Tichys Einblick
Deutschland als Verlierer in Europa

Die Welt der Illusionen zerbricht – und damit auch Deutschlands Zukunft

Der Krieg in der Ukraine stellt die gesamte politische Kultur der Bundesrepublik in Frage. Diese beruht auf der Grundannahme, dass es niemals so etwas wie einen Ernstfall welcher Art auch immer geben könne. Die Deutschen müssten sich neu erfinden. Aber die Chancen stehen schlecht.

IMAGO / Shotshop

Der russische Einmarsch in die Ukraine hat die Welt tiefgreifend verändert. Noch im vergangenen Jahr hatte keine einzige westliche Regierung mit einem solch radikalen Schritt gerechnet, aber ohne Zweifel wurde die deutsche politische Klasse, die bis zuletzt auf eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland gesetzt hatte, von den Ereignissen besonders stark überrascht. Deutschland hat in den vergangen 30 Jahren seine Armee ganz bewusst in einen Zustand der vollständigen Nicht-Einsatzfähigkeit versetzt. Es waren dafür keineswegs nur Sparmaßnahmen verantwortlich, sondern auch die Ablehnung der Bundeswehr durch große Teile der Politik und der Gesellschaft insgesamt, die weit über die Vorbehalte gegenüber den Streitkräften hinausging, die es auch vor 1989, auch als Folge des Zweiten Weltkrieges gab. Keine Ministerin der letzten Jahre verkörperte diese Haltung so perfekt wie Ursula von der Leyen mit ihrem Kampf gegen Bilder des früheren Bundeskanzlers Schmidt in Wehrmachtsuniform (als junger Leutnant) in den Kasernen und ihrem großartigen Versuch, Stahlhelme aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges als Sammlerobjekte in der Bundeswehr zu verbieten. Unvergessen auch ihr Bemühen, für Schwangere jederlei Geschlechtes den Militärdienst und insbesondere auch das Panzerfahren attraktiver zu machen.

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Es ist ein zutiefst beunruhigender Gedanke, dass ausgerechnet diese Frau jetzt an der Spitze der EU steht, der es in ihrer politischen Karriere nie um etwas anderes ging als um eine möglichst wirkungsvolle Selbstinszenierung. Aber auch in anderer Hinsicht stellt der Krieg in der Ukraine die gesamte politische Kultur der Bundesrepublik in Frage. Diese Kultur beruhte namentlich in den letzten 15 bis 20 Jahren immer mehr auf der Grundannahme, dass es niemals so etwas wie einen Ernstfall welcher Art auch immer geben könne. Einen Verteidigungsfall natürlich ohnehin nicht – das war undenkbar geworden bis gestern –, aber auch keine Knappheit von Treibstoff oder Strom, keine allen Wohlstand vernichtende Inflation, keine wirklich schwere Wirtschaftskrise, die ja nur andere Länder erlebten. Es entwickelte sich auf der Basis eines Gefühls der Sekurität eine Kultur des selbstzufriedenen Moralismus, der gerne andere belehrte und andererseits von dem Glauben geprägt war, dass Deutschland zur Not ganz allein die ganze Welt retten könne, sei es nun mit Blick auf den Klimawandel oder auf die globalen Migrationsströme.

Es ging jedes Gefühl dafür verloren, dass ein Staat, dessen Bürger sich mit dem Gemeinwesen in keiner Weise identifizieren und es lieber heute als morgen zugunsten einer supranationalen Ordnung auflösen wollen, kaum eine Zukunft hat. Kann man sich wirklich junge deutsche Akademiker vorstellen, die im Falle eines feindlichen Angriffs aus dem Ausland, wo sie Stipendien oder Mitarbeiterstellen haben, in ihr Land zurückeilen, um einen Beitrag zu seiner Verteidigung zu leisten, wie es so viele Ukrainer tun? Wohl nur mit sehr großer Mühe. 

