Tichys Einblick
Erziehen statt bestrafen

Kriminell und nicht strafmündig: Ein Kind mordet – und dann?

Kinder unter 14 Jahren sind in Deutschland nicht strafmündig. Das weiß eigentlich jeder. Aber so wirklich sicher, wie mit Kindern umgegangen wird, die eine Straftat begangen haben, ist sich kaum jemand. TE wollte Klarheit, durfte sich aber eher Beschönigungen anhören.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP)

IMAGO / IPON

Die Zahl der Kinder unter 14 Jahren, die Straftaten begehen, steigt, wie TE bereits berichtete. Darunter sind viele Gewaltverbrechen und sogar Mord und Vergewaltigungen. Wir haben uns gefragt: Was passiert mit Kindern, nachdem sie solche Straftaten begehen? Immerhin besagt das Strafgesetzbuch Paragraf 19: „Schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht vierzehn Jahre alt ist.“ Für Kinder unter 14 Jahren gibt es demnach keine rechtlichen Konsequenzen, also ist auch keine Inhaftierung möglich.

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So ganz ohne Konsequenzen kommen unter 14-Jährige allerdings nicht weg – oder? Wenn ein Kind eine Straftat begeht und die Polizei es aufgreift, dann muss es von seinen Erziehungsberechtigten abgeholt werden, erklärt die Plattform „Polizei für dich“. Kann niemand erreicht werden, übergibt die Polizei das Kind zu dessen Wohl beziehungsweise Schutz vorübergehend dem Jugendamt, beschreibt das Portal weiter.

Obwohl Kinder nicht strafmündig sind, erstatte die Polizei bei rechtswidrigen Taten Anzeige, wie ein Vertreter der Polizeipressestelle Hamburg gegenüber TE sagt: Ziel sei, aufzuklären, ob die Fürsorge- und Erziehungspflicht verletzt wurde, ob strafmündige Personen während der Tat dabei waren und zudem, um das Kind bei einer Anhörung mit den Tatvorwürfen zu konfrontieren und somit „Verhaltensänderungen“ zu bewirken. Außerdem ist das Ziel dieser Anzeige, „vormundschaftsgerichtliche und behördliche Maßnahmen“ anzuregen und „die Identität von Personen zur Wahrung zivilrechtlicher Ansprüche festzustellen“.

Auf Deutsch: Das Jugendamt einzuschalten und die Personalien des Kindes im Polizeisystem zu speichern. TE fragte die Polizei in Hamburg an, nachdem dort vergangenes Wochenende ein 14-Jähriger mit einem Messer einen Ladenbesitzer verletzt und auf seiner Flucht drei weitere Männer mit Pfefferspray angegriffen hat.

Wird ein Kind vor Gericht geladen, geschieht dies laut „Polizei für dich“ immer über den Erziehungsberechtigten oder den gesetzlichen Vertreter, da ein Kind kein „verantwortlicher Beschuldigter“ sein könne.

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Nach der Anhörung vor dem Jugendgericht schalten sich „in der Regel“ die Jugendämter ein, „falls sie nicht aus familiären oder sonstigen Gründen bereits in Kontakt mit der Familie waren“, sagt die Polizeiberaterin Christiane Honer gegenüber TE. Was „in der Regel“ bedeutet, konkretisiert sie nicht. Laut Honer muss die Gewalttat dann „aufgearbeitet“ werden. Zumeist würden die Betroffenen dafür aus den Familien genommen, betreut und in „anderen Familien oder Kliniken oder so“ untergebracht, führt sie weiter aus: „Die Kinder werden auf jeden Fall aus der Situation herausgenommen.“

„Kliniken oder so“ kann auch bedeuten, dass ein Kind für eine längere Zeit in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen wird: Das ist laut Honer der Fall, wenn „eine längere Prognose für deren Gefährlichkeit erhoben wird“. Dort würde dann der Gesundheitszustand überprüft.

