Tichys Einblick
Helmut Kohl: Von Straßburg nach Speyer

Fragen zum Trauerakt im Blick auf das neue Europa

Welches Deutschland wird in knapp einer Generation nach Helmut Kohl in der Mitte Europas noch existieren? Ein europäisches Land deutscher Sprache, reich an Geschichte und Gedanken? Unkenrufe gehören nicht zum Programm von Trauerreden ...

Dom zu Speyer

Es gibt keine nationale Trauerfeier für den Helmut Kohl, den „Kanzler der Wiedervereinigung“. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sogleich nach Ableben Kohls angekündigt, die politischen Exequien würden in Form eines europäischen Staatsaktes in Straßburg (ehedem Freie Reichsstadt) im Europäischen Parlament –  im Volksmund bekannt als „der Bunker“ – stattfinden. Aus dem „Staatsakt“ ist aufgrund der noch fehlenden Staatlichkeit EU-Europas inzwischen ein „Trauerakt“ geworden. Es heißt, die Zeremonie in Straßburg sei noch von dem siechen Kohl festgelegt worden, um Merkel und Steinmeier einen großen Auftritt in Berlin zu verwehren. Auch habe Kohl als Trauerredner auch Viktor Orbán vorgesehen. Zur Erinnerung: Als unmissverständliches Zeichen seiner Ablehnung der von Merkel  verfolgten „Migrationspolitik“ hatte der an den Rollstuhl gefesselte Kohl im April 2016 den von Multikulti-Ideologen und der Brüsseler Bürokratie gehassten ungarischen Regierungschef Viktor Orbán in sein Heim eingeladen. Orbán ist nunmehr nicht auf der Liste der Trauerredner zu finden. Dass umgekehrt Merkel – neben Juncker und Bill Clinton – eine Rede halten soll,  lässt auf  „europäisch“ veränderte Regie schließen.

Geschichtsnostalgischen Deutschen bleibt somit noch das große Requiem für Kohl  im Speyerer Dom, in der Grablege der salischen Kaiser, eines Staufers und des ersten Habsburgers Rudolf I. Den postnationalen TV-Konsumenten hingegen dürfte  indes die Erinnerung an das Heilige Römische Reich, das Herzstück des alten Europa, dabei so fremd sein wie unseren Neubürgern.

Von derlei Wahrnehmungen unberührt, ist es angebracht, zu fragen, wie es nach Emmanuel Macrons „überwältigendem“ Wahlsieg – bei knapp 43 Prozent Wahlbeteiligung – und nach dem offenbar nicht abzuwendenden Brexit mit Europas Zukunft bestellt sein wird. Bedrohliche Indizien dafür, dass Europa im 21. Jahrhundert eine gänzlich andere Gestalt annehmen könnte als das nach den Verheerungen des 20. Jahrhunderts von den großen Staatsmännern angestrebte, von Frieden und Freiheit erfüllte „gemeinsame Haus Europa“, gibt es zur Genüge. Es ist unvorstellbar, dass der geschichtsbewusste Staatsmann Kohl sich angesichts der massenhaften Immigration aus dem Orient als politischer Schutzpatron eines unlängst verkündeten „Tages der offenen Gesellschaft“ (zum 17.Juni, ehedem (west-) deutscher Nationalfeiertag) hergegeben hätte.

Mit dem Staatsakt in Straßburg zelebriert sich eine europäische politische Elite, die vermeint, durch immer neue Akte der Zentralisierung ein von ökonomischen Ungleichgewichten sowie von ethnographischen und sozial- kulturellen Krisenphänomen gezeichnetes komplexes Gebilde von – teilweise auf ihre erst 1989/91 zurückgewonnene Souveränität erpichten – Staaten zu einer „immer engeren Union“ zusammenfügen zu können. Die Frage, wie sich dieses politische Gebilde, instabil nicht allein in seinen, dem nahöstlichen Krisenraum benachbarten Mitgliedstaaten, im globalen Mächtespiel des 21. Jahrhunderts – in tendenziell wachsender Distanz zur Hegemonialmacht USA – als handlungsfähige Einheit erhalten und durchsetzen kann, wird in den Trauerreden kein Thema sein. Auch nicht, wie lange das dank der Deutschen in der DDR, dank Ronald Reagan, Michail Gorbatschow, Gyula Horn und Helmut Kohl wiedervereinte Deutschland seine unbequeme, auf ökonomischer Stärke Führungsrolle in der Mitte Europas behaupten kann – und unvermeidlich spielen muss.

Schließlich: Welches Deutschland wird in knapp einer Generation nach Helmut Kohl in der Mitte Europas noch existieren? Ein europäisches Land deutscher Sprache, reich an Geschichte und Gedanken? Unkenrufe gehören nicht zum Programm von Trauerreden…