Tichys Einblick
Nach Gespräch zwischen Houellebecq und Onfray

Houellebecq, das Ende des Abendlandes und eine abgesagte Anzeige

Das neue Jahr war noch keine Woche alt, da dürfte sich der Schriftsteller Michel Houellebecq wie die Hauptfigur seines Romans „Die Unterwerfung“, der Literaturwissenschaftler François, gefühlt haben. Auch er sollte sich einer von Muslimen erhobenen Forderung fügen.

Michel Houellebecq, Aufnahme vom 25. September 2019 in San Sebastián, Spanien

IMAGO / agefotostock
Noch im alten Jahr, im Dezember 2022, hatte Houellebecq mit dem Philosophen Michel Onfray ein langes, ein sehr langes Gespräch geführt, das in Onfrays Zeitschrift „Front Populaire“ veröffentlicht wurde. Onfray war hierzulande mit seiner kurzgefassten Aktualisierung von Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ unter dem Titel „Décadence. Vie et mort du judéo-christianisme“ – die der deutsche Verlag ein wenig grell mit „Niedergang. Aufstieg und Fall der abendländischen Kultur – von Jesus bis Bin Laden“ übersetzt hat – bekannt geworden. Für Onfrays Buch wurde in Deutschland übrigens mit dem Hinweis geworben: „Ein Albtraum à la Houellebecq“.

Nicht von ungefähr trägt das Heft, in dem das Interview erschien, den Titel: „Fin de L’Occident – „Ende des Abendlandes?“. Das Interview selbst wurde mit der tröstlichen Überschrift: „Dieu vous entende, Michel“ (Gott möge dich erhören, Michel) versehen. Kein Wunder also, dass sich die beiden Herren viel zu sagen hatten. Und um viel ging es in dem Gespräch, für das man sich, wie es sich für französische Groß-Intellektuelle gehört, auch sechs Stunden Zeit genommen hatte.

Genau genommen ging es um fast alles: um Benedikt XVI. ( für einen Autor, der sich um den französischen Schriftsteller Joris-Karl Huysmans bemühte, sehr verständlich), um die EU, um Frankreichs Souveränität, um Houellebecqs Verhältnis zu Deutschland, um Metaphysik, um das historische Scheitern von Auguste Comte, um Elon Musk, um Emmanuel Macron, den Houellebecq einen „Feigling“ nennt, um die Filme „Matrix“ und „Star Wars“, und um vieles andere mehr, um Hochphilosophisches und Tiefbanales.

Nur ein Thema wurde ausgespart – und zwar das für deutsche Klein-Intellektuelle wichtigste Thema überhaupt, das Thema der Themen: die Klimakrise, der Klimaschutz, der Klimawandel und alle unzähligen Filiationen oder Klone dieses deutschen Haupt- und Staatsthemas.

Anspielung auf islamistischen Anschlag auf das Bataclan-Theater

Doch auch das ist nichts Besonderes, denn wenn man in die Zeitungen des europäischen Auslands, in französische oder in englische Gazetten beispielsweise schaut, wird man verblüfft feststellen, welch untergeordnetes Dasein das deutsche Schicksalsthema dort fristet. Lützerath dürfte von der Seine aus betrachtet eher wie ein als Soap produziertes Remake von La Boum wirken, allerdings mit einem bedauerlichen Mangel an französischem Charme und einem Übermaß deutscher Grundsätzlichkeit. Außerdem wird man an der Seine auch nicht allzu traurig darüber sein, dass sich ein paar französische Klimaprotesttouristen nun eine Aufgabe im tiefsten Deutschland gesucht haben.

All das sorgte also nicht für Aufregung, auch nicht, dass Houellebecq die Grünen für den „Abschaum der Menschheit“ hält, auch nicht, dass Onfray und Houellebecq auf die These des großen Bevölkerungsaustausches des Schriftstellers Renaud Camus zu sprechen kamen. Bei einigen Lesern, wie bei dem Rektor der Großen Moschee von Paris, Chems-Eddine Mohamed Hafiz, begann der Puls erst zu steigen, als Houellebecq auf den Islam zu sprechen kam, den er 2001 in einem Interview als die „dümmste aller Religionen“ bezeichnet hatte.

Nun prophezeit Houellebecq auf Seite 28 im Interview: „Wenn ganze Wohngebiete unter islamistische Kontrolle geraten sind, wird es meiner Meinung nach zu Widerstandshandlungen kommen. Es wird Anschläge und Schießereien in den Moscheen geben und in den Cafés, die von Muslimen besucht werden, kurzum: ein umgekehrtes Bataclan. Dann werden sich die Muslime nicht damit begnügen, Kerzen und Blumensträuße aufzustellen.“ Mit dem Namen des Bataclan-Theaters spielte Houellebecq auf die islamistischen Terroranschläge in Paris am 13. November 2015 an, bei denen 130 Menschen getötet und 683 Menschen verletzt wurden.

Doch dabei ließ es der Schriftsteller nicht bewenden, sondern fügte hinzu: „Ich glaube, der Wunsch der französischen Stammbevölkerung ist nicht, dass die Muslime sich assimilieren, sondern dass sie aufhören, uns zu bestehlen und zu attackieren, kurz gesagt, dass ihre Gewalttätigkeit abnimmt, dass sie das Gesetz und die Menschen respektieren. Eine gute Lösung wäre es auch, wenn sie einfach abhauen.“

Strafanzeige milderte öffentliche Aufregung über Houellebecqs Äußerung

Chems-Eddine Mohamed Hafiz lief dann auch in Houellebecqs Falle und stellte Strafanzeige gegen den Schriftsteller wegen „Aufforderung zum Hass gegen Muslime“. Auch wenn sich die unvermeidliche Anne Hidalgo, sozialistische Bürgermeisterin von Paris – die zwar kühn zu den Präsidentschaftswahlen 2022 antrat, aber nur 1,75 Prozent aller Stimmen erhielt, und sich mit Platz zehn von zwölf Kandidaten zufrieden geben musste –, fast schneller mit dem Rektor der Großen Moschee von Paris und der Strafanzeige solidarisiert hatte, als sie gestellt worden war, milderte die Strafanzeige doch die öffentliche Aufregung um Houellebecqs Äußerung. Sich gegen Houellebecqs Äußerung zu wenden, war das eine, die durch Gerichte drohende Einschränkung der Meinungsfreiheit etwas ganz anderes.

Houellebecq spottete in Le Point: „Als sie mich vor zwanzig Jahren das erste Mal vor Gericht stellte [die Große Moschee – der Verf.], wurde ich der ‚Aufstachelung zum Rassenhass‘ beschuldigt. Das war albern, jeder weiß doch, dass der Islam keine Rasse ist, sondern eine Religion mit einem universellen Ziel, die auf der ganzen Welt verbreitet ist, und der Staatsanwalt hätte logischerweise nur meine Freilassung verlangen können. Diesmal wird mir Islamophobie vorgeworfen, was relevanter ist. Der Islam ist eine Religion, die mir nicht viel Achtung einflößt, daher bekenne ich mich bis zu einem gewissen Grad schuldig; vorausgesetzt, ich füge hinzu, dass ich ein Teilzeit-Islamophobiker bin. Tatsächlich interessiert mich der Islam wenig. Ich hatte den Koran in seiner Gesamtheit noch einmal gelesen, als ich ‚Unterwerfung‘ schrieb – das hat mir gereicht.“

Nun ist Chems-Eddine Mohamed Hafiz für Michel Houellebecq kein Unbekannter, denn den Prozess, auf den der Schriftsteller anspielte, hatte Hafiz angestrengt, so wie Hafiz auch schon gegen die Mohammed-Karikaturen der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ juristisch vorgehen wollte. In Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ wird ein muslimischer Politiker Präsident, weil die sozialistische Partei (PS), also die Partei von Anne Hidalgo, und die Konservativen ihn unterstützten, um den Wahlsieg von Marine Le Pen zu verhindern. Der neue Präsident, kaum ins Amt gekommen, verwirft die laizistische Verfassung und führt die Theokratie und die Scharia ein. Gut möglich, dass der Romancier den als liberal geltenden Rektor der Großen Moschee als Anregung für die Gestaltung des muslimischen Politikers für den Roman genutzt hatte.

Die französischen Debatten werden Deutschland einholen

Wie man es dreht und wendet, oder am liebsten verdrängt und framed wie in Deutschland, trifft Houellebecqs Äußerung auf einen sich vergrößernden Konflikt in der Gesellschaft, einen Konflikt, der sich durch eine teils misslungene Integration zusehends verschärft. Der Blick nach Frankreich lohnt sich allein deshalb, weil uns die französischen Debatten in Deutschland einholen werden.

Noch ein anderer Aspekt ist an der französischen Diskussion spannend: Michel Onfray lässt sich nicht mehr als links oder rechts einordnen. Er ist nur ein Beispiel dafür, dass die alten von den Grünen und der identitätspolitischen Linken so sehr geschätzten Kategorien von „rechts“ und „links“ ihre Inhalte verloren haben und lediglich zur Markierung und Diffamierung des politischen Gegners dienen, als dass sie einen heuristischen Wert besäßen.

Inzwischen hat auf Initiative und Einladung des klugen Oberrabiners von Frankreich, Haim Korsia, ein Gespräch zwischen Michel Houellebecq und Chems-Eddine Mohamed Hafiz stattgefunden. Im Ergebnis des Gesprächs verzichtete der Rektor der Großen Moschee auf ein Strafverfahren.

Das Interview erschien unter dem Titel „Dieu vous entende, Michel“ (Gott möge dich erhören, Michel) in „Front Populaire“, Paris 2022.

Anmerkung der Redaktion: Der Titel „Dieu vous entende, Michel“ war ursprünglich ungenau übersetzt und wurde nachträglich korrigiert. Wir bedanken uns bei unseren Lesern für den Hinweis.