Tichys Einblick
Wider die Entfremdung

Freiheit ist an Identität geknüpft

Wir verlieren etwas Wertvolles, das eine Voraussetzung zum Freisein ist. Wenn wir als Deutsche nicht lernen, uns für das, was wir sind, zu schätzen, sind wir wirklich am Ende. Von Felix Hackmann.

DANIEL LEAL-OLIVAS/AFP via Getty Images

Als im März bekannt wurde, dass die für dieses Jahr geplante Fußball-Europameisterschaft auf Grund der Coronapandemie um ein Jahr verschoben wurde, war ich nicht traurig, sondern nur erleichtert. Ich wunderte mich – über mich selbst. Wie konnte es sein, dass ich, als leidenschaftlicher Fußballfan, mich nicht mehr darauf freuen konnte, die Nationalmannschaft meines eigenen Landes zu sehen? Wie schön war das früher, wenn ich vom Fußballtraining nach Hause kam, den Geruch des Rasenplatzes, dessen Erde sich unter den Fußballschuhen gesammelt hatte, noch in der Nase, und dann die Stimmen von Gerhard Delling und Günter Netzer durch die hinter ihnen aufheulende Stadionatmosphäre sägten – welch ein behagliches Geräusch. In der Erinnerung daran manifestiert sich Heimat: der Sommer, der Garten, die offenen Türen, die Nachbarskinder, die zum Fußballgucken herüberkamen, dazu die klaren Analysen von Günther Netzer und die Unbefangenheit von Waldemar Hartmann.

Heute berichten Konformisten über eine Mannschaft aus identitätslosen Konformisten für ein Land aus identitätslosen Konformisten. „Die Mannschaft“ ist nicht mehr meine Nationalmannschaft. Und den Satz:“ Gucken wir heute Abend Deutschland bei dir?“ gibt es nicht mehr.

Der Fußball ist nur ein Pars pro Toto. Ein Indiz dafür, dass sich etwas auflöst. Vielleicht können wir gar nicht genau erklären, was da passiert, und kaum in Worte fassen, was wir dabei empfinden. Aber wir ahnen, dass manche Dinge falsch laufen. Und vielleicht haben wir auch Angst vor der Moralkeule oder sogar weiteren Konsequenzen, die uns drohten, würden wir es ehrlich versuchen. Ganz gleich woher es rührt, das Gefühl des Verlustes ist da und sträubt sich gegen die Verleugnung.

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Nun, in der Isolation im Ausland, sah ich mich mit meiner Wut über den Identitätsverlust konfrontiert. Unterbewusst waren diese Gefühle schon länger da. Nun konnte ich nicht mehr in mein Alltagsleben fliehen. Nun überkamen sie mich und stießen mich in den Kaninchenbau der Auseinandersetzung mit meiner Identität und ihrer Übersetzung in ein bedeutungsvolles Leben.

Wie tief habe ich mich schon im Wunderland des 21. Jahrhunderts verirrt – in der Selbstverleugungs- und Entfremdungmaschinerie, in der Oberflächlichkeit und im Konsum, in der Geschichts- und Sprachvergessenheit? Wie sehr wurde ich mir selbst schon entlockt?

Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte mich zwangsläufig zurück zu meiner Wiege, meiner Heimat, meiner (einstigen) kulturellen Identität – nach Deutschland.

Das Land, von dem ich mich so entfremdet hatte, in dem ich nicht mehr meine Meinung sagen konnte, ohne bald auf jenen selbstherrlichen, arroganten Blick der dem Mainstream Anheimgefallenen zu stoßen. Bei ihnen scheint mir jeglicher Wille zur offenen und ehrlichen Überprüfung der eigenen Argumente erloschen zu sein, ein aufrichtiger Versuch, ihr Gegenüber verstehen zu wollen, findet nicht statt. Ein Heer von folgsamen, identitätslosen Globalisierungs-, Gender- und Klimakonformisten, die nicht mehr in der Lage sind, eigenständig zu denken, dominiert weite Teile der Gesellschaft. In den Schulen reifen neue, vielleicht noch tiefer indoktrinierte Generationen heran, denen ihr Selbst geraubt wurde, ohne dass sie es je bemerken würden. Ich war nach London gegangen – eine Emigration aus Abscheu gegenüber diesem Umfeld, aber gleichermaßen auch vor meiner Machtlosigkeit, dem etwas entgegenzusetzen. Der Grat zwischen Egoismus und Fatalismus ist sehr schmal in diesen Zeiten.

