisatorischen Standards aufzugeben und individuellen Russen feindselig zu begegnen. Putins Lügen gegen das eigene Volk sollten auch im Westen zu Denken geben.

Russische Soldaten in der Ukraine

IMAGO / SNA

Laut einem Bericht des Korrespondenten der FAZ in Moskau, Friedrich Schmidt, fühlen sich russische Soldaten, die Putin ins Gemetzel schickt, missbraucht. So wurde im Januar die motorisierte Schützenbrigade des Gefreiten Abramow vom Fernen Osten nach Brjansk verlegt. Von dort wurde sie in Marsch gesetzt in das Manöver „Unionsentschlossenheit 2022“ nach Belarus. Am 16. Februar habe der Gefreite seiner Mutter gesagt, dass das Manöver vier Tage früher beendet wurde. Bei Mutter und Sohn äußerte sich die Erleichterung in Spott darüber, dass der US-Geheimdienst just diesen Tag als Beginn des Angriffs gegen die Ukraine benannt hatte.

Der Spott sollte nicht lange anhalten, denn die Brigade wurde nicht nach Fernost zurückverlegt, sondern das Manöver plötzlich verlängert und die Soldaten schliefen in ihren Fahrzeugen und in Zelten. Dann hörte die Mutter des Gefreiten von ihrem Sohn, dass ihnen unterstellt würde, dass sie die Grenze zu Belarus illegal überquert hätten, wo doch im Verlegungsbefehl Brjansk gestanden hätte. „Ihr habt keinen Bezug zur russischen Armee, ihr seid Deserteure“, hätten die Kommandeure gesagt. Jetzt seien die Soldaten ein Strafbataillon, müssten die Ukraine angreifen. „Mama, sie haben uns verraten!“, habe ihr Sohn geschrien … Mama, wir werden in Autos gesetzt, wir fahren los, ich liebe dich, wenn es Begräbnisse gibt, glaube es nicht gleich, überprüfe es unbedingt.“ 

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Es sind die dreisten Lügen, die brutalen Desinformationen, die zynischen Taschenspielertricks, die zur geistigen Ausstattung des KGBs und der ihm nachfolgenden russischen Geheimdienste gehören. Der frühere KGB-Agent Wladimir Putin hat diesen intellektuell nie verlassen. Das Problem von Lüge und Desinformation besteht darin, dass sie deren Hervorbringer mit den Jahren selbst deformieren, weil die Wahrheit zur Funktion und die Realität zur Konjugation der Wünsche wird. Mit anderen Worten, die große Gefahr besteht darin, dass Putin seinem eigenen Trug glaubt. Die Gespenster, die er an die Wand gemalt hat, scheinen seine eigenen Gespenster geworden zu sein.

Insofern ist die Definition von Olaf Scholz so wichtig, dass es Putins Krieg ist, Putins und des kleinen inneren Zirkels um ihn herum, der Russland zur Geisel genommen hat, das russische Volk belügt und jede kritische Berichterstattung verhindert. Putin und sein kleiner Zirkel möchten, dass alle an ihre Wahngebilde glauben. Deshalb werden kritische Fernsehsender und Radiosender wie „TV Doschd“ und „Echo Moskwy“ behindert und ihre Websites blockiert. Inzwischen werden unkonventionelle Medien wie beispielsweise Pornokanäle benutzt, um Informationen zu übermitteln, die den Russen zeigen, dass es sich um keine Spezialoperation gegen Neonazis handelt, sondern um einen blutigen Krieg gegen die Ukraine, gegen die Ukrainer, genaugenommen gegen die eigene Geschichte.

Aus diesem Grunde haben vor Kurzem auch russische Historiker mutig gegen den Krieg und Putins Geschichtsrevisionismus protestiert. Sie schreiben in einem offenen Brief: „Wir, russische Historiker – Wissenschaftler, Lehrer, Studenten, Doktoranden und Absolventen historischer Fakultäten – bringen unseren starken Protest gegen die militärischen Operationen der russischen Streitkräfte auf dem Territorium des souveränen Staates Ukraine zum Ausdruck. … Im 21. Jahrhundert ist eine solche Manipulation der Geschichte inakzeptabel. Streitigkeiten sollten in Diskussionen, bei diplomatischen Treffen und wissenschaftlichen Konferenzen und nicht auf dem Schlachtfeld beigelegt werden.“

