Tichys Einblick
Oder nur veröffentlichte?

Öffentliche Meinung: Lasst euch nicht täuschen

Ein Aufruf, dem Augenschein nicht zu trauen und besonders dann hinter die Kulissen zu blicken, wenn der eigene, klare Bürgerverstand nicht mehr folgen kann. Und das ist heute oft der Fall.

© Eric Feferberg/AFP/Getty Images

Thomas de Maizière bemühte sich nach der späten Absage des Fußballspiels am 17. November 2015 in Hannover – wenige Tage nach den Terroranschlägen in Paris während des Länderspiels der DFB-Elf  gegen Frankreich – gewohnt ermüdend-weitschweifig um Erklärungen. Die Gefährdung sei hoch, die Lage ernst. Die Hintergründe könne er nicht nennen – das diene nicht „der nationalen Sicherheit unseres Landes“. Auf diesbezügliche Fragen könne er keine Antwort geben. „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Taktiken der Verunsicherung

Im „Interesse der Sicherheit“ wird geschwiegen, um keine Panik zu erzeugen? Klar, das setzt Phantasien in Gang. Könnte man nicht auch aus diesen Worten herauslesen, dass wir generell nicht – oder nur unvollständig – informiert werden (sollen), was hinter den Kulissen passiert?

Schon nach den Anschlägen in Paris im Januar 2015 hatten wir per manipuliertem Foto suggeriert bekommen, dass Spitzenpolitiker aus aller Welt einen Zug von Hunderttausenden von Trauernden angeführt hatten, während das Foto in Wirklichkeit in einer abgesperrten Straße aufgenommen wurde und die Prominenten aus aller Welt danach wieder in ihre Limousinen stiegen. Ein Moment der Erkenntnis über die heute ausufernden Möglichkeiten der Manipulation, deren Ausmaß wir uns kaum vorstellen können und von denen wir nichts ahnen, bis sie durch so ein Foto – oder durch mutige Menschen wie z.B. Edward Snowden – deutlich werden.

(M)Ein „Aha-Erlebnis“ als Beispiel

Ich kam ins Grübeln und mir fiel wieder einmal mein „Aufwachen“ nach der langen Phase des Christian Wulff-Bashings ein. Hier eine Chronologie der „FAZ“. Daran hatte ich mich sogar beteiligt, empfand das nach dessen Ausgang jedoch als einen Fehler, dass ich mich so unkritisch hatte manipulieren lassen. Und ich schwor mir, nie wieder auf so einen von den Medien fast unisono aufgebauschten Hype hereinzufallen. Natürlich hat Christian Wulff Fehler gemacht und sich manchmal ungeschickt und unbeholfen verhalten. Doch irgendwann dämmerte mir, dass das übermäßige Hochspielen der Vorgänge in keinem Verhältnis zu den Vorkommnissen stand, und mir wurde bewusst, wie man mit einer solchen konzertierten Kampagne Menschen beeinflussen und Karrieren und Ruf zerstören kann. Wie Wulff die Sache dann bis zu seinem Freispruch durchgezogen hat, fordert Respekt ab.

Warum Christian Wulff?

Er nutzte seine Stellung für „Unregelmäßigkeiten“ – ja. Aber da war er beileibe nicht der Einzige. Die Beziehungen Gerhard Schröders zur „Hannover Connection“ galten ebenfalls als sehr eng. Und auch andere haben schon versucht, Einfluss auf die Medien zu nehmen, ohne dass das an die große Glocke gehängt wurde und zum Rücktritt führte. – Gründe genug für mich, hier mal tiefer zu bohren. Nach einem Subtext zu forschen. Dabei möchte ich hier nicht spekulieren, sondern einfach nur Fakten darlegen und zum Hinterfragen anregen, wenn einem gar zu viele Ungereimtheiten auffallen. – Auch andere hatten sich über die Unverhältnismäßigkeit der Wulff-Jagd schon Gedanken gemacht, merkte ich. Ich stieß bei meiner Suche auf zwei interessanten Reden vom damaligen Bundespräsidenten und auf ein Interview in der ZEIT.

