Tichys Einblick
Markt und Ordnung in der Minderheit

Keine Erneuerung Europas, kein Ende der ökonomischen und politischen Problemverschleppung

Wird das Wählerpotential struktureller Minderheiten erschlossen und machtpolitisch in Stellung gebracht, dann können strukturelle Minderheiten die Beendigung von ökonomischen und politischen Problemverschleppungen bewirken. Von Norbert F. Tofall

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Die umfangreichen Maßnahmen zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise in Deutschland, in anderen europäischen Ländern und auf EU-Ebene haben eines gemeinsam: Sie sind nicht zukunftsorientiert, sondern sollen bestehende Strukturen und Unternehmen erhalten; gleichzeitig werden durch sie dysfunktionale politische Institutionen verfestigt. Die in diesem Frühjahr ergriffenen, kurzfristig durchaus sinnvollen Maßnahmen wie Hilfskredite für kleine und mittlere Unternehmen, der Rettungsfonds für die Großindustrie, das Kurzarbeitergeld und die Aussetzung der Insolvenzanmeldung sowie einige geldpolitische Maßnahmen der Zentralbanken mutieren, je länger sie dauern, insgesamt zu einem weiteren Ausbau des Staatseinflusses, der nach der unbereinigten Finanzkrise von 2008 ohnehin enorm zugenommen hatte und der einer der Hauptgründe für geringes Wachstum und Investitionen darstellt. Die ökonomischen und politischen Problemverschleppungen der letzten 12 Jahre werden dadurch nicht nur fortgesetzt, sondern gesteigert. Ein Ausstieg aus dieser zukunfts- und wachstumsfeindlichen Politik ist derzeit weder in EU-Ländern wie Frankreich, Spanien, Italien oder selbst Deutschland noch auf der Ebene der EU absehbar.

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Und das ist kein Zufall. Denn wenn selbst in Deutschland, das im Vergleich zu anderen EU-Staaten wie Frankreich oder Italien immer als ordnungspolitisch orientiert beurteilt wurde, 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung antiliberale Ideen verinnerlicht haben und sich weder implizit noch explizit zum klassisch-liberalen Ideenhorizont bekennen, dann bedienen Regierungen diese 75 bis 80 Prozent der Bevölkerung, und das gilt besonders in Krisenzeiten. Das ist auch vollkommen legitim und in demokratischen Gemeinwesen naheliegend. Polit-strategisch bedeutsam ist, dass sich dieses Verhältnis von 75 bis 80 Prozent zu 20 bis 25 Prozent konsequent marktwirtschaftlich und klassisch-liberal orientierten Bevölkerungsgruppen weder kurz- noch mittelfristig ändern lässt. Die 20 bis 25 Prozent marktwirtschaftlich und ordnungspolitisch orientierte Bevölkerungsgruppe ist auf absehbare Zeit eine strukturelle Minderheit.

Der Nobelpreisträger Douglass C. North spricht von „Shared Mental Models“, von „gemeinsamen mentalen Modellen“, die neben einer Theorie der Eigentumsrechte und einer Theorie des Staates in einer Theorie der Ideologie zu berücksichtigen sind, um institutionellen Wandel in Gesellschaften erklären zu können. Diese „Shared Mental Models“ sind sehr langlebig und sind von Politikern kurzfristig nicht zu ändern.

Der seit den fünfziger Jahren in den westlichen Gesellschaften zu beobachtende Kulturkampf gegen bürgerlich liberale Institutionen, der die „Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Sozialstaat“ (Wolfgang Abendroth) zum Ziel hatte und der heute auf die supranationale Ebene eines „europäischen Sozialstaats“ (Jürgen Habermas) gehoben werden soll und der seinerseits einen europäischen Superstaat voraussetzt, kann nicht bis zur nächsten oder übernächsten Bundestagswahl zurückgedrängt werden. Bei diesem Kulturkampf handelt es sich um Prozesse kultureller Evolution, die 25 bis 30 Jahre und vielleicht auch länger kulturelle Veränderungen bewirken, eine Evolution, in der sich neue dominierende „Shared Mental Models“ bilden und behaupten.

