Es gibt Tage der Entscheidung. Die Kunst besteht darin, sie zu erkennen. Die historische Erfahrung besagt, dass Entscheidungen selten zu früh, meistens zu spät getroffen werden. Selbst den letzten Zauderer im Parteiapparat der CDU dürfte im Wahlkampf 2017 klar geworden sein, dass der Merkelismus am Ende ist. Doch in spätbyzantinischer Weise versucht die Führung der CDU diese Einsicht zu verdrängen und setzt auf einen etwas angegrauten Triumphalismus. Die Wirklichkeit wird zu einem Bündel von fake news erklärt, die von finsteren Verschwörern, von der AfD, von Putin, von den Marsmännchen erfunden werden. Dagegen setzt man nicht auf Fakten, sondern auf Phrasen.
So wollte Peter Altmaier noch vor Stunden in seiner Glaskugel erkannt haben, dass sich die Bevölkerung Angela Merkel als Kanzlerin wünscht. Und dieser mystische Wunsch der geheimnisvollen Bevölkerung schiebt für Altmaier alle Tatsachen zur Seite. Nichts, rein gar nichts besagt gegen diesen allgemeinen Wunsch das schlechte Verhandlungsergebnis der CDU. Den Wunsch der Bevölkerung berührt weder, dass die Schlüsselministerien an die SPD gehen, noch, dass die Europa-Präambel des Koalitionsvertrages eine französische, der übrige Text eine sozialdemokratische Handschrift trägt. Der CDU-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein bestätigt das Desaster ungewollt, wenn er im Interview gute Stimmung zu machen versucht: „Der Koalitionsvertrag trägt eindeutig auch die Handschrift der CDU.“ Die Formulierung „eindeutig auch“, sagt alles, heißt: semantisch haben wir uns auch ein wenig durchgesetzt.
Schaut man auf die letzten Tage in Berlin, dann hat man den Eindruck eines vorgezogenen Karnevals. Mit dem Posten des Außenministers wird umgegangen wie in einer Comedy: Schulz soll doch nicht, Gabriel darf nicht mehr, vielleicht macht es dann doch Heiko Maas oder Katharina Barley oder vielleicht Ralf Stegner oder der Ortsvorsteher von Wanne-Eickel, weil der auch schon mal geflogen ist. Die SPD fühlt sich als Sieger, doch kommt sie vor lauter Grabenkämpfe nicht zum Feiern. Sind es eigentlich Gräben oder nur Schützenlöcher?
Seiner Partei ruft Friedrich Merz die Warnung zu: „Wenn die CDU diese Demütigung auch noch hinnimmt, dann hat sie sich selbst aufgegeben.“ Und meinte damit den Koalitionsvertrag.
Da nicht nur die CDU Mitglieder, sondern auch die Bevölkerung „diese Informationen“ nicht hat, trat Angela Merkel gestern vor die Kameras, um zu erklären, dass die CDU zwar das Finanzministerium verloren hat und damit die SPD die Schlüsselministerien leitet, dafür könne man aber als Sieg verbuchen, dass die CDU das Staatsministerium für Integration ins Kanzleramt holt. Nach der von Angela Merkel verantworteten Politik der offenen Grenzen und der unbegrenzten Einwanderung in die deutschen Sozialsysteme ist das nüchtern betrachtet, wenig beruhigend. Aber vielleicht schaffen wir das ja diesmal, denn schließlich kann man ja mit den Ministerien, die die CDU führen wird, auch gute Politik machen, findet die amtierende Bundeskanzlerin. Das sollte man allerdings in jedem Ministerium machen, weshalb dieses Statement nicht nur eine Plattitüde, sondern auch die Frage nicht beantwortet, ob die CDU sich die Schlüsselministerien hätte abhandeln lassen dürfen.
Man kann die Begründung der CDU-Vorsitzenden für den Verlust des Finanzministeriums als Spitze gegen den Finanzstaatssekretär Jens Spahn auffassen, wenn sie ins Feld führt, dass man sich damals gegen die SPD durchgesetzt hatte, weil man ein Schwergewicht wie Wolfgang Schäuble besaß. Nur ist Schäuble weiter an Bord, allerdings abgeschoben auf den Posten des Bundestagspräsidenten. Hätte man ihn nicht überzeugen können, weiterzumachen, wenigstens eine halbe Amtszeit, um dann Spahn nachrücken zu lassen? Oder hat man es nicht gewollt?
Es lohnt nicht, sich mit dem Interview der Kanzlerin auseinanderzusetzen, denn Neues war nicht zu hören und die Botschaft nur einmal mehr verkündet, dass sie Kanzlerin bleiben möchte. Wer will, kann in der Art von Kanzleramtsastrologen in spätsowjetischer Weise mit der Lupe in Merkels Worten nach einer neuen Facette oder einer neuen Wendung suchen. Das Ziel jedoch, dass aus dem Koalitionsvertrag spricht, lautet, schrittweise immer mehr Kompetenzen von Berlin nach Brüssel zu verlagern. Soll die Regierung Merkel IV die Regierung der geordneten Übergabe wichtiger Kompetenzen und wesentlicher Bereiche des Haushalts an die EU-Kommission werden? Ist ihre Aufgabe eine Transitorische? Steht es so schlimm?
Aus der Geschichte kennen wir den Moment, in dem die Destabilisierung, die Krise, der Autoritätsverlust der Regierungen dazu führt, dass die Regierenden nicht mehr agieren, sondern nur noch reagieren, weil die Veränderung der Wirklichkeit schneller vorangeht, als sie in der Lage sind, damit umzugehen. Frei nach Franz Kafka: Sie laufen den Ereignissen hinter her, wie ein Anfänger im Eislaufen, der an einer Stelle übt, an der es verboten ist. Kafkaesk ist im Übrigen auch die Situation der CDU. Nur sie kann Änderung bewirken, doch dass muss die Partei auch wollen. Die Flammenschrift jedenfalls leuchtet von der Wand.