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Wir haben uns gerade in den letzten Jahren immer mehr – wie viele andere westliche Länder – mit sogenannten Mikroaggressionen jeder Art beschäftigt. Aber wer glaubt, der gesellschaftliche Frieden werde untergraben, wenn jemand das generische Maskulinum verwendet oder sein Aspirin in der „Mohrenapotheke“ kauft, der wird fast notwendigerweise hilflos sein, wenn er mit einer wirklichen gewaltsamen Aggression konfrontiert ist, die Freiheit und Leben in elementarer Weise bedroht, weil ihm der Sinn für den richtigen Maßstab gänzlich verloren gegangen ist. Das ist natürlich keine spezifisch deutsche Entwicklung. Für Großbritannien hat auf ähnliche Entwicklungen mit einigem Recht zum Beispiel der russischstämmige Komiker Konstantin Kisin, ein Kämpfer gegen den Selbsthass des Westens und die Hypokrise der linken Sittenrichter, wiederholt hingewiesen. Sicher dürfen wir die Kunst nicht verlernen, einen kritischen Blick auf unsere eigene Geschichte zu werfen – diese Gefahr dürfte in Deutschland freilich zu allerletzt bestehen –, aber wenn wir unsere Geschichte gänzlich verwerfen, woher wollen wir dann den Mut nehmen, einem Aggressor entgegen zu treten? 

In Lemberg (Lwiw) im Westen der Ukraine, der alten galizischen Stadt, die polnisch, aber auch habsburgisch geprägt ist, werden jetzt die Statuen und Monumente auf öffentlichen Plätzen eingehüllt, um sie gegen Beschuss und Bomben so gut es geht zu schützen. Wir hingegen im Westen stürzen die Denkmäler, die uns an unsere Geschichte erinnern. Das freilich ist ein allgemeines westliches, besonders angelsächsisches Phänomen, kein spezifisch deutsches, dennoch bleibt die Erkenntnis, dass kaum eine westliche Gesellschaft sich so sehr einem postheroischen Selbstverständnis verpflichtet fühlt wie unsere. Nur Opfer haben in dieser Perspektive eine Würde, niemals die Täter, auch dann nicht, wenn sie unter Einsatz ihres Lebens die Sache der Freiheit verteidigen, wie jetzt so viele Ukrainer. Es ist schwer vorstellbar, dass sich diese in mentalen Tiefenschichten verankerte Grundeinstellung rasch in der Breite ändern wird, allenfalls wird sie durch eine kurzfristig dominante Kriegsrhetorik überdeckt, die dann selbst ins Maßlose umschlägt, weil sie keinen Raum mehr lässt für politische Lösungen und blind die Gefahr eines Weltkrieges in Kauf nimmt, aber auch Feindbilder schafft, die am Ende nicht nur Putin und seinen Machtapparat ächten, sondern alles Russische überhaupt, wie in den schlimmsten Zeiten eines übersteigerten Nationalismus. Und zum Teil sind es dieselben Moralapostel, die an jeder Ecke „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ und Rassismus unterstellen, wenn man zum Beispiel gewisse Defizite des heutigen Islam kritisiert, die nun die gesamte russische Kultur und alle Russen auf die Anklagebank setzen und zu einer Art Kreuzzug gegen das Böse schlechthin aufrufen. 

Bei allem berechtigten Abscheu vor Putin dürfen wir uns nicht auf eine Eskalationsspirale einlassen, die zu einem Weltkrieg führen könnte und uns jeden Weg verbaut, den Krieg zumindest durch einen Waffenstillstand zu beenden – wie man einräumen muss, ist eine stabile Friedensordnung, so lange Putin an der Macht ist, schwer vorstellbar geworden.

