Tichys Einblick
Interview Douglas Murray

„Ich sehe eine Gegenreaktion kommen“

Nach seinem Welterfolg „Der Selbstmord Europas“ setzt sich der Publizist Douglas Murray jetzt mit dem „Wahnsinn der Massen“ auseinander. Ein Gespräch, wie es dazu kommt, dass Menschen an unplausible Gerechtigkeitsvorstellungen glauben, und wie gefährlich das für unsere Gesellschaft ist

Tichys Einblick: Viele unserer Leser ver­ stehen die Welt nicht mehr, haben so­ gar das Gefühl, dass alle ein bisschen verrückt geworden sind. Ein falsches Wort kann berufliche Karrieren oder das Ansehen zerstören. Man gilt dann gleich als Nazi oder Rassist, homo­phob oder islamophob. Sind wir alle verrückt geworden? Herr Murray, Sie haben darüber ein Buch geschrieben. Sie nennen es „The Madness oft the Crowds“, „Der Wahnsinn der Massen“. Was verbirgt sich dahinter? 

Douglas Murray: Es passiert etwas, wo­ von wir noch gar nicht verstehen, wie tiefgreifend es ist. Wir bemerken aber die Symptome: das Bestreben, eine neue Metaphysik, ja eine neue Religion im Westen einzuführen. Eine Religi­on basierend auf Antirassismus, Anti­homophobie, Antitransphobie und Ähnlichem.

Eine neue Religion basierend auf Anti­seximus und Antirassismus?

"Der Wahnsinn der Massen"
Douglas Murray über die Diktatur der Minderheiten
Ja. Um zu demonstrieren, dass man eine gute Person ist, zeigt man jetzt, dass man ein Antisexist ist, ein Anti­homophober und Antitransphober. Ich erkläre in meinem Buch nicht nur, wie es dazu kommt und wie diese Vorstel­lung entsteht, sondern auch die prak­tischen Probleme, die dadurch entste­hen. Es gibt alle möglichen Gründe und Probleme, weshalb diese „Religion“ un­sere Gesellschaft durcheinanderbringt. Indem die „Social Justice Warriors“ (Krieger für soziale Gerechtigkeit) von uns verlangen, dass wir Dinge sagen oder glauben, die wir gar nicht sagen oder glauben können.

Sie sprechen von einer Religion.

Was ich beschreibe, trägt alle Merk­male einer Religion. Und die Fröm­migkeit ist da ein absolut zentraler Teil. Es gibt Gläubige und Ketzer, also Menschen, die sich weigern, die rich­tigen Dinge zu sagen oder die falschen Worte benutzen. Die dürfen verfolgt und bestraft werden. Das ist natür­ lich eine sehr tiefgreifende Forderung. Meiner Meinung nach haben viele Men­schen das so nicht kommen sehen. Oder aber sie dachten, sie könnten nur ein wenig mitmachen. Doch plötzlich be­merkt man, dass ständig weitere For­derungen gestellt werden, weshalb es auch unmöglich wird, alle zu erfüllen. Vor allem wenn man versucht, rational zu bleiben und seine Selbstachtung zu bewahren.

Religion braucht eine Gottheit, die man anbeten kann. Wer oder was ist dann diese neue Gottheit?

Die Forderungen selbst, die diese Men­schen aufstellen! Die Vorstellung, dass etwas Großes geschehen wird, wenn man genau das Richtige in genau der richtigen Reihenfolge tut. Dieser Glau­be entstand in den amerikanischen Universitäten und waberte in den ver­gangenen zehn Jahren zu uns herüber. Es ist also eine sehr junge Entwicklung. Man glaubt, dass die Gesellschaft am besten verstanden werden könnte, in­ dem man schaut, wer privilegiert ist und wer unterdrückt wird. Es wird der Eindruck vermittelt, dass Menschen zum Beispiel wegen ihres Geschlechts und ihrer sexuellen Orientierung un­terdrückt werden. Und das Ziel dieser in vielerlei Hinsicht unsinnigen Bewe­gung ist, dass wir all diese Unterdrü­ckungen irgendwie abstellen. Doch wir sind uns nicht wirklich im Klaren, was am Ende dabei herauskommen wird. Die „ewige Gerechtigkeit“, „Fairness auf der ganzen Welt“? Dies scheint je­denfalls die Kernforderung zu sein, die hinter alldem steht.

Aber das ist doch wundervoll, oder? Junge Menschen streben danach, eine bessere Welt zu erschaffen.

