Tichys Einblick
Ein Spaziergänger berichtet

„Eine Bürger-Demo in Berlin“ und eine aggressiv agierende Polizei

Ganz normale Bürger sah man da beim Schlendern in Berlin. Sie erzählen, was sie ärgert: Gängelei und Umerziehung erwachsener Menschen werde unerträglich. Manche reden auch komische Sachen. Und dann kamen Polizisten, die harmlose Bürger wie Schwerverbrecher behandelten.

imago Images/Stefan Zeitz

Wer am frühen Sonnabendnachmittag gezielt oder auch nur so auf die Straße des 17. Juni im Herzen Berlins von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor entlang schlenderte, war zuerst ein wenig verwundert über die vielen Polizeitransporter, die quer zur Straße standen. „Polizist*Innen“ in größerer Zahl waren nicht zu sehen – warum sollten sie auch? Denn nur wenige Schritte weiter war klar, dass es sich um ein Bürgerfest oder Get-Together der Berliner Mittelstandsvereinigung handeln musste. Demonstranten, wie man sie sonst in Berlin so kennt, konnten es jedenfalls nicht sein. In der Regel handelte es sich um sauber gekleidete Menschen, die regelmäßig den Friseur aufsuchen und ihre Steuern bezahlen, vor allem aber, kein Einziger trug Brandflaschen, Eisenstangen oder Wurfgeschosse – was man sonst in diesen Kreisen am Wochenende so mit sich führt.

Das Ganze schien doch einen anderen Sinn zu haben. Auf einer Reihe von Schildern und Spruchbändern bekundeten die Teilnehmer der Veranstaltung ihre Kritik an der Corona-Politik der Bundesregierung. Erst jetzt fiel dem verwunderten Spaziergänger auf, dass die Meisten ohne Mund-Nase-Masken und auch ohne Einhaltung des sogenannten Pflichtabstandes bei aller Meinungsfreude die Bilderbuch-Sommersonne genossen. Unser naiver Spaziergänger begab sich in die unübersehbare Menge, deren Teilnehmerzahl je nach Blickwinkel im Nachhinein zwischen 15.000 und 1 Million schwankt. Die Wahrnehmung der Polizei (wobei die sich mehrfach widersprach) und der gesamten veröffentlichten Meinung in Funk und Pressewald einerseits und der persönlichen Wahrnehmung sowie den Angaben des Veranstalters andererseits war offenbar sehr konträr.

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Doch zurück in die Menge: Viele bekundeten, dass sie überhaupt zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben auf einer Demonstration seien. Eine Dame, Mitte der 50er, in sportlichem Sommerkostüm und aus der Nähe Stuttgarts, bekannte, sich dabei noch etwas enger an ihren Mann schmiegend, dass sie doch etwas Angst habe. Man höre ja aus Berlin immer so viel Schreckliches. Der Mann beruhigte sie: „Musst Du nicht haben, Schätzchen, hier ist doch alles friedlich, nirgendwo ist Zoff.“ Und tatsächlich war es auch so. Was sich hier zu über 3/4 versammelt hatte, war ein ganz normaler Durchschnitt der Bundesbürger mit vielen Älteren über 50, etwas weniger in den 40ern, dafür aber überraschend viele junge Menschen. Unser Berlin-Pilgerer, der selbst kein Gegner der Corona-Maßnahmen ist, fragte in eine Runde, ob es außer dieses Erregers und seiner Auswirkungen noch andere Gründe gäbe, hier dabei zu sein. Sofort machten die Menschen ihrem Herzen Luft. Die Beraubung unserer Freiheit und der Zwang wegen Corona sei ja nur das Eine, die ganze Gängelei und versuchte Umerziehung erwachsener Menschen werde allmählich immer unerträglicher und gehe den Leuten langsam aber sicher „auf den Sack“.

