Tichys Einblick
Niedergang der Sozialdemokratie

Gabriel fordert Neuaufstellung der SPD

Die Situationsanalyse ist stimmig, der Lösungsvorschlag nicht. Die Antithese zur neo-liberalen Postmoderne ist jedenfalls nicht ein noch stärkerer „Kosmopolitismus“, sondern ein neuer „Kommunitarimus“, dessen Konturen sich erst allmählich herausbilden.

© Patrik Stollarz/AFP/Getty Images

Nachdem Sarah Wagenknecht angesichts der Wählerverluste ihrer Partei an die AfD schon kurz nach der Bundestagswahl die Frage aufgeworfen hat, ob die Linke mit ihrer neoliberalen Haltung in Fragen der Zuwanderung in die Arbeits- und Wohnungsmärkte noch die Interessen der „kleinen Leute“ vertritt, zieht nun Sigmar Gabriel mit einem Gastbeitrag zur Lage der SPD im Magazin DER SPIEGEL mit derselben Fragestellung nach. Die Wahlerfolge der AfD führen somit nicht nur zu anderen Mehrheitsverhältnissen in den Landtagen und im Bundestag, sondern auch zu Selbstkritik und politischen Auseinandersetzungen bei ihren politischen Gegnern. Ob diese in die richtige Richtung führen, muss sich allerdings erst noch zeigen.

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Unter dem Titel „Sehnsucht nach Heimat“ analysiert Gabriel in einer für einen führenden Sozialdemokraten überraschend reflektierten und klarsichtigen Weise den Niedergang der SPD als Folge eines fundamentalen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandels „im Zuge von Globalisierung und Digitalisierung“. Dieser habe, zusammen mit der weltweiten Öffnung der Finanz-, Produkt- und Arbeitsmärkte, zu einer weitreichenden Individualisierung der Lebensverhältnisse und damit zur weitgehenden Auflösung traditioneller sozialer Bindungen (Familie, Vereine, Parteien, Gewerkschaften,…) geführt. Entstanden sei so im Laufe der Zeit eine Gesellschaft der „Postmoderne“, die an die Stelle der bisherigen „Moderne“ getreten wäre, die seit 150 Jahren maßgeblich von der Sozialdemokratie mit erstritten worden sei. Die „Moderne“ stehe deswegen nicht für das postmoderne „Anything Goes“, sondern für eine „auf kollektivem Handeln und einer auf Solidarität ausgerichteten Gesellschaft.“ Davon sei nur noch wenig übrig. „Fast alle Bedingungen für den sozialdemokratischen Erfolg in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sind verschwunden.“

Dafür sind nach Auffassung Gabriels allerdings nicht nur die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen ursächlich, sondern ebenso der Umstand, dass sich die SPD diesen nicht entgegengestellt, sondern weitgehend angepasst habe. Wettbewerbsfähigkeit gelte als wichtiger als Löhne oder Renten, Umwelt- und Klimaschutz als wichtiger als Industriearbeitsplätze. „Auch wir haben uns kulturell als Sozialdemokraten und Progressive oft wohlgefühlt in postmodernen liberalen Debatten.“ So sei die SPD im Laufe der Jahre selbst zu einer postmodern ausgerichteten Partei sozialer Aufsteiger aus den unteren und mittleren sozialen Schichten geworden. Sie habe dadurch nicht nur ihre früheren Ziele und Werte, sondern auch ihre Anhänger und Wähler aus der Arbeiterschaft verloren, die hinter diesen Zielen und Werten nach wie vor ihre ureigensten Interessen vertreten sehen. Am Beispiel der demokratischen Partei der USA warnt Gabriel daher: „Wer die Arbeiter des Rust Belt verliert, dem werden die Hipster in Kalifornien auch nicht mehr helfen.“

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Auch bei der SPD gebe es inzwischen „zu viel Grünes und Liberales und zu wenig Rotes“. Deswegen verliere die SPD bei ihren traditionellen Anhängern und Wählern kontinuierlich an Terrain, das zusehends an die AfD gehe. Die „(rechts-)populistischen“  Parteien stünden in ganz Europa aus Sicht vieler Bürger für die Ziele und Werte der „Moderne“, für die die inzwischen postmodern gewendete SPD auch einmal gestanden habe. Sie sehnten sich nicht nur nach Wohlstand und sozialer Sicherheit, sondern auch „nach sicherem Grund unter den Füßen, der sich hinter dem Begriff ‚Heimat‘ hier in Deutschland verbindet.“ Dieser sei durch die „Atomisierung von Arbeits- und Lebenswelten“ verloren gegangen, was von Vielen nicht als Vollendung der Versprechen der „Moderne“, sondern als ein „traumatischer Abschied“ von dieser empfunden werde. „Die offenen Grenzen von 2015 stehen in Deutschland für nicht wenige Menschen deshalb als Sinnbild für die Extremform von Multikulti, Diversität und den Verlust jeglicher Ordnung.“ Viele Bürger wüssten nicht mehr, mit wem und mit was sie sich identifizieren könnten.