Vor allem die junge Generation, die mit den Folgen der Finanzkrise aufwächst, ist anfällig für den Glauben an ein System umfassender globaler Gerechtigkeit. Ihr eigenes Leben mag nicht so einfach zu verbessern sein, dann probieren sie es eben mit der Welt. Das kann und wird nur nicht funktionieren.

Was ist denn falsch daran, wenn man die Welt verbessern will?

Die alte und die neue Linke
Identitätsgerechtigkeit fragmentiert die Gesellschaft
Das hängt davon ab, ob man sie tatsächlich verbessert oder nicht doch verschlimmert. Nehmen Sie die vielen Ansprüche, die in Sachen Frauen- und Schwulengleichberechtigung gestellt werden. Die haben während des 20. Jahrhunderts exponentiell zugenommen, ähnlich einem Zug, der langsam in den Bahnhof einfährt. In Sachen Gleichberechtigung haben wir seitdem viel erreicht. Doch gleichzeitig gab dieser Zug in den vergangenen zehn Jahren noch einmal richtig Gas, schoss am Bahnsteig vorbei, durch die Absperrungen hindurch und in die Landschaft hinaus. Wie konnte es passieren, dass wir heute glauben, die Situation der Schwulen sei nie schlimmer gewesen als jetzt, die Rassendiskriminierung sei nie schlimmer gewesen? Weshalb werden unsere Gesellschaften als besonders transphobisch dargestellt? Als gäbe es einen unaufhörlichen Krieg gegen diese Minderheit in der Minderheit. Ich glaube, dass da eine Aufrüstung stattfindet: Die jeweiligen Minderheiten bewaffnen sich: die Frauen, die Homosexuellen und besonders die ethnischen Minderheiten. Für einen Krieg gegen etwas, was anscheinend das Problem ausmacht: die weiße, ältliche, patriotische, männliche Kultur.

Gegen Leute wie uns … Sie sprechen von Aufrüstung, Krieg und Bewaffnung. Wir sind jetzt also in kürzester Zeit von „die Weltverbessern“ zu „Krieg“ übergegangen. Wer forciert das?

Die Ursprünge dieser Bewegung, vor allem an amerikanischen Universitäten, sind bekannt. Ich nenne in meinem Buch auch Namen. Ein sehr schwaches und wirres Denken hat sich da in den vergangenen Jahren wie ein Krebsgeschwür ausgebreitet. Und das nicht nur in akademischen Kreisen, sondern auch in der Popkultur, in Hollywood, in der Musikindustrie und den Medien.

Die „New York Times“ hat Ende 2017 einen Meinungsartikel veröffentlicht mit dem Titel „Sollte ich meinem Kind erlauben, mit weißen Kindern zu spielen?“. Die Antwort war im Grunde genommen, dass es nicht sicher ist, mit Kindern anderer „Rassen“ zu spielen. Oder: Der „Guardian“ veröffentlichte einen Artikel über den Tod durch Fahrradunfälle in London mit dem Titel „Wieso Straßen, die von Männern entworfen wurden, Frauen umbringen“. Es wird so getan, als wäre das Ziel der Straßenbauer gewesen, die Straßen so zu entwerfen, dass mehr Frauen absichtlich überfahren werden können. Warum tun wir uns so etwas an? Wieso erfinden wir so etwas? Jedes Mal wenn wir das tun, bewegen wir uns auf ein schlimmes Ende zu, dessen Wurzeln ich im Buch erkläre. Nämlich dass jede Forderung nach einer bestimmten Gerechtigkeit anderen Forderungen nach Gerechtigkeit diametral entgegensteht.

Was erhoffen sich die Leute davon? Ich hätte gedacht, dass das Ziel sei, ein harmonisches soziales Leben zu fördern, also so gut wie möglich miteinander auszukommen. Aber was ist das Ziel, wenn man einen Krieg führt?

In dem Kapitel über Transsexualität erkläre ich das. Wenn man plausible Ansprüche zum Wohle Transsexueller finden will, sollte man doch Menschen im Auge haben, die tatsächlich transsexuell sind, also mit genitalen Abnormitäten geboren wurden. Das passiert aber gerade nicht. 2019 geht es stattdessen darum, dass wir große, bärtige Männer als Frauen bezeichnen sollen, auch wenn diese sich lediglich so fühlen. Eine irritierende Forderung. Und tun wir das nicht, werden wir sogar dazu gezwungen. Das Ziel ist also nicht, Harmonie zu verbreiten. Das Ziel ist es, zu spalten, zu verwirren und zu stören.