Diese Maßnahmen passen auch zu einigen derer, die ein Sprecher des Bundesjustizministeriums auf Anfrage aufzählt. Diese Maßnahmen nimmt der Staat nach seinen Angaben in Betracht, wenn ein „erhebliches und wiederholtes delinquentes Verhalten von strafunmündigen Kindern“ stattfindet. Was „erheblich“ bedeutet, konkretisiert er nicht.

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Der Sprecher vom Justizministerium zählt folgende Maßnahmen auf: „Inobhutnahme des Kindes durch das Jugendamt; Unterbringung des Kindes in einem geschlossenen psychiatrischen Krankenhaus oder in einer geschlossenen Abteilung eines Heims oder eines solchen Krankenhauses; Anordnung der Inanspruchnahme einer kinderpsychiatrischen Behandlung, Anordnung von Kontakt- und Näherungsverbote zu strafmündigen Delinquenten; Gebote, Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Anspruch zu nehmen.“ Für Letzteres nennt er Familienhilfe, Heimerziehung, Vollzeitpflege, Erziehungsberatung und eine Erziehungsbeistandschaft als Beispiele.

Welche dieser Maßnahmen nach dem Jugendgesetzbuch getroffen wird, sei davon abhängig, welche Maßnahme aus Sicht des Gerichts und der Staatsanwaltschaft „erzieherisch erforderlich und sinnvoll“ seien, erklärte eine Sprecherin der Hamburger Staatsanwaltschaft gegenüber TE. Deswegen konnte wohl auch keiner der Befragten konkrete Maßnahmen nennen, die bei Kindern, die morden oder vergewaltigen, ergriffen werden.

Angeblich haben sich diese Maßnahmen „bewährt“, wie der Vertreter der Polizeipressestelle betont. Und auch der Sprecher des Bundesjustizministeriums meint: „Staatlichen Stellen stehen umfangreiche Handlungsmöglichkeiten zu Gebote, um delinquenten Verhalten von strafunmündigen Kindern entgegenzuwirken.“ Darum sind nach seinen Aussagen derzeit auch keine gesetzgeberischen Änderungen geplant.

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Im Gespräch mit all diesen Behörden wirkt es nicht so, als sähen diese in den steigenden Zahlen gewalttätiger Kinder ein Problem. Von der Polizei Hamburg heißt es beispielsweise: „Seien Sie sich gewiss: Jugenddelinquenz ist grundsätzlich ubiquitär und episodisch.“ Trotzdem überarbeite und entwickle die „Fachdienststelle für Prävention und Jugenddelinquenz“ derzeit mit der „Behörde für Schule und Berufsbildung“ das Konzept „Handeln gegen Jugendgewalt“.

Das bedeutet wohl: noch mehr Antigewalt-Programme. Zurzeit gibt es bereits unzählige von solchen, beispielsweise „Kurve Kriegen“, „Balu und du“, „fairplayer.manual“, „KlasseKinderSpiel“ oder das „Forumtheater“ von dem Verein „Wilde Bühne“. Solche Programme werden laut Polizeiberaterin Honer an Schulen oder über Vereine angeboten. Die scheinen aber alle nichts zu bringen, wie die Zahlen zeigen: Von 2020 bis zum letzten Jahr hat die Zahl tatverdächtiger Kinder unter 14 Jahren fast um die Hälfte zugenommen.

Aber auch das Bundesministerium für Jugend und Familie (BMFSFJ) schreibt auf ihrer Internetseite stolz: „Die Kriminalitäts- und Gewaltprävention bei Kindern und Jugendlichen hat sich in den letzten 20 Jahren qualitativ und quantitativ erheblich weiterentwickelt.“ Gleichzeitig geben sie aber auch zu, dass in Deutschland nur wenige hochwertige Evaluationsstudien vorlägen, die zeigen, welche Programme tatsächlich wirksam seien. Allgemein sei die Prävention aber Ländersache, wie Honer betont.

Insgesamt klingen die Ausführungen der Befragten eher beschönigend als realistisch. Deutlich wird jedenfalls, dass Kinder nach einer Straftat nicht vorrangig bestraft, sondern erzogen werden sollen.

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