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Allerdings wird Deutschland in der neuen europäischen Ordnung in Europa so oder so kaum noch eine relevante Rolle spielen. Wirtschaftlich wird der Abstieg, der sich schon vorher abzeichnete, sich jetzt massiv beschleunigen. Wenn in zehn Tagen in der Ukraine kein Waffenstillstand erreicht ist, dann wird man uns, was immer sonst geschehen mag, zwingen, ein Gasembargo gegen Russland zu verhängen. Es wird einfach nicht zu verteidigen sein, dass wir durch den Kauf von Gas Putins Krieg finanzieren, obwohl die Wirkung solcher Sanktionen auf das Kriegsgeschehen in Wirklichkeit zweifelhaft ist. Dauert ein solches Embargo mehr als ein halbes Jahr, dann werden ganze Industriezweige in Deutschland dicht machen müssen, denn so schnell wird ein Umstieg auf andere Energieträger nicht gelingen, weder auf erneuerbare noch auf Flüssiggas (das überdies extrem teuer ist). Aber weil Deutschland tatsächlich eine so stark russlandfreundliche Politik betrieben und überdies der Ukraine bis zur letzten Minute Waffenlieferungen verweigert hat, sitzen wir jetzt auf der Anklagebank, bis zu einem gewissen Grade ja auch zu recht, obwohl wir keineswegs die einzigen sind, die auf russisches Gas gesetzt haben, man denke etwa an Italien – aber darüber spricht natürlich keiner. 

Was wird ein Gasembargo konkret erreichen? Putin wird daraus den Schluss ziehen, dass er den Krieg besonders rasch gewinnen muss, um vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor ihm das Geld ausgeht. Das geht dann nur mit noch mehr Brutalität und Gewalt, und er wird nicht zögern, diese Mittel anzuwenden, und zur Not die ganze Ukraine in eine Wüste verwandeln. 

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Danach ist natürlich eine Friedensregelung erst recht unmöglich, also werden die Sanktionen auf Dauer in Kraft bleiben wie nach der Besetzung der Krim. Sicher werden sie Russland erheblich schaden, aber vermutlich nicht genug, um auf Sicht von sagen wir 10 Jahren einen grundsätzlichen Systemwechsel herbeizuführen, zumal Russland keineswegs vollständig isoliert ist und neben Gas und Öl noch über zahlreiche andere Rohstoffe verfügt, die bei der jetzigen Marktlage wohl immer irgendwie einen Abnehmer finden werden. Am Ende werden wir wirtschaftlichen Selbstmord begangen haben, ohne dass wir die Ukraine retten konnten. Das freilich wird unseren wunderbaren Partnern in Europa fürs Erste egal sei, solange sie selbst die Folgen nicht zu spüren bekommen, weil Deutschlands Niedergang dann am Ende doch den Rest der EU nach unten zieht.
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Aber die massive Energiekrise, vor der wir jetzt in Deutschland stehen und die wir durch ein Embargo für russisches Gas noch einmal dramatisch verschärfen werden, ist in Europa nicht unser einziges Problem. Der französische Präsident Macron, der leidenschaftliche Gegenspieler Deutschlands in der EU, der sich fast als eine Art neuer Napoleon versteht, wird gestärkt aus dieser Krise hervorgehen. Seine Wiederwahl ist jetzt nur noch eine Formalität, da seine rechten Gegner Zemmour und Le Pen sich durch ihr Flirten mit Putin komplett ins Abseits manövriert haben und Pécresse in einer solchen Krise nicht genug an Charisma und Standing aufbieten kann. Macron wird das und die Krise an sich nutzen, um die EU in seinem Sinne radikal umzugestalten. Deutschland wird sich dem kaum entgegenstellen können, weil es dann faktisch als heimlicher Verbündeter Russland dastehen wird, der die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen der EU sabotiert wie schon – so sehen das viele unserer Nachbarn jedenfalls – in der Vergangenheit.

Was wird das Programm Macrons sein? Zum einen ein massiver Ausbau der gemeinsamen Verschuldung der EU im Sinne von Eurobonds wie schon in der Coronakrise; daraus wären dann eine gemeinsame Energiepolitik, aber auch Verteidigungsanstrengungen, nicht zuletzt unter Umständen auch Teile der Kosten der force de frappe, zu bezahlen. Ein erstes Treffen, das die Ausgabe solