Tichys Einblick
Ene mene muh und raus bist du

Last exit: CDU

Für die CDU ist der Tag der Entscheidung gekommen. Es reicht bei weitem nicht, heute für die Zeit nach Merkel zu planen, die Zeit nach Merkel muss heute beginnen. Geschieht das nicht, wird es nach Merkel keine CDU als Volkspartei mehr geben.

© Ralf Orlowski/Getty Images

Es gibt Tage der Entscheidung. Die Kunst besteht darin, sie zu erkennen. Die historische Erfahrung besagt, dass Entscheidungen selten zu früh, meistens zu spät getroffen werden. Selbst den letzten Zauderer im Parteiapparat der CDU dürfte im Wahlkampf 2017 klar geworden sein, dass der Merkelismus am Ende ist. Doch in spätbyzantinischer Weise versucht die Führung der CDU diese Einsicht zu verdrängen und setzt auf einen etwas angegrauten Triumphalismus. Die Wirklichkeit wird zu einem Bündel von fake news erklärt, die von finsteren Verschwörern, von der AfD, von Putin, von den Marsmännchen erfunden werden. Dagegen setzt man nicht auf Fakten, sondern auf Phrasen.

So wollte Peter Altmaier noch vor Stunden in seiner Glaskugel erkannt haben, dass sich die Bevölkerung Angela Merkel als Kanzlerin wünscht. Und dieser mystische Wunsch der geheimnisvollen Bevölkerung schiebt für Altmaier alle Tatsachen zur Seite. Nichts, rein gar nichts besagt gegen diesen allgemeinen Wunsch das schlechte Verhandlungsergebnis der CDU. Den Wunsch der Bevölkerung berührt weder, dass die Schlüsselministerien an die SPD gehen, noch, dass die Europa-Präambel des Koalitionsvertrages eine französische, der übrige Text eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Der CDU-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein bestätigt das Desaster ungewollt, wenn er im Interview gute Stimmung zu machen versucht: „Der Koalitionsvertrag trägt eindeutig auch die Handschrift der CDU.“ Die Formulierung „eindeutig auch“, sagt alles, heißt: semantisch haben wir uns auch ein wenig durchgesetzt.

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Der große Wahlverlierer hingegen kann sein Glück kaum fassen, als er plötzlich zum Wahlsieger wird, so dass der SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sich verwundert die Augen reibt: „Einen Tag länger – und die hätten uns auch noch das Kanzleramt gegeben.“ Spott und Staunen wettstreiten in diesem Statement miteinander. Allerdings wird sich dieser Sieg als ein Pyrrhussieg für die SPD erweisen (noch so ein Sieg – und sie ist verloren). Denn beide Volksparteien sind in heftige Turbulenzen geraten, mehr noch, sie beschädigen einander, nicht indem sie sich bekämpfen, sondern durch ihre eigene Instabilität als Volksparteien, denn wie können die Volksparteien Volksparteien bleiben, wenn sie den Begriff des Volkes aufgeben. Ihr größtes Problem besteht darin, dass sie nicht mehr wissen, für wen sie Politik machen. Die Addition von Minderheitenrechten ergibt kein neues Mehrheitsrecht und werden diese Rechte auf Kosten der Mehrheit durchgesetzt, werden auf Dauer auch die durchgesetzten Minderheitenrechte in Frage gestellt.

Schaut man auf die letzten Tage in Berlin, dann hat man den Eindruck eines vorgezogenen Karnevals. Mit dem Posten des Außenministers wird umgegangen wie in einer Comedy: Schulz soll doch nicht, Gabriel darf nicht mehr, vielleicht macht es dann doch Heiko Maas oder Katharina Barley oder vielleicht Ralf Stegner oder der Ortsvorsteher von Wanne-Eickel, weil der auch schon mal geflogen ist. Die SPD fühlt sich als Sieger, doch kommt sie vor lauter Grabenkämpfe nicht zum Feiern. Sind es eigentlich Gräben oder nur Schützenlöcher?

Seiner Partei ruft Friedrich Merz die Warnung zu: „Wenn die CDU diese Demütigung auch noch hinnimmt, dann hat sie sich selbst aufgegeben.“ Und meinte damit den Koalitionsvertrag.

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In einem peinlich-panegyrischen Artikel hatte der FAZ-Redakteur Patrick Bahners einmal geschrieben: „Auf die Kanzlerin kommt es an.“ Und weil es in dem ganzen Wirrwarr nun tatsächlich auf diejenige ankommt, die wieder Kanzlerin werden will, wurde es Zeit, dass sie via ZDF der Bevölkerung, die sie als Kanzlerin wünscht, Beruhigendes und Erbauliches sagt. Schließlich verfügt die Bevölkerung wahrscheinlich sogar noch über weniger Informationen als die Mitglieder der CDU. Vorstandsmitglied Julia Klöckner hatte nämlich die Weigerung, es der SPD gleich zu tun, über den Koalitionsvertrag in einer Mitgliederbefragung abzustimmen, damit begründet: sie würde keinem Mitglied zumuten wollen, einmal Daumen hoch, einmal Daumen runter, ohne all diese Informationen, zu haben „die wir ja hatten.“ Soviel zum Respekt den eigenen Mitgliedern gegenüber, denen sie damit bescheinigte, nicht in der Lager zu sein, den Koalitionsvertrag zu lesen.