Doch besteht angesichts des dominierenden Shared Mental Model von 75 bis 80 Prozent in den europäischen Gesellschaften überhaupt eine Aussicht, die derzeitige Politik der fortgesetzten ökonomischen und politischen Problemverschleppungen durch eine konsequent marktwirtschaftlich und ordnungspolitisch ausgerichtete Politik zu beenden? Die Geschichte spricht dafür.

Zum einen hat der reale Problemdruck von ökonomischen und politischen Problemverschleppungen früher oder später oft dazu geführt, dass selbst Regierungen, deren Mitglieder zu der Gruppe der 75 bis 80 Prozent zu zählen sind, auf marktwirtschaftliche und ordnungspolitische Lösungen zurückgegriffen haben, weil sie aufgrund des realen ökonomischen Problemdrucks auf diese zurückgreifen mussten. Die Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung von Gerhard Schröder mag hier als Beispiel genügen. Zum anderen ist es polit-strategisch nie so, dass die Gruppe der 75 bis 80 Prozent einen geschlossenen und homogenen Block bildet.

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Diese 75 bis 80 Prozent verteilen sich auf verschiedene Parteien, die jeweils Bündnisse eingehen müssen, um politische Mehrheiten zu bilden. Daraus ergibt sich die Möglichkeit der 20 bis 25 Prozent marktwirtschaftlich und ordnungspolitisch orientierten Bevölkerungsgruppe, durch politische Bündnisse wesentliche Teile ihrer Vorstellungen durchzusetzen. In einem Mehrparteiensystem können 20 bis 25 Prozent Stimmenanteil in Bündnissen mit zwei Parteien, die jeweils 15 Prozent Stimmenanteil bei Wahlen erringen, über den Regierungschef sogar die Richtlinien der Politik bestimmen.

Das setzt jedoch voraus, dass die 20 bis 25 Prozent marktwirtschaftlich und ordnungspolitisch orientierte Bevölkerungsgruppe als Wählerpotential konsequent erschlossen wird. Selbst wenn sich diese Gruppe auf unterschiedliche Parteien verteilt, kann eine Partei mit 15 Prozent in den derzeitigen Mehrparteiensystemen von vier bis sieben oder mehr Parteien in einem Parlament praktische Wirkung entfalten. Eine strukturelle Minderheit muss keine machtlose Minderheit sein. Und werden die strukturellen Minderheiten in der EU über die Ländergrenzen hinweg erschlossen und machtpolitisch in Stellung gebracht, dann können strukturelle Minderheiten die jetzt verkrusteten und zu immer mehr Planwirtschaft und Zentralismus driftenden EU-Institutionen in eine andere Richtung drängen und Voraussetzungen für die Beendigung von ökonomischen und politischen Problemverschleppungen schaffen.

In Deutschland, aber auch in vielen anderen EU-Ländern, versagen jedoch selbst sich liberal nennende Parteien, das Potential der 20 bis 25 Prozent marktwirtschaftlich und ordnungspolitisch orientierten Bevölkerungsgruppe zu erschließen. Und europaweit wird dabei versagt, die jeweilige strukturelle Minderheit der einzelnen EU-Länder, wenn sie denn erschlossen und machtpolitisch in Stellung gebracht wird, zu verknüpfen. Im Gegenteil: Nach der letzten Europawahl hat sich die „liberale“ ALDE im EU-Parlament mit der Partei von Emmanuel Macron sogar zu einer gemeinsamen Fraktion zusammengeschlossen und damit jegliches marktwirtschaftliches und ordnungspolitisches Reformpotential de facto über Bord geworden. Eine Erneuerung Europas und eine Beendigung der seit 2008 aufgelaufenen ökonomischen und politischen Problemverschleppungen kann so leider nicht gelingen.


Dieser Beitrag wurde erstmals als Kommentar zu Wirtschaft und Politik
des Flossbach von Storch Research Institute veröffentlicht.

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