Zwei Reden

Bei seiner Eröffnungsrede zum XIX Deutschen Bankentag am 31. März 2011 in Berlin hatte Wulff unter anderem an den Schock der Finanzkrise erinnert und bedauert, dass man anscheinend zu den alten Verhaltensweisen zurückgekehrt sei. Die Zeit unverhältnismäßiger Gewinne und schneller Profite sei vorbei und dürfe nicht zurückkommen, sagte er. Nicht für die Banken, die sich mit geringeren Renditen und höheren Sicherheitsvorschriften zurechtfinden müssten. Und auch nicht für die Politik, die endlich die Regeln einhalten, die öffentlichen Haushalte in Ordnung bringen und auch dem Finanzsektor klare Regeln setzen müsse.

Zur Eröffnung der 4. Tagung der Wirtschaftsnobelpreisträger in Lindau am 24. August 2011 erinnerte er an diese Warnung: „Wir sehen tatsächlich weiter eine Entwicklung, die an ein Domino-Spiel erinnert; Erst haben Banken andere Banken gerettet, und dann haben Staaten Banken gerettet, dann rettet eine Staatengemeinschaft einzelne Staaten. Wer rettet aber am Ende die Retter? Wann werden aufgelaufene Defizite auf wen verteilt, bzw. von wem getragen? Ich verstehe die Empörung vieler Menschen. Es sind ihre Zukunftschancen, die hier auf dem Spiel stehen.“ Menschen reagierten empfindlich, wenn Fairnessprinzipien verletzt würden, fährt er fort. Das Versagen der Eliten bedrohe langfristig den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Elite dürfe sich nicht in eine eigene abgehobene Parallelwelt verabschieden. Immer mehr Bürger hätten das Gefühl, dass es nicht fair zugehe und Lasten einseitig verteilt würden. Unfairness, falsches Wirtschaften müssten klar und rasch sanktioniert und die gemeinsamen Regeln ohne Wenn und Aber durchgesetzt werden.

Ein Interview

Ausschnitt aus einem „Zeit“-Interview mit Christian Wulff  vom Juni 2011:

„Sowohl beim Euro als auch bei Fragen der Energiewende wird das Parlament nicht als Herz der Demokratie gestärkt und empfunden. Dort finden die großen Debatten nicht mit ergebnisoffenem Ausgang statt, sondern es wird unter einigen wenigen etwas vereinbart und durch Kommissionen neben dem Parlament vorentschieden. Der Bundestag und der Bundesrat haben in der Finanzkrise bewiesen, schnell handlungsfähig zu sein. Zur Demokratie gehört aber grundsätzlich, dass man sich Zeit nimmt – durch eine erste, zweite und dritte Lesung -, einander zuhört, Gegenargumente wägt, klüger wird. Die Schnelligkeit, mit der jetzt Politik – oft ohne Not – bei einigen herausragenden Entscheidungen verläuft, ist beunruhigend. Und sie führt zu Frust bei Bürgern und Politikern, sowie zu einer vermeidbaren Missachtung der Institutionen parlamentarischer Demokratie.“

Hear, hear!

Der ESM-Vertrag

Am 17. Februar 2012 tritt Christian Wulff unter dem Druck der öffentlichen Beschuldigungen zurück. Am 18. März 2012 wird Joachim Gauck zu seinem Nachfolger gewählt. Im September 2012 unterschreibt der Mann, der (laut „ZEIT“) „dem höchsten Amt im Staat wieder Würde und Gewicht verliehen hat und Wulff damit rasch vergessen ließ“ den umstrittenen ESM-Vertrag. Ob Christian Wulff, der Präsident, der die zitierten Reden gehalten hat, diesen Vertrag auch unterschrieben hätte? Einen Vertrag, den der „Bund der Steuerzahler“ als Bedrohung für die deutschen Steuerzahler ansieht. Einen Vertrag, der die Finanzhoheit an ein nicht gewähltes und gegenüber Strafverfolgung immunes Gremium, den „Gouverneursrat“, abgibt, der unbegrenzt Finanzmittel bei den ESM-Mitgliedsstaaten abrufen kann, also Steuergelder.

Zwei weitere Beispiele zum „Näher-Hingucken“

I. Berichterstattung über den NSU-Komplex

Gespräche mit Freunden und besonders auch die vielen Leserbriefe in verschiedenen Zeitungen vermitteln Ratlosigkeit, Verwirrung und Wut auf Bürgerseite. Auf viele im Raum stehende Fragen gibt es gar keine oder keine befriedigenden Antworten, und das verleitet dann – naturgemäß – zum Rätsel-Raten. Eins dieser Beispiele ist die Berichterstattung über die NSU-Verbrechen. Über Jahre wird Unterschiedlichstes berichtet. Man versucht, in der Fülle der verwirrenden Darstellungen eine Linie zu finden, verliert aber immer wieder den Faden und blickt letzten Endes nicht durch.

Einen ungefähren Überblick über die Geschehnisse bekommt man bei einer Veranstaltung der „Friedrich-Ebert-Stiftung“ vom 3. November 2016 in Erfurt mit dem Titel „Fünf Jahre NSU – Aufklärung unerwünscht?“  Die Teilnehmer Dorothea Marx (MdL und Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtag), Nebenkläger Yavuz Selim Narin und Politwissenschaftler Professor Hajo Funke berichten Unglaubliches. Ich kann darauf im Einzelnen in diesem Rahmen nicht eingehen und verweise für Interessierte auf das Video.

Wir hören von ungewöhnlichem, unprofessionellem behördlichem Vorgehen, von Schreddern wichtiger Akten, von massiver Aufklärungsbehinderung, vom Tod von mindestens drei Zeugen vor ihrer geplanten Vernehmung – von unbeantworteten Fragen und Ungereimtheiten ohne Ende. Die Rolle des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) bei der Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ wirft drängende Fragen auf. Es kommt immer wieder Neues zutage. Die erst vor wenigen Tagen ausgestrahlte Sendung im Ersten Programm  „Tod einer Polizistin – Das kurze Leben der Michèle Kiesewetter“ über die am 24. April 2007 getötete Beamtin rückt den Fall wieder in ein ganz neues Licht und macht uns bewusst, über wie vieles man uns im Dunkeln tappen lässt. Dass man dann ins Grübeln kommt und sich so seine Gedanken macht, liegt in der Natur der Dinge. Soll die Bürgergesellschaft ihr Gedächtnis verlieren?

Das BfV untersteht dem Bundesministerium des Innern. Warum kommt kein Druck von letzterer Seite, damit die Verantwortlichen mit der Wahrheit herausrücken und dem Bürger Klarheit verschaffen? Kriminologe Prof. Thomas Feltes: Wenn die ursprüngliche These über die Vorfälle in Heilbronn kippe, „dann kippt das ganze NSU-Verfahren. Und wenn das ganze NSU-Verfahren kippt, dann haben wir tatsächlich ein rechtsstaatliches Problem.“

II. Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt

Als zweites Beispiel möchte ich den Berlin-Anschlag vom 19. Dezember 2016 nennen, um den es so merkwürdig schnell wieder still wurde. Zwölf Tote und über 50 Verletzte! Man hört auch kaum etwas von den durch den Anschlag hart getroffenen Angehörigen und Freunden der Opfer, von den Zeugen und Rettungskräften und von den Folgen, den verstörenden inneren Bildern, die Zeugen und Helfer oft noch Jahre später quälen. Nichts von dem dringenden Bedürfnis der Angehörigen, die Wahrheit herauszufinden, den Täter gefasst und vor Gericht gestellt zu sehen. Nichts darüber, wie sie es empfinden müssen, wenn sie erfahren, dass die Tat hätte verhindert werden können. Die Opfer bleiben namenlos – gone with the wind … Alles bleibt irgendwie abstrakt und unwirklich. Nebulös. Erste schnelle finanzielle Hilfe gibt es, erfahren wir. „Es sind erste Beträge geflossen“, sagte ein Sprecher des zuständigen Bundesamtes für Justiz der Deutschen Presse-Agentur. „Wie viele Anträge vorliegen und wie viel Geld bisher gezahlt wurde, wollte das Bundesamt nicht mitteilen.“ Warum nicht? Warum alles so geheim? Hoch merkwürdig!