Da nicht nur die CDU Mitglieder, sondern auch die Bevölkerung „diese Informationen“ nicht hat, trat Angela Merkel gestern vor die Kameras, um zu erklären, dass die CDU zwar das Finanzministerium verloren hat und damit die SPD die Schlüsselministerien leitet, dafür könne man aber als Sieg verbuchen, dass die CDU das Staatsministerium für Integration ins Kanzleramt holt. Nach der von Angela Merkel verantworteten Politik der offenen Grenzen und der unbegrenzten Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme ist das nüchtern betrachtet, wenig beruhigend. Aber vielleicht schaffen wir das ja diesmal, denn schließlich kann man ja mit den Ministerien, die die CDU führen wird, auch gute Politik machen, findet die amtierende Bundeskanzlerin. Das sollte man allerdings in jedem Ministerium machen, weshalb dieses Statement nicht nur eine Plattitüde, sondern auch die Frage nicht beantwortet, ob die CDU sich die Schlüsselministerien hätte abhandeln lassen dürfen.

Man kann die Begründung der CDU-Vorsitzenden für den Verlust des Finanzministeriums als Spitze gegen den Finanzstaatssekretär Jens Spahn auffassen, wenn sie ins Feld führt, dass man sich damals gegen die SPD durchgesetzt hatte, weil man ein Schwergewicht wie Wolfgang Schäuble besaß. Nur ist Schäuble weiter an Bord, allerdings abgeschoben auf den Posten des Bundestagspräsidenten. Hätte man ihn nicht überzeugen können, weiterzumachen, wenigstens eine halbe Amtszeit, um dann Spahn nachrücken zu lassen? Oder hat man es nicht gewollt?

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Zumindest bestand eine erste Amtshandlung des Interimsfinanzministers Peter Altmaier darin, in Brüssel den Widerstand Deutschlands gegen die Europäisierung der Bankeneinlagensicherung aufzugeben und auch dem Umbau des ESM zum europäischen Währungsfonds zuzustimmen. Letzteres hatte Schäuble zwar auch angeregt, doch mit dem entscheidenden Unterschied, dass die europäischen Staaten Mitsprache im Währungsfonds besitzen sollten. Altmaier hingegen befürwortet die schwammige Formulierung, dass der Währungsfonds in „europäisches Recht“ überführt wird. Das bedeutet erstens, dass die europäischen Staaten keine Mitsprache mehr haben, sondern er von der Brüsseler Bürokratie verwaltet wird, und zweitens, dass damit das Haushaltsrecht des Parlaments den Todesstoß erhält. Nach Altmaiers Erklärungen, die sich deutlich von Schäubles Finanzpolitik verabschieden, spielt es in der Tat keine Rolle mehr, ob ein CDU- oder ein SPD- Finanzminister immer mehr deutsche Steuergelder nach Brüssel transferiert.

Es lohnt nicht, sich mit dem Interview der Kanzlerin auseinanderzusetzen, denn Neues war nicht zu hören und die Botschaft nur einmal mehr verkündet, dass sie Kanzlerin bleiben möchte. Wer will, kann in der Art von Kanzleramtsastrologen in spätsowjetischer Weise mit der Lupe in Merkels Worten nach einer neuen Facette oder einer neuen Wendung suchen. Das Ziel jedoch, dass aus dem Koalitionsvertrag spricht, lautet, schrittweise immer mehr Kompetenzen von Berlin nach Brüssel zu verlagern. Soll die Regierung Merkel IV die Regierung der geordneten Übergabe wichtiger Kompetenzen und wesentlicher Bereiche des Haushalts an die EU-Kommission werden? Ist ihre Aufgabe eine Transitorische? Steht es so schlimm?

Es rumort allenthalben
Aufstand gegen Merkel?
Man muss kein Prophet sein, um festzustellen, dass Deutschland unruhigen Zeiten entgegen geht. Das Land befindet sich ja schon mittendrin. Die holprigen Koalitionsverhandlungen zeigen zweierlei, erstens wie sehr die Wahrnehmung von Spitzenpolitikern und vielen Bürgern auf die Wirklichkeit differiert, und zweitens wie abgehoben die politische Klasse inzwischen agiert. Für die CDU ist der Tag der Entscheidung gekommen. Es reicht bei weitem nicht, heute für die Zeit nach Merkel zu planen, die Zeit nach Merkel muss heute beginnen. Geschieht das nicht, wird es nach Merkel keine CDU als Volkspartei mehr geben. Die Idee, die von der Bundeskanzlerin nicht sehr euphorisch im Interview vorgetragen wurde, dass in den nächsten vier Jahren sich ihr Nachfolger profilieren könne, kommt eine Amtszeit zu spät. Dieser Zug ist abgefahren.

Aus der Geschichte kennen wir den Moment, in dem die Destabilisierung, die Krise, der Autoritätsverlust der Regierungen dazu führt, dass die Regierenden nicht mehr agieren, sondern nur noch reagieren, weil die Veränderung der Wirklichkeit schneller vorangeht, als sie in der Lage sind, damit umzugehen. Frei nach Franz Kafka: Sie laufen den Ereignissen hinter her, wie ein Anfänger im Eislaufen, der an einer Stelle übt, an der es verboten ist. Kafkaesk ist im Übrigen auch die Situation der CDU. Nur sie kann Änderung bewirken, doch dass muss die Partei auch wollen. Die Flammenschrift jedenfalls leuchtet von der Wand.