Ich befand mich im Exil, jenseits des Landes, dessen Bürger ihre höchste und edelste Tugend verlernt hatten – die freie Entwicklung und Reifung von Gedanken und der sensible Umgang mit ihnen, nämlich: Dichten und Denken.

Sicher, Deutschland, das Land der Dichter und Denker, das ist eine Zuschreibung, die man aus heutiger Sicht nur noch mit einem bescheidenen Lächeln abtun kann. Aber wer wären wir, wenn wir unsere Gedanken nicht frei entfalten könnten?

Deutschland hat keine großen Bodenschätze und hat seine Position in der Welt seit jeher durch den Erfindergeist generiert, der integraler Bestandteil des Humboldtschen Bildungsideals ist. Ein sich selbst erhaltender Mechanismus aus Neugier und kritischem, eigenständigen Denken, aus dem der Impuls zur Progression immer wieder neu geboren werden konnte.

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Alle wichtigen Figuren und Charaktere der deutschen Literatur sind Denker, die das Leben verstehen wollen. Goethes Faust, Hesses Steppenwolf und Demian, Eichendorffs Taugenichts. Die Liste ist viel länger. Sie alle erfahren das Leben und transportieren durch ihre Geschichten zeitlose Erkenntnisse. Dazu die Musik, die Innovationen und Patente, die ihren Ursprung im deutschen Schaffens- und Erfindergeist hatten.

Das war es doch, das musste der kleinste gemeinsame Nenner sein, mit dem sich alle Deutschen und die, die deutsch sein wollen, uneingeschränkt identifizieren können mussten. Darin lag die deutsche Seele verborgen, daraus gewann das Deutschsein seine Identität und könnte, würde man dies endlich annehmen, immun werden gegen jegliche Form der Ideologisierung – die Freiheit des Geistes.

Wie konnten wir dieses innerste Lebenselixier nur verlieren?

Beginnen wir bei uns selbst. Die Entwicklung von etwas Eigenem aus einem freien Geist ist immer mit der Möglichkeit des Scheiterns verbunden. Die Angst vorm eigenen Scheitern, hält uns zurück, von uns fern, und treibt uns geradewegs in die Zerstreuung – heute durch Social Media und Co. verlockender denn je.

Doch nur wer seine Identität in einem gesunden Selbstbewusstsein trägt, ist in der Lage, neue Gedanken nach außen zu vertreten und dadurch Fortschritt zu generieren. Jeder Gedanke ist eine Entität, die aus einer Identität gewachsen ist. Daraus leitet sich nicht nur die Wichtigkeit des Erkennens und der Entwicklung der eigenen Identität ab, sondern auch die Verpflichtung, seinen Mitmenschen dabei zu helfen.

Es ist nicht leicht, mit einer eigenen Idee hervorzutreten in diese eingefahrene Welt, die nach vorherrschenden Mechanismen funktioniert und junge Geistesblüten überfährt. Doch nur aus diesem zarten, anfangs mitunter unbeholfenen Willen und dem Streben nach etwas Sinnhaftem, einem kohärenten Gedanken, einer Idee, kann einmal etwas Gutes, etwas Fortschrittliches entstehen. Daher sollte es unsere Pflicht sein, einander zuzuhören und zu versuchen, einander zu verstehen.

Passiert dies nicht, fällt das ganze Kartenhaus einer Gemeinschaft in sich zusammen und wir begeben uns in die Degeneration. Wir leben dann ein Leben, in dem wir uns nur vormachen, glücklich zu sein oder einmal glücklich zu werden, während wir uns hassen für unsere Selbstverleugnung. Beziehungen brechen auseinander, wir werden zu Zombies des Digitalisierungszeitalters und preisen gar im Endstadium unsere eigene Versklavung.

Genau dieser Vorgang ist im vollen Gange. Wir spüren, dass wir ausgehebelt und übergangen werden; alles wird uns vorgesagt unter dem Mantel der guten Moral – welches Auto wir fahren sollen, welches Wasser wir trinken sollen, welchen Strom wir kaufen sollen, wohin wir nicht in den Urlaub fliegen sollen, ganz zu schweigen von der Meinung, die wir uns über Themen wie Europa, Integration, Immigration und Islam machen sollen. Der deutsche Michel liegt im Kerker der Klimagenderglobalisten und seine Landsleute kommen ihm nicht zur Hilfe. Im Gegenteil, mancher nimmt sogar aktiv an seiner Peinigung teil, wie die Politiker der Grünen, die auf Demos mitlaufen, auf denen „Deutschland verrecke“ oder „Deutschland, du mieses Stück Scheiße“ geschrieen wird. Die meisten bleiben passiv, in dem sie nichts dagegen unternehmen.

Der Minderwertigkeitskomplex nach dem Zweiten Weltkrieg sitzt tief. Natürlich ist es unsere Pflicht all die Verbrechen anzuerkennen, uns ihnen zu stellen, und die richtigen Lehren daraus zu ziehen. Nur dann kann man aus ihnen erstarken und seinen positiven Teil zum Weltgeschehen beitragen. Aber aus Hass kann nichts Gutes werden und darum kann auch Selbsthass keine gesunde Identität begründen.

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Wer sich selbst schändet, ist nur feige, hat eigentlich Angst vor sich selbst und ist nicht in der Lage, etwas aus seinem Leben zu machen. Der kann keinen Respekt in der Welt genießen, weil er ihn schlicht nicht verdient. Spätestens mit den Achtundsechzigern und ihrem Marsch durch die Institutionen, hat sich dieser Selbsthass über Bildungs-, Kultureinrichtungen und Medien, also über die Schmieden der geistigen Zukunft und des öffentlichen Diskurses gelegt.

Nachdem 1989 verpasst wurde, dieses Land wirklich mit einem gesunden Selbstbewusstsein zusammenzuführen, driftet es mehr auseinander als je zuvor, in Ost und West, in arm und reich, in links und rechts. Die Merkel-Regierungen haben diesen Vorgang mit Hochdruck befeuert – indem sie sich bei der Grenzöffnung 2015 über den Rechtsstaat  hinwegsetzten, indem sie den Sozialstaat durch uneingeschränkte Immigration gefährden und indem sie einer linken und grünen Hypermoral folgen. Diejenigen, die die Interessenvertreter der Deutschen sein sollten, hacken seit Jahren an den Säulen ihres eigenen Staates.

Was bringt es noch, dem etwas entgegen setzen zu wollen, dieser Karikatur einer Nation, die sich diese Regierung gewählt hat und damit offenbar genau das will, was diese ihr antut?

Darin liegt die größte Perversion des ganzen Vorgangs: Der Schmerz ist selbst gewollt. Die Deutschen sind zu einem Volk von Masochisten geworden. Nach rationalen Maßstäben müsste ich hier aufhören und diesen Text in den Papierkorb schieben. Aber dieses Land ist nun einmal meine Heimat.

Die Entfremdung des Individuums und die Entfremdung der Nation sind miteinander verbunden, sie laufen im Gleichschritt. Jeder Tag, an dem wir dem nichts entgegensetzen, ist ein Tag mehr des Verlustes von Heimat an die Bedeutungslosigkeit.

Nur wenn sich eine Gruppe einem Individuum zuwendet und ihn bei seiner Suche nach sich selbst unterstützt, kann dieses sich so entfalten, dass es einmal die Gruppe mit seiner nun gereiften individuellen Qualität bereichern kann. Langfristige Beziehungen jeglicher Art können nur funktionieren, wenn sie im Innersten, aus der eigenen Identität heraus miteinander verknüpft sind, also ursprünglich entwickelt und nicht durch Indoktrination ideologischer Ziele oder systematischen Verführungen wie Geld, unterworfen sind. Und glückliche Beziehungen sind, wie Robert Waldingers Grant-Studie gezeigt hat, der Hauptfaktor in der Gleichung des Glücks.

Wir stehen also an einem Scheideweg. Wenn wir als Deutsche nicht lernen, uns für das, was wir sind, zu schätzen, verliert jeder Einzelne seine Bedeutung im Leben und damit die ganze Nation ihren Zweck. Dann sind wir wirklich am Ende.

Wir Deutsche müssen uns endlich uns selbst stellen und damit der Frage, die wie keine andere seit Jahrzehnten, vielleicht Jahrhunderten auf der deutschen Seele brennt. Die Frage nach der eigenen Identität – Wer sind wir?

Nicht weil diese Identität neu definiert und entworfen werden müsste. Und schon gar nicht, weil Leute wie die ehemalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz keine deutsche Kultur jenseits der Sprache erkennen konnte, sondern vielmehr zum Trotze zukünftiger Anschläge dieser Art, sodass endlich der Grundstein gelegt werden kann für eine den Bürgern bewusste, lebendige deutsche Identität.