Der damit einhergehende Identitätsverlust breiter Bevölkerungsschichten ist laut Gabriel eine der wesentlichen Triebfedern des aufkommenden „(Rechts-)Populismus“. Verlorengegangenes Terrain sei für die SPD daher nur dadurch zurückzugewinnen, dass sie sich ihrer „modernen“ Ziele und Werte wieder bewusst werde und diese offensiv nach außen vertrete. Dabei gehe es nicht zuletzt auch „um Identität und Identifizierung“ und damit um „Heimat“ und „Leitkultur“. Wesentlich sei jedoch, zu den „Errungenschaften der Moderne – soziale Sicherheit, Teilhabe, Solidarität…“ zurückzukehren. Diese dürften allerdings nicht mehr im nationalen, sondern müssten im internationalen Rahmen durchgesetzt werden. Gefordert sei eine „ganz andere Aufstellung“ der SPD und dies bedeute vor allem: „die Europäisierung und Internationalisierung unserer politischen Konzepte.“

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An dieser Stelle verliert der bis dahin reflektierte und klarsichtige Beitrag Gabriels erheblich an Qualität. Die von ihm beschriebene Atomisierung und Individualisierung der Arbeits- und Lebensverhältnisse und die damit einhergehenden Identitätsverluste beruhen ja in hohem Maße auf der mit der Internationalisierung und Globalisierung einhergehenden, allmählichen Auflösung national-ökonomischer Ordnungs- und Handlungszusammenhänge. Sie steht im Mittelpunkt der von Gabriel kritisierten „radikalen Liberalisierung der Wirtschafts- und Lebensverhältnisse.“ Mit dem Ruf von „No Borders, No Nations“ ziehen die Jünger der von ihm hinterfragten „Postmoderne“ in die Schlacht gegen alles „Nationale“, das sich ihren Vorstellungen von Freihandel, Universalismus, Weltoffenheit, grenzenloser Migration, Multikulturalität und Diversität in den Weg stellt. Die Zerstörung nationaler Identitäten steht damit ganz oben auf der Agenda des postmodernen Mainstreams (nicht nur) in Europa. Gegen sie richten sich inzwischen immer mehr Bürger, insbesondere aus den unteren und mittleren gesellschaftlichen Schichten. Gerade für sie bildet die National-Ökonomie, vor allem in Gestalt des Sozialstaats, nicht nur einen der letzten Schutzwälle gegen die sich drastisch verschärfende transnationale Konkurrenz an den Arbeitsmärkten, sondern auch gegen den von Gabriel thematisierten kulturellen Identitätsverlust. Sie wählen deswegen zunehmend diejenigen Parteien, die diese Schutzwälle erhalten oder auch ausbauen, aber nicht weiter abbauen wollen.

Warum diese Leute durch eine forcierte Internationalisierung und Europäisierung sozialdemokratischer Politik wieder zur SPD zurückkehren sollten, bleibt vorerst das Geheimnis von Sigmar Gabriel. Er glaubt, durch „mehr internationale Zusammenarbeit, mehr europäische Zusammenarbeit“ den Kapitalismus nicht mehr nur national, sondern „in Europa“ zähmen zu können. Dahinter steckt vermutlich die Idee einer Europäisierung des Sozialstaats. Vorschläge zu einer europäischen Arbeitslosenversicherung seitens Emanuel Macron, den Gabriel bekanntlich ja sehr schätzt, weisen jedenfalls in diese Richtung. Dass derlei Vorhaben seitens der SPD weder im Wahlkampf offen thematisiert worden sind, noch von Gabriel in seinem Gastbeitrag konkret angesprochen werden, zeigt, dass sie sehr wohl wissen, dass ein solcher Schuss bei den verbliebenen Anhängern und Wählern aus den unteren und mittleren sozialen Schichten leicht nach hinten losgehen könnte. Welcher Arbeiter und kleine Angestellte in Deutschland sollte ein Interesse daran haben, in Zukunft per Umlage die französischen, italienischen, spanischen oder griechischen Arbeitslosen mitzufinanzieren, wenn diese Form „sozialdemokratischer Solidarität“ aufgrund der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit in diesen Ländern nur mit einer Beitragserhöhung einhergehen kann ? Hinzu kommt die Frage einer dann notwendigen Harmonisierung der Arbeitslosengelder, die europaweit wohl kaum auf dem hohen deutschen Niveau stattfinden könnte. Geringere Leistungen für mehr Beiträge dürfte daher nichts sein, womit die SPD  abtrünnige Wähler von der AfD (oder auch der Linken) zurückgewinnen könnte, auch wenn sie dies noch so sehr mit europäischem Pathos garnieren würde.

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Sigmar Gabriel, bzw. sein Referent, der für ihn vermutlich den Gastbeitrag im SPIEGEL verfasst hat, sollte daher noch einmal etwas genauer über die Neu-Aufstellung der SPD nachdenken. Die Situationsanalyse ist stimmig, der Lösungsvorschlag nicht. Die Antithese zur neo-liberalen Postmoderne ist jedenfalls nicht ein noch stärkerer „Kosmopolitismus“, sondern ein neuer „Kommunitarimus“, dessen Konturen sich erst allmählich herausbilden. In ihm leben in Gestalt des „(Rechts-)Populismus“ schon jetzt nicht nur Werte wie „Heimat“ und „Leitkultur“, sondern auch die „nationale Identität“  wieder auf. Die zukünftigen politischen Konfliktlinien werden deswegen zunehmend zwischen den anti-national orientierten „Kosmopoliten“ auf der einen und den national orientierten „Kommunitaristen“ auf der anderen Seite verlaufen. Die Funktionäre und Mitglieder der SPD stehen derzeit mehrheitlich im Lager der „Kosmopoliten“, ihre bisherigen Anhänger und Wähler zu einem erheblichen Teil wohl eher im Lager der „Kommunitaristen“. Das kann, darin hat Gabriel recht, auf Dauer nicht gutgehen. Noch mehr „Kosmopolitismus“ ist für dieses Dilemma aber gewiss auch keine Lösung.