Das klingt doch nach einer simplizistischen Idee, nach dem Phönix-Prinzip:
Wir brennen alles nieder, auch und gerade Bewährtes, zerstören alles, damit daraus etwas Neues, Besseres entstehen kann.

Wenn es in der Gesellschaft keine Religion gibt, kannst du dir nicht sicher sein, warum du überhaupt existierst. Dann gibt dir die Religion, von der ich spreche, etwas: eine Aufgabe und einen Sinn. Wenn es deren Ziel ist, die bereits erwähnten ältlich-weißen patriarchalischen Machtkonstruktionen zu attackieren, dann werden sie sagen: „Wir leben in einer Gesellschaft, in der eine Gruppe x die Macht innehat.“ Die Menschen, die das sagen, betrachten unsere Gesellschaft absolut mitleidlos und werden versuchen, dieses System umzustürzen. Weil der Status quo so schrecklich ist. Ich frage dann immer: Verglichen mit was und verglichen mit wo? Ich höre dann jedes Mal Beispiele aus sozialistischen Staaten, in denen man viel „weiter“ sei. Gern genommen werden da die Stellung der Homosexuellen oder der Frauen in Kuba. Bis vor Kurzem war auch die Minderheitensituation in Venezuela ganz toll. In jedem Fall hat man den Blick immer starr auf Utopia gerichtet. Das ist Marxismus, der in der Maske sozialer Gerechtigkeit wiederkehrt. Dahinter steckt eine echte Rachsucht gegen Gesellschaften wie die unsere. Was man schon daran merkt, dass nur in rachsüchtigem Ton über unsere Gesellschaft gesprochen wird. Wer behauptet, dass unsere Gesellschaft von mächtigen alten Männern dominiert werde, übersieht völlig, dass Macht nicht der einzige Aspekt einer Gesellschaft ist. Macht ist lediglich eine Kraft, und es gibt noch viele weitere. Wohltätigkeit etwa. Oder Liebe. Viele Menschen sind während ihres Lebens wesentlich mehr an Liebe als an Macht interessiert.

Und was bedeutet das?

Wenn Identität zum einzigen Lebenssinn wird
Bestseller-Autor Douglas Murray über den Wahnsinn der Massen
Die Gesellschaft ist wesentlich mehr als ein Machtspiel. Sobald man etwas, zum Beispiel Diskriminierung, als Waffe einsetzt, tut sich dahinter etwas ganz Schreckliches auf. Wenn man vom Gedanken an Rassismus besessen ist, dann endet es damit, dass man über nichts anderes mehr redet. In Amerika wurde an den Universitäten zunehmend durchgesetzt, dass Amerikaner jeder Gesellschaftsschicht aufgenommen werden, unter anderem Afroamerikaner. Das ist eine durchaus vernünftige Sache. Aber: Führt man eine Quote ein, dann endet das in der Hölle. Die Universität Harvard hat­te beschlossen, dass Afroamerikaner stärker an der Uni vertreten sein sollen, und eine Quote eingeführt. Eine der Konsequenzen ist, dass man Asiaten abweisen muss, um Platz für die afro­-amerikanische Minderheit zu schaffen, sogar wenn Asiaten wesentlich besser qualifiziert sind und obwohl sie selbst eine – zumal kleinere – Minderheit bil­den. So wird eine Minderheit zugunsten einer anderen unterdrückt – mit besten Absichten.

Aber genau das ist doch im Wesent­lichen Rassismus?

Exakt. Wären wir uns selbst gegenüber ehrlich, hätten wir viele solcher Fragen zu diskutieren. Doch das tun wir nicht. Und so wissen wir nicht, wie wir über diese wichtigen Dinge sprechen sollen, wenn sie dann durch Druck doch hoch­kommen, wie in Harvard. Es entsteht eine Diskussion über Geschlechter: Wir wissen nicht, wie darüber reden. Es ent­steht eine Diskussion über Homo­- oder Transphobie, und wir wissen nicht, wie darüber reden. Das Ziel meines Buches ist es, den Menschen zu zeigen, über welche Themen wir jetzt sprechen soll­ten und wie. Das Ziel des Buches ist es nicht, Menschen zu provozieren oder sie gegeneinander aufzubringen.

Ich bin froh, dass Sie eine so friedliche Einstellung haben. Denn ich frage mich, was passiert, wenn die „älteren, weißen Männer“ irgendwann die Nase voll davon haben, beschimpft und als Waffe gegen sich selbst eingesetzt zu werden.