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Sie verwiesen darauf, dass Putins Krieg auch ein Krieg gegen die Geschichte ist: „Der Krieg zerstört die wertvollsten Denkmäler der Vergangenheit, die wir für die Nachwelt bewahren müssen. Auf dem Territorium der Ukraine gibt es solche Denkmäler des Weltkulturerbes wie die Kirche der Hl. Sophia und das Goldene Tor in Kiew, die Pjatnizkaja-Kirche in Tschernihiw und andere.“ Sie bekräftigen gegen Putins Auslöschung der Eigenständigkeit der Ukraine: „Die Ukraine war und bleibt für Russland ein wahrhaft brüderliches Land, mit dem uns familiäre, freundschaftliche und berufliche Bande verbinden, eine gemeinsame historische Erfahrung. Wir sprechen über die Leistung unserer Völker während des Großen Vaterländischen Krieges. Unsere Vorfahren haben Schulter an Schulter gekämpft, damit wir – ihre Söhne, Enkel und Urenkel – niemals vom Krieg berührt werden.“

Es ist nicht der Krieg der Russen. Putins Vorbild, Stalin, sagte einmal: Die Hitlers kommen und gehen, das deutsche Volk jedoch bleibt. Und so ist es auch richtig, dass die Putins kommen und gehen, das russische Volk jedoch bleibt, wenn der russische Präsident nicht zum letzten Mittel greift, das für alle auf diesem Planeten das letzte Mittel wäre. Jedem Einzelnen in Putins Umfeld und in der Führung kommt deshalb nun eine sehr große Verantwortung für sich selbst, für seine Familie, für seine Kinder und Kindeskinder und für das russische Volk zu. 

Es ist richtig, dass es Putins Krieg ist, den allerdings die Russen beenden müssen. Nicht richtig ist es jedoch, dass wir unsere kulturellen und zivilisatorischen Standards aufgeben und Russen, die in Deutschland studieren, leben und arbeiten, feindselig begegnen oder sie „bestrafen“. Es ist nicht richtig, einen Dirigenten zu entlassen, weil er sich nicht von Putin distanziert. Ein Grund zur Entlassung läge vor, wenn er ein Konzert unterbrechen und agitatorisch tätig werden würde, weil er dann Amt und Stellung missbrauchte. Nicht richtig ist, dass die DFG generell alle Forschungsprojekte mit russischen Wissenschaftlern einstellt und keine neuen Anträge annimmt.

Wem nützt es, wenn es keinen Austausch mehr zwischen Wissenschaftlern gibt? Wäre es nicht richtig, hier zwischen sicherheitspolitisch und gesellschaftspolitisch relevanten Projekten zu unterscheiden? Bei uns studieren junge Russen, die – anders als die Oligarchen – wegen des Bankenboykotts nicht an ihre bescheidenen Gelder, Stipendien zum Beispiel, herankommen und nun nicht wissen, wovon sie leben sollen. Niemand sollte dem primitiven Reflex nachgeben und nach Sündenböcken suchen, nach Stellvertretern, an denen er seine aufgestauten Aggressionen, seine vielleicht auch berechtigte Wut auslassen kann. 

Ohne Schuld an dem Krieg ist auch der Westen nicht. Sein überstürzter Abzug aus Afghanistan, der einer Flucht ähnelte, könnte Putin restlos von der „Feigheit“ des Westens überzeugt und zu diesem Schritt, die Ukraine zu annektieren, ermuntert haben. Möglich, dass er mit sehr großer Rhetorik und höchstens mittelgroßen Sanktionen gerechnet hat, nicht aber mit diesem Ausmaß an Entschlossenheit, nicht mit dem Willen, die Ukraine zu unterstützen, nicht mit diesen Sanktionen. 

Dass ein Land wie Deutschland über Gendersternchen diskutiert, als ob es um Tod oder Leben geht, erfüllt ihn sicherlich mit Verachtung. Die rein ideologisch basierte Energiewende, der Utopismus der klimaneutralen Gesellschaft, die irrationale Klimabewegung, die ständige Ausrufung der ständig drohenden Apokalypse, die Vorherrschaft des Armageddon-Arguments als letztes und einziges Argument, als ultima irratio, die Hegemonie irrationaler Strömungen wie Identitätspolitik, Postkolonialismus, Wokismus und Genderismus, vor allem die Geringschätzung und die Einschränkung der Freiheit sind Dekadenzphänomene unserer Kultur, der Verrat an der Aufklärung.