Nachgefragt sprudelte es weiter: Man darf nicht mehr essen, was man will – am liebsten alle werden Veganer, Geschlechter gibt es nicht mehr, das sind alle keine biologischen, sondern sozial-bedingte Manipulationen, versuche man schon den Kindern einzureden. Dazu komme die Verhunzung unserer so schönen deutschen Sprache durch das Gegendere. Und wenn man eine Frau mal so richtig sexy fände und ihr das auch sage, müsse man sich angesichts der Tugendwächter gleich als Vergewaltiger fühlen. Das hält man doch auf Dauer nicht aus. Auch, wer sich für die Krone des deutschen Autobaus, einen SUV, entscheidet, ist gleich eine Straßengangster mit toxischer Männlichkeit.

Sehr schnell fiel dann auch der Name Merkel. Eines ist klar, hier hat die Kanzlerin mit dem traurigen Blick keine Freunde. Bislang aber, so fand unser Schlenderer, ist das Ganze ja doch im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Etwas später stößt er auf eine Gruppe, deren Mitglieder Kerzen in der Hand halten, sie seien vor allem für den Frieden und die baldige Wiederankunft Jesu. Die älteren Damen und Herren kamen aus dem Südwesten der Republik und nannten dann aber auch gleich ihr Hauptmotiv. Schon seit langer Zeit, mehreren Jahrhunderten, habe der Satan die Vernichtung der Menschheit oder zumindest ihre Unterjochung beschlossen. Sein Instrument sei eine Weltverschwörung, die sich in den Finanzzentren der Wall Street versteckt habe und die Erde Stück für Stück gemäss ihres Wahnes damit überzöge und durch den erfundenen Coronavirus in Panik versetze, um die große Revolution im Namen Satans durchzuführen. Dann fallen noch ein paar Begriffe wie „die Bilderberger“, das Rockefeller-Syndikat und die Clique um George Soros und Bill Gates. Auf die Frage, wie denn eine solche „Weltregierung“ angesichts der milliardenfachen Kommunikations- und Entscheidungsprozesse individueller Personen, selbst wenn es sich um konkurrierende Eliten handele, überhaupt funktionieren könne, blieben diese Teilnehmer der Demo die Antwort schuldig. Aber der Kreis dieser Leute ist überschaubar.

An der Seite nahm der weiter sich Umschauende nun Sprechchöre einer phänotypisch ganz anderen Spezies Mensch wahr. Laut skandierten sie: „Nazis raus“, „Nazis raus“, „Nazis raus“. Oh je, dachte unser Berlin-Besucher, bin ich denn schon blind? Denn er hatte wirklich noch keinen einzigen Nazi entdeckt. Aber natürlich, sagte seine innere Stimme, müssen ja welche hier sein, darüber spricht ja sogar die Tagesschau und jeden Tag der Deutschlandfunk. Unser Mann ist jetzt innerlich richtig sauer auf sich selbst. Doch da, etwa 30 Meter entfernt, entdeckt er endlich einen kleinen Haufen – nicht mehr als sieben Leute, die irgendwie so aussehen wie Nazis. Ein Mann mit freiem Oberkörper, auf dem unendliche Tätowierungen verewigt sind, darunter auch germanische Runen und ein Hakenkreuz. Auf dem Rücken eines anderen steht: „Deutschland ist stark! Deutschland ist niemals besiegt worden“. Eine junge Frau schwenkt die schwarz-weiß-rote Fahne des Kaiserreichs, zwei andere in schwarzer Kleidung machen um die Wette Liegestütze, drei junge Frauen feuern sie an.

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Wahrscheinlich, so denkt unser Mann, handelt es sich hier um einen Vorposten, die eigentlichen deutschen Divisionen werden wohl weiter hinten stehen. Entdecken kann er sie aber jetzt und auch später nicht. Also sind wohl doch nicht so viele Nazis hier. Klar, denkt er, angesichts der vereinzelt flatternden amerikanischen, polnischen und ungarischen Flaggen, hätten rassisch reine deutsche Jungs den kulturlosen Amilappen und den „Polackenfetzen“ nebst dem Ungarnbanner längst heruntergerissen. Doch nun wird alles vom Geschehen auf der Bühne gefesselt.