Ich sehe eine Gegenreaktion durch­ aus kommen. Wenn die Menschen gezwungen werden, an unplausible Gerechtigkeitsforderungen zu glau­ben, werden plausible Ansprüche wie Gleichberechtigung der Geschlechter und Rassengleichheit gefährdet. In Ka­nada ist ein transsexueller Mann in ein Waxing­-Studio für Frauen gegangen und hat eine Angestellte gebeten, ihm die Hoden zu enthaaren. Wenn so et­was geschieht (und es geschieht täglich) und Sie dann sagen müssen, dass die­ser große Mann trotz Hoden eine Frau ist, was denken Sie, wie viele Menschen
sich innerlich fragen: Wie verrückt ist das denn?

Sie stellen mit Ihren Beispielen die extremen Widersprüche der Entwick­lung dar, dass sich zum Beispiel die Forderungen der Feministinnen mit denen der Transgender­-Leute nicht in Einklang bringen lassen. Eine schöne Übung für den Intellekt. Doch in Ihrem Buch zitieren Sie einen Studenten an einer amerikanischen Universität mit den Worten: „Ich interessiere mich nicht für Fakten!“ Was macht man also mit Menschen, die sich nicht für Tatsachen interessieren, ihren verqueren Kampf für eine bessere Welt aber dennoch austragen wollen?

Der Grund dafür, dass ich Ihnen so viele Beispiele für all diese Unstimmigkeiten gebe, ist, dass vernünftige Menschen vernünftigerweise annehmen, diese ganze Sache werde deshalb bald zerfal­len. Ich fürchte allerdings, dass es nicht so funktionieren wird. Die Unstimmig­keiten sind ja regelrecht willkommen! Sie stellen kein Problem dar, denn diese Personen denken und argumentieren ja nicht nach Rationalität und Vernunft, so wie Sie und ich das vielleicht tun. Aus diesem Grund entstehen solche Bei­spiele wie mit dem Studenten, der sich nicht für Fakten interessiert. An einer weiteren Universität in Amerika, die ich in meinem Buch nenne, sagt eine Grup­pe von Studenten: „Die Idee der Wahr­heit ist ein westliches weißes Konzept. Wir spielen da nicht mit.“

Das scheint eine recht abgehobene Szene zu sein. Was hat das mit uns normalen Leuten zu tun?

Beim Schreiben habe ich erst gemerkt, wie sehr diese Mechanismen schon in unser aller Leben eingedrungen sind. Jeder, der heutzutage in einer großen Firma arbeitet, weiß, dass das, was ich beschreibe, auch auf ihn zukom­men wird. Multinationale Konzerne, Banken, Investmentfirmen, Behörden, Regierungsabteilungen verfolgen in gewisser Weise jetzt schon das, was ich in meinem Buch beschreibe: Mit „Assoziationstests“, „Vorurteilserkennungs­trainings“ und solchen Dingen verfolgt man das Ziel, das implizite Denken der Mitarbeiter zu restrukturieren. Man fragt sich: „Erfüllen wir die Quoten? Sind genug Frauen in der Firma reprä­sentiert? Genug Homosexuelle? Haben wir genug Mitarbeiter mit unterschied­licher ethnischer Herkunft? Sind die Transsexuellen ausreichend repräsen­tiert?“ Noch vor zehn Jahren wären das die Forderungen eines verrückten kleinen Colleges gewesen. Heute ist es in jeder einzelnen großen Firma ange­kommen.

Für mich ist das alles wie mit einer Eutrophie: Da ist ein kleiner nährstoffreicher Teich, in dem sich nach und nach immer mehr Organismen bilden, bis er schließlich kippt. Genau so bilden sich in der heutigen Welt immer mehr komplexe Ideen, die auch für das Individuum gefährlich werden können. Sind Sie mit dem Gärtner vergleichbar, der sich darum zu kümmern versucht?

Ich versuche, die Menschen vor den Konsequenzen zu warnen. Vor dem, was am Ende der Straße auf uns war­tet. Im Namen sozialer Gerechtigkeit machen wir unsere Gesellschaften un­ gerecht. Im Namen von Antirassismus machen wir unsere Gesellschaften im­mer rassistischer. Im Namen von Anti­homophobie riskieren wir, unsere Ge­sellschaften homophober zu machen. Und im Namen von Antitranssexuali­tät machen wir unsere Gesellschaften wahnsinnig. Und das müssten und sollten wir nicht! Mit dem Buch versu­che ich, den Menschen einen Ausweg aufzuzeigen.


Douglas Murray, Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften. FBV, 352 Seiten, 24,99 €.

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