Wenn Luisa M. Neubauer vom „fossilen Krieg“ spricht, als ob es besser wäre, wenn die Panzer mittels Batterien elektrisch angetrieben würden, zeigt sich der Wirklichkeitsverlust, die primitive Argumentationskette. So gab sie zu Protokoll: „Putins fossiler Krieg eskaliert stündlich, von den ukrainischen Fridays For Future Aktivist:innen hören wir das Schlimmste. Wir werden deswegen diesen Donnerstag, morgen, weltweit auf die Straßen gehen und gegen diesen Krieg demonstrieren.“ Was Luisa M. Neubauer und die anderen verwöhnten Wohlstandskinder immer noch nicht begriffen haben, ist, dass sie eine Mitschuld an Deutschlands Energieabhängigkeit von Russland trifft, dass ihre Utopie Deutschland erpressbar macht.  

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Wenn jetzt Journalisten ihr Mütchen an Gerhard Schröder kühlen und ihn an den Pranger ziehen, wo er sicher auch hingehört, wollen sie vergessen machen, dass sie jahrelang Angela Merkel in den Himmel gehoben haben und jede Kritik an ihr als „rechts“ oder als verschwörungstheoretisch verschrien haben. Doch für die Zerstörung der Verteidigungsbereitschaft und für die Energieabhängigkeit von Russland zeichnet vor allem Angela Merkel verantwortlich – und auch Frank-Walter Steinmeier. Wer hat denn Putins Wünsche immer wieder erfüllt?

Mehr noch als Schröder trägt Merkel an der katastrophalen Situation Deutschlands die persönliche Verantwortung. Es wird Zeit, über die Verantwortung der Regierungen Merkel, die wirtschaftlich von den Erfolgen von Schröders Agenda 2010 gelebt haben, für die jetzige Situation zu reden, darüber zu sprechen, weshalb Deutschland als so schwach und als so verwundbar wahrgenommen wird und zur Stunde wohl auch ist. Wer hat die Wehrpflicht ausgesetzt? Wer hat die Bundeswehr mit Hetzjagden gegen rechts, mit Genderismus und Diversität, mit der Vernachlässigung von Ausrüstung und Verteidigungsbereitschaft in die Situation gebracht, dass sie „blank“ ist, wie der Generalinspekteur einschätzt? Wer hat die Atomkraftwerke abgeschaltet? Wer die Masseneinwanderung in die Sozialsysteme ermöglicht?

Wladimir Putin verkündet, dass er die Ukraine entnazifizieren will und erweckt den Eindruck, dass die Ukraine von Neonazis beherrscht wird. Ist uns dieses Narrativ so fremd? Werden nicht seit Jahren in Deutschland all diejenigen, die nur insoweit rechts sind, als sie sich gesellschaftspolitisch rechts von den Linken, rechts von den Rotgrünen befinden, als „rechts“ verschrien, derweil „rechts“ zum Synonym von „rechtsradikal“ oder „rechtsextrem“ oder gleich „Nazi“ gemacht worden ist? Wurde der Ankerwert des Westens, die Freiheit, nicht durch Cancel Culture und mediale Repression eingeschränkt? Hat der Westen in den letzten Jahrzehnten seine Werte nicht selbst in Frage gestellt? Sind gewisse Kräfte in Deutschland nicht ähnlich freihändig mit dem Begriff „Nazi“ oder „Neonazi“ umgegangen wie Wladimir Putin – und haben sie dadurch nicht sogar den notwendigen Druck auf Neonazis vermindert, indem sie den Begriff unzulässig ausgeweitet, ihn entkernt, ihn zur Sammelbezeichnung erhoben haben für das unsagbar Böse, das auch allein darin bestehen konnte, dass man anderer Meinung zur Klimapolitik, zur Coronapolitik oder zur Masseneinwanderung in die Sozialsysteme war?

Schuld am Krieg sind und bleiben Wladimir Putin und sein engster Führungszirkel. Opfer dieser Politik sind die Ukrainer, vor allem. Doch auch an Europa, auch an den Russen geht dieser Krieg nicht spurlos vorbei. Was wir tun können und müssen, ist, den Ankerwert Europas, die Freiheit, wieder zu neuem Glanz zu verhelfen, indem wir ihn leben, wieder ans Erbe der Aufklärung anschließen, zum Rationalismus zurückkehren, mit dem Utopismus der Merkel-Jahre brechen, vor allem mit ihrer Form der Politik des „divide et impera“, des Ausspielens verschiedener Interessenlagen der Bürger gegeneinander. 

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