Tichys Einblick
Das importierte Balkan-Problem

NRW-Kommunalministerin wittert Demokratieverdruss wegen EU-Binnenmigration

Jahrelang haben wir unseren Blick auf die EU-Außengrenzen gerichtet, weil dem deutschen Sozialsystem von dort Ungemach zu drohen schien. Das bleibt so. Aber auch innerhalb der EU gibt es ähnliche Phänomene, etwa seit Bulgaren und Rumänen die Freizügigkeit erhielten.

Ina Scharrenbach, CDU, NRW-Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung

IMAGO / Sven Simon

Noch immer klagen deutsche Kommunen über Wohnungsnot durch die neuen Flüchtlinge aus der Ukraine, etwa in Unna im Herzen Westfalens – auch weil sie mangels einer zentralen Registrierung durch das Innenministerium oft nicht wissen, was ihnen in dieser Hinsicht bevorsteht. Aber die Raumnot der Kommunen kam nicht über Nacht. Schon vor dem Ukraine-Krieg waren längst alle kommunalen Unterkünfte gut oder gar voll belegt.

Die Jahre seit 2012 waren von einer beständigen Migrationskrise geprägt, deren Folgen man heute fast überall im Land spüren kann. Auch die nun festgestellte Wohnungsnot hat sich über Jahre hinweg schrittweise aufgebaut. Heute ist das Land schon fast überfüllt, zumindest in den größeren Städten, wo es langsam eng, bisweilen ungemütlich wird. Auch sonst treten die angesammelten Folgen und Probleme dieser langen Krise zu Tage – und neue kommen hinzu.

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Von einer „Sozialhilfenot“ war in all diesen Jahren dennoch kaum die Rede, obwohl doch die Mehrheit der Asylzuwanderer bis heute vor allem ins bundesdeutsche Sozialsystem eingewandert ist. Es lag wohl daran, dass für diese Kosten meistenteils der Bund aufkam. Den Kommunen drohte hier also nichts – außer zusätzlichen Einzelhandelseinnahmen. Nun scheint einer Landesministerin das Problem doch aufgefallen zu sein, wenn auch spät und aus unklarem Grund.

Es geht um die EU-Freizügigkeit für bulgarische und rumänische Staatsbürger, die immer wieder auf die eine oder andere Weise in die Schlagzeilen gerät. Tatsächlich lässt sich auch statistisch belegen, dass Rumänen und Bulgaren schlechter am deutschen Arbeitsmarkt abschneiden als andere Osteuropäer. Dass ihre Einwanderung begrüßt wird, kann wohl nur an den Partikularinteressen einzelner Branchen liegen. Oder daran, dass auch viele Ärzte aus Rumänien nach Deutschland kamen – laut der FAZ geht es um 5.000 Mediziner, die Deutschland dem armen Balkanland abspenstig gemacht hat.

Sind die Zustände aber wirklich so unproblematisch, wie von Peter Carstens in der FAZ am Jahresende dargestellt?  Den vermutlich ausschlaggebenden Punkt spricht er einmal im Vorbeigehen und dann wieder am Ende an: Die schlecht integrierten Bulgaren und Rumänen gehören meist zur Minderheit der Roma und Sinti. Tatsächlich bereitet die Ansiedlung dieser Minderheit oft Probleme – für sie selbst, aber auch für andere. Immer wieder ist von der Anmeldung von Kleinstgewerben die Rede, die vor allem den Zweck haben, sich das Kindergeld des deutschen Staates zu sichern.

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Wenn die Situation also auch kleingeredet wird, dann hat sich nun eine Landesministerin entschlossen, sie etwas größer aufzuhängen. In Nordrhein-Westfalen brachte der vorvergangene Sonntag zwar einen relativen Wahlerfolg der regierenden CDU, allerdings zum Preis einer äußerst niedrigen Wahlbeteiligung, die zum Beispiel in Gelsenkirchen auf 44,4 Prozent herabsank. Die amtierende Heimat-, Kommunal- und Bauministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Ina Scharrenbach (CDU), nimmt solche Ergebnisse offenbar als Alarmzeichen. Laut einem WeltInterview wittert sie „Demokratieverdruss“ und begründet damit ihre Pläne zur Eindämmung der Armutszuwanderung aus Bulgarien und Rumänien.

Die sehr spezielle, prekäre Lage auf dem NRW-Wohnungsmarkt und die angespannte Lage in den Kommunen aufgrund einer weiteren Migrationswelle konnte der Landesministerin dann doch nicht entgehen. Über die sozialen Probleme, die die steigende Mobilität bulgarischer und rumänischer Staatsbürger in Richtung Deutschland erzeugt, berichten Medien dabei schon seit 2019, und zwar genau mit Verweis auf Gelsenkirchen, Duisburg und Dortmund. Die Reaktion der Landesregierung kann man also alles nennen, nur nicht schnellfüßig. Erst die niedrige Wahlbeteiligung bei den jüngsten Landtagswahlen hat die noch CDU-geführte Landesregierung aufschrecken lassen. Das gab Scharrenbach schon am Samstag in der WAZ indirekt zu.

Die EU-Kommission glaubte nicht an eine Zunahme der Binnenmigration

Die beiden Balkanländer Bulgarien und Rumänien profitieren seit 2014 von der vollen Freizügigkeit innerhalb der EU. In der Folge vervielfachte sich die jährliche Zuwanderung bulgarischer und rumänischer Staatsbürger, obwohl die EU-Kommission 2014 davon ausging, dass schon alle da waren, die kommen wollten: „…  it is unlikely that there will be any major increase“.

Doch dem war nicht so, jedenfalls nicht in Deutschland. Kamen 2011 noch 99.000 Zuwanderer aus den beiden Ländern in die Bundesrepublik, waren es 2018 schon 263.000. Inzwischen machen die beiden Nationalitäten mehr als 40 Prozent der EU-Zuwanderer in Deutschland aus, bei den Kindern unter 16 Jahren ergibt sich ein noch höherer Anteil von um die 50 Prozent. Das Bundesland Nordrhein-Westfalen ist besonders belastet, zum Beispiel weil im Ruhrgebiet – so Scharrenbach im Gespräch mit der Welt – noch viel „Schlichtwohnungsbau“ in der Gegend herumsteht, den die Besitzer nicht sanieren und dennoch zu überteuerten Preisen an die neuen Bewohner vermieten.

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Aber wenn man ohnehin Wohnungsgeld beantragt, machen einem auch teure Mieten nichts mehr aus. Zahlen tut in diesem Fall die Kommune, was Scharrenbachs Reformbemühungen erklären könnte. Die Probleme gehen aber darüber hinaus. Denn bei Integration von Neubürgern denkt man gemeinhin an die sprachliche, kulturelle, nicht zuletzt die wirtschaftliche Integration ins Arbeitsleben – nicht an jene ins Sozialsystem. Allerdings gibt es auch dafür Berater – etwa in Berlin im Rahmen des AWO-Migrationssozialdienstes –, die Migranten gegen Gebühr bei Amtsgängen helfen und so zumindest diesen Schritt in die bundesrepublikanische Wirklichkeit erleichtern, aber auch über die Diskriminierung der bulgarischen und rumänischen Roma und Sinti klagen.

Die Zahl der in NRW lebenden Bulgaren und Rumänen hat sich von 2013 bis 2021 mehr als verdreifacht. Knapp die Hälfte der Zuwanderer aus beiden Ländern leben heute in NRW. Da ist sicher viel Volatilität, die aber auch kein gutes Licht auf die Sache wirft: Aus Berlin ist ein Geschäftsmodell bekannt, bei dem Menschen aus Moldawien (wiederum meist Roma und Sinti) bei den Behörden vorstellig wurden, um Asyl zu beantragen und diverse „Begrüßungsgelder“ in Empfang zu nehmen. Sie wussten, dass sie nicht auf Dauer bleiben würden. Ihre Reise hatte sich auch so gelohnt.

Die Landesministerin hat schon den nächsten Erweiterungsschritt im Sinn

Was schlägt die Ministerin also vor und welchen Sinn ergeben ihre Vorschläge? Zum einen will Scharrenbach anscheinend Geld in die Hand nehmen, um den Rückbau leerstehender Immobilien zu organisieren, etwa in Gelsenkirchen-West, angeblich um dort Platz für neue Wohnungen zu schaffen. Diesen Umbau verfallender Stadtteile sieht Scharrenbach als einen „Beitrag zur Demokratiefestigkeit“. In Gelsenkirchen konnte auch die AfD dieses Mal nicht mehr im selben Ausmaß Nichtwähler mobilisieren wie bei anderen Wahlen, sie verlor von 14,5 auf 10,4 Prozent. Da sieht vielleicht auch Scharrenbach die Chance gekommen, auf ihre Art für „Demokratie“ zu werben.

Und eigentlich ist der Wahlkampf ja vorbei. Aber Scharrenbach, die bei der Wahl einen Dämpfer bekam und kein Landtagsmandat erringen konnte, versteht plötzlich die Welt nicht mehr: Warum können sich EU-Zuwanderer drei Monate Zeit lassen bei der Neuanmeldung, Deutsche aber nur 14 Tage? Die Ministerin hätte das gerne vom Bund geändert – just in dem Moment, in dem ihre Partei die Regierungsverantwortung dort nach 16 Jahren verloren hat.

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Daneben müsse man „genau auf die Freizügigkeitsbedingungen“ schauen und dann „darauf achten, dass die Mitgliedstaaten sie auch anwenden“. Ja, sie will „präventiv“ prüfen lassen, ob die Bedingungen für Freizügigkeit vorliegen, bevor ein Land in das System aufgenommen wird. Aber dieses Kind dürfte schon jetzt in den Brunnen gefallen sein. Bulgarien und Rumänien haben nach einer Übergangszeit die vollständige Freizügigkeit für ihre Arbeitnehmer erhalten, und diese lässt sich nicht einfach so wieder entziehen. Scharrenbachs Formulierungen klingen eher nach dem Problem als nach der Lösung. Sie fordert „erhöhte Kontrolldichten“, was beim Thema Einwanderung immer sehr konservativ anmutet, aber eigentlich gar nichts bewirkt, solange man das Recht nicht anpasst.

Strategisch und „geopolitisch“ denkt die Noch-Ministerin sogar expansiv weiter, nämlich an die Aufnahme des Westbalkans in die EU. Dazu könnten die Freizügigkeitsregeln dann wirklich renoviert werden, um ein allzu großes Durcheinander zu vermeiden. Sicher ist das aber wohl nicht.

Als weiterer Grund für den verstärkten Andrang auf viele westdeutsche Kommunen wird übrigens eine Gesetzesänderung in den Niederlanden angegeben, die es Arbeitsmigranten aus Bulgarien und Rumänien schwerer macht, im westlichen Nachbarland Fuß zu fassen. Merkwürdigerweise scheint ein solches Gesetz in Den Haag machbar, in Deutschland aber ganz unmöglich zu sein. Daneben blockierte der niederländische Außenminister Stef Blok erneut den Schengen-Beitritt Bulgariens – wegen Korruption und weil man sich als Voraussetzung zunächst „kompromisslose Grenz- und Einreisekontrollen“ von dem Land wünscht. Es ist wie immer: Andere Länder blicken konsequent auf ihre Interessen, in Deutschland achtet man auf die Einhaltung von EU-Regeln.

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