Der Versammlungsleiter teilt mit, dass die Polizei die Veranstaltung auflöse, wenn sich die Personen nicht von selbst auf den Weg machten. Als Grund seien Verstöße gegen die Corona-Bestimmungen genannt worden. Geschehe dies nicht, werde man die Kundgebung mit polizeilichen Zwangsmitteln auflösen. Die Menge antwortet mit einem zigtausendfachen: „Buh“. Der Versammlungsleiter bittet darum, keinerlei Widerstand zu leisten, sich passiv zu verhalten und auf den Boden zu setzen. Nun beginnt ein eigenartiges Schauspiel, so dass der Besucher verwirrt glaubt, das Ganze habe sich in eine Open Air-Show verwandelt.

Gerüstet und verkleidet wie die Außerirdischen, stürmt eine Gruppe galaktischer Krieger die Bühne und trägt die Veranstalter einfach weg. Gleichzeitig ziehen von den Seiten weitere Stammeskrieger mit Sturmhauben ein. Die Menschen begrüßen sie freundlich mit den Worten „schließt Euch an“. Als die Menschen merken, dass die da vorn nichts Gutes im Schilde führen, wechseln sie zum Chor „Schämt euch, schämt euch“. Die im übrigen sehr jungen Berliner Polizisten haben traurige bis verzweifelte Gesichter. Vielleicht fragen sie sich, was sie hier eigentlich sollen. Gleichzeitig scheinen sie erstaunt zu sein, dass nicht wie sonst Steine, Fäkalien und Brandsätze auf sie geschleudert werden, und stattdessen ihnen ein „Wir bleiben hier“, unterbrochen von einem selbstbewußten „Wir sind Viele, wir sind auch Wer, wir sind das Volk“ in die Ohren schallt.

Nun passiert erst einmal nichts, die Polizei-Einsatzleitung muss wohl ratlos sein – was wären das für häßliche Bilder, wenn die Menschen im Lande später auf den Bildschirmen sehen müssten, wie ganz normale Menschen wie du und ich weggeschleift werden. Und tatsächlich: Die Krieger, so schnell wie sie gekommen sind, ziehen sie auch wieder ab. Unserem Mann fällt ein Stein vom Herzen. Na klar, denkt er, die Polizei ist ja im Recht. Aber wegen eines so bisschen „zivilen Ungehorsams“, das wir von Straßenblockaden für den Frieden oder das Klima, ganz zu schweigen von den Zwangsstopps der Castor-Transporte ja schon so lange kennen, werde man sicher auch hier ein Auge zudrücken. Das eben Geschilderte wiederholt sich mehrere Male, es scheint so, als ginge dieser Tag so friedlich zu Ende, wie er begonnen hatte.

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Doch wer so denkt, kennt die Berliner Polizei nicht. Vielleicht findet so mancher Einsatzleiter und Gruppenführer das Ganze auch nicht so schön, aber Befehl ist am Ende eben doch Befehl. Immerhin haben sich in unserer Geschichte schon des Öfteren die Vollstrecker bei späteren kritischen Fragen auf den Befehlsnotstand berufen. Außerdem, ein paar Verhaftungen muss es geben, schon des eigenen Selbstverständnisses und der Karriere wegen. Klug, wie unsere Polizeiführer nun mal sind, greift man nicht von vorn an, sondern rückt von der Siegessäule aus mit Greiftrupps von jeweils 9 – 12 Kriegern an. Die ihnen Entgegenkommenden und sich auf dem Heimweg befindlichen Menschen können nicht fassen, was jetzt passiert. In äußerst rüder Form („Da geht’s lang, Freund’chen, aber sofort!“, „Hier gibt’s nichts mehr zu gucken, verschwinden Sie“, und so weiter) raunzen die Beamten der EB 22 Menschen in auch sehr fortgeschrittenem Alter an. Stellen diese so Bedrängten Fragen, nähern sich zwei oder drei Beamte und gehen so nah an die Person heran, dass das weitere Geschehen nicht mehr eindeutig zu verfolgen ist. Später wird die Widerstandshandlung auf den Festnahmeprotokollen stehen. Aber erst einmal knallen die Körper auf den Boden, harmlose Bürger werden behandelt wie Schwerverbrecher – bis zu sechs Beamte knien auf ihren häufig älteren Opfern. Von außen schirmt sofort eine weitere Gruppe von Kriegern in einem Kreis das Sichtfeld ab. Vorbeilaufende Menschen, die sehen wollen was da geschieht, werden derartig gegen die Brust gestoßen oder gepackt und wie ein Stück Holz zu Boden geworfen.

Später wird man ihnen die Behinderung polizeilichen Handelns vorwerfen. Auch unser Beobachter ist jetzt fassungslos und geschockt. Sowas hatte er bisher nur in Berichten aus Polizeistaaten oder der früheren DDR gesehen. Außerhalb der Absperrungen trifft er auf einen Mann in den Mittdreißigern aus Magdeburg. Seine Frau und die etwa 10jährige Tochter haben auf den jungen Architekten gewartet. Ein Freund fotografiert die Hämatome, die großflächig über den ganzen Körper verstreut sind. Man werde jetzt auch einen Arzt aufsuchen und später Anzeige wegen Körperverletzung erstatten. Plötzlich sagt der Mann: „Ich bin ganz ehrlich, ich habe Todesangst gehabt. Ich wurde in einen dunklen Wagen geworfen in dem Metallstangen lagen. Aufgrund meiner Körperlänge hingen meine Füße noch heraus – man hob sie an und quetschte mich mit aller Gewalt zwischen die Stangen, dann fiel die Tür zu, und ich dachte das war’s.“ Befehl perfekt ausgeführt, kann man dazu nur sagen.

Am nächsten Morgen beim Studium der Sonntagszeitungen und dem Hören der Nachrichten zweifelt der Mann an seinem Verstand. Eine Veranstaltung von Neonazis, Geisteskranken und Corona-Leugnern von nicht mehr als höchstens 20.000 Teilnehmern habe sich mehr oder weniger von selbst aufgelöst. Der Regierende Bürgermeister Müller (SPD) bezeichnete die Teilnehmer später als Menschen, die von außen nach Berlin reisten, um hier Randale zu machen.

Ein Vorschlag zur Güte: Vielleicht sollte man nur noch eine Zeitung erscheinen lassen. Ein guter Titel wäre doch „Unser buntes Deutschland“. Wenn alle Zeitungen das gleich Falsche berichten, wozu dann der redaktionelle und materielle Aufwand – schon unter Aspekten der Nachhaltigkeit und Ökologie wäre das eine gute Idee.

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Auch sollte die Polizei nicht mehr ausrücken zu Veranstaltungen der extremen Linken, wenn sie dort eh nicht eingreifen oder auch die kriminellen Zustände in der besetzten Rigaer Straße einfach dulden. Für die Polizei gäbe es nämlich auch noch andere Aufgaben.

Die speziellen Greiftrupps scheinen ja eine besondere Ausbildung im Umgang mit älteren Menschen erhalten zu haben. Das Motto dabei: „Lieber gleich flachlegen, bevor sie umfallen“. Beim aktuellen Pflegenotstand in unseren Altenheimen wäre das doch ein gutes Angebot.

Ein paar mehr Beamte bei KFZ-Zulassungsstellen wären in Berlin ein tolles Geschenk an die Bürger und Steuerzahler. Und noch eine gute Geschäftsidee liegt auf der Hand. Wetten, dass eine Verleihfirma für den verschiedensten Bedarf an Extremistentracht von SS-Uniformen über Salafisten-Trachten bis hin zum Antifa-Outfit – da könnten Journalisten entsprechend des jeweiligen Auftrages gleich geeignete Komparsen zu den Veranstaltungen mitbringen, damit sie nicht immer so lange nach den Objekten ihrer Begierde suchen müssen.

Auf der Fahrt im Zug zurück nach Hause fällt unserem verwirrt abreisenden Berlin-Besucher ein kleiner Aphorismus des in Stasi-Haft tödlich erkrankten Dissidenten Jürgen Fuchs ein: „Alljährliche Meldung des DDR-Fernsehens zur wirtschaftlichen Lage am Jahresende: ‚Auch in diesem Jahr fielen beim Hobeln unserer Bretter keinerlei Späne‘.“

Wie die Geschichte ausging, ist bekannt.

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