Ich komme nochmal auf den Fußball zurück, erinnere mich an das „Sommermärchen“ 2006 – Die Welt zu Gast bei Freunden. Auf Youtube gibt es einen Rückblick. Wie hatte ich mitgelitten damals im Elfmeterschießen gegen Argentinien und wie war die Freude aus mir herausgebrochen, als Lehmann gegen Cambiasso hielt. Ich sehe das Gesicht von Jürgen Klinsmann nach der Halbfinalniederlage gegen Italien in die Weite des ehemaligen Westfalenstadions blicken. So enttäuscht und doch so überzeugt, so klar zielgerichtet und doch so nachdenklich. So verwurzelt im Eigenen und gleichzeitig, nein gerade dadurch, so offen für die ganze Welt.

Wir wussten, wer wir waren – mit einer starken Achse um Frings und Ballack im Mittelfeld, die von erfahrenen Spielern wie Lehmann hinter ihnen und Klose vor ihnen umgeben war. Da war die Ordnungsliebe von Schneider, der kesse Eigensinn von Philip Lahm, die Ruhe von Mertesacker, die Grobschlächtigkeit von Metzelder und der Spielwitz, die Naivität und der Überschwang der heranreifenden Poldolski und Schweinsteiger, die in ihrer freien Entfaltung bestärkt wurden, um so Fortschritt zu generieren und das Momentum der ständigen Innovation zu erhalten. Da war es doch, das Deutsche, verankert im Geist des Schaffens – welch ein Konzept.

Das war das letzte Mal, dass ich mich uneingeschränkt mit diesem Land verbunden gefühlt hatte, ganz unverstellt, in kindlicher, unberührter Naivität. Damals war ich 13, hatte noch nicht viel nachgedacht. Aber genau das ist doch die Schönheit von Identität. Genau darum geht es. Die kindliche Gewissheit der Zugehörigkeit. Das Urvertrauen in die Geburtsstätte, die aus deutscher Geschichte gewachsen war, die in meinen Eltern weiterlebte und in der ich mich in Freiheit entfalten konnte, ohne darüber nachdenken zu müssen.

Es geht nicht darum, andere zu besiegen und sich daran aufzugeilen, ein Deutscher zu sein. Nur wenn man sich selbst treu bleibt, nach gewachsenen Werten lebt, die man durchdrungen und verinnerlicht hat und bereit ist, für sie einzustehen, kann man wahre Siege erringen, sich Gefahren widersetzen und in Herausforderungen bestehen.

Jenseits des Fußballs lauern an allen Ecken und Enden echte Gefahren: Pandemien und andere Krankheiten, Cyberüberwachung, Islamismus, Bargeldabschaffung, Verlust einer offenen Debattenkultur, Einschränkung der Meinungsfreiheit, Charakterschwäche des Individuums, Leistungsabfall von Schülern und Studenten, Niedergang des Bildungsstandorts Deutschland, Niedergang des Industriestandorts Deutschland.

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Die Bürger sind verängstigt. Vielleicht ist das sogar bewusst gewollt, um sie, in steter Angst gehalten, glauben zu machen, sie seien auf Vater Staat angewiesen. So lässt sich Rebellionen oder gar Revolutionen vorbeugen. Und die Trickkiste der Massenpsychologie ist groß, wie wir von Rainer Mausfeld wissen. Ein verantwortungsvoller Kanzler schützt sein Volk vor äußeren Gefahren und prägt zudem, in emphatischer Zuwendung zu diesem, eine Kultur, die dem Einzelnen ein bedeutungsvolles Leben ermöglicht, nach innen. Merkel tut genau das Gegenteil. Sie saugt die Macht, die andere vor ihr fallen gelassen haben auf und tut nichts, als den Erhalt selbiger für sich zu sichern, indem sie sich in der Beliebigkeit versteckt. Wie lange wollen wir uns das noch gefallen lassen?

In der Identität ist alles miteinander verbunden und gewinnt Bedeutung. Das Selbst, die Gedanken, die Sprache, das Land, die Nation, und alles weitere, das daraus vielleicht mal entstehen könnte.

Es wäre an der Zeit, die deutsche Identität (wieder) zu finden. Denn nur wenn das Individuum weiß, wer es ist und sich nach seiner Fasson, im Umgang mit ihn ermutigenden und ihm helfenden Mitbürgern entwickeln kann, kann eine ganze Nation im Glanze ihres Glückes blühen.

In der Sendung „Im Dialog“ sagt Thea Dorn am Ende, sie fände die Aufrechterhaltung von Freiheit wichtiger als sich selber. Ja, aber die Freiheit ist an die Identität geknüpft, die diese erst zu schätzen gelehrt hat. Ein perpetuum mobile, das stets verteidigt werden will. Heute mehr denn je.


Von Felix Hackmann


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