Stattdessen steht der Täter wochenlang voll im Rampenlicht. Was mögen die Angehörigen darüber denken – sie und ihr Leid im Dunkeln, der Mörder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Ein Mann mit vielen Gesichtern, wie es scheint. Ich versuche, den Angaben über den Anschlag, über den Täter zu folgen, verirre mich aber immer wieder im Dickicht der Widersprüche. Ein Kumpel von Amri erzählt dies – ein anderer jenes. Einmal fiel Anis Amri durch Drogenhandel im Görlitzer Park auf, nahm selber Drogen und trank Alkohol, lebte ein „westliches Leben“. In anderen Berichten war er fromm, ging in die Moschee, traf sich mit Salafisten. Wurde er „turbo-radikalisiert“? – eine gern genutzte Definition des Hobby-Psychologen und anscheinend unabsetzbaren NRW-Innenministers Ralf Jäger. War er Informant der Sicherheitsbehörden? Nach „Spiegel“-Informationen schließt das Innenministerium dies aus. Allerdings spielte der Verfassungsschutz in dem Fall eine größere Rolle als bislang bekannt, wird berichtet. Ja, was denn nun? – Alle bisherigen Täter  gleichen sich jedoch in folgendem: Alle hinterlassen Ausweispapiere, die später entdeckt werden, alle waren der Polizei schon vorher als kriminell bekannt, und alle wurden getötet. Ein Toter kann nicht vor Gericht gestellt werden und aussagen.

Die Geschichten passen ansonsten vorne und hinten nicht zusammen. Abstruse Behauptungen von Presse und Politik setzen Ängste frei und werfen Fragen auf. Das ist jedem Hobby-Psychologen klar. Nur der Politik anscheinend nicht, die uns stattdessen erzählt: „Ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern.“

Abschließende Gedanken

Demokratie ist nicht wirklich die Staatsform, die den Eliten gefallen kann. Schon seit mehr als einem Jahrhundert sind Psychologen, Politikwissenschaftler und Historiker – vor allem in den USA und oft von Elite-Universitäten kommend – deshalb dabei, Mechanismen der Kontrolle zu erdenken, die dem Bürger dennoch das Gefühl geben sollen, in einer wahren Demokratie zu leben. Edward Bernays, eine Neffe Sigmund Freuds, veröffentliche dazu 1928 das heute noch als Standardwerk geltende Buch „Propaganda„. Ein Zitat:

„Die bewusste und intelligente Manipulation der organisierten Gewohnheiten und Meinungen der Massen ist ein wichtiges Element in der demokratischen Gesellschaft. Wer die ungesehenen Gesellschaftsmechanismen manipuliert, bildet eine unsichtbare Regierung, welche die wahre Herrschermacht unseres Landes ist. Wir werden regiert, unser Verstand geformt, unsere Geschmäcker gebildet, unsere Ideen größtenteils von Männern suggeriert, von denen wir nie gehört haben. Dies ist ein logisches Ergebnis der Art, wie unsere demokratische Gesellschaft organisiert ist.“

Erstaunlicherweise wird die repräsentative Demokratie auch von vielen Bürgern vehement verteidigt, was vermuten lässt, dass es ihren Verfechtern schon gelungen ist, Vorstellungen von möglichen Formen der direkten Demokratie – wie z.B. Volksabstimmungen – aus den Köpfen zu vertreiben. Und schon Goethe hat gewusst:

„Wenn eine Seite nun besonders hervortritt, sich der Menge bemächtigt und in dem Grade triumphiert, dass die entgegengesetzte sich in die Enge zurückziehen und für den Augenblick im Stillen verbergen muss, so nennt man jenes Übergewicht den Zeitgeist, der denn auch eine Zeitlang sein Wesen treibt.“

„Ach, du schläfst schon? Wache gut auf, mein Freund!
Schon läuft der Strom in den Umzäunungen, und die Posten sind aufgestellt.

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid misstrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für
euch erwerben zu müssen.“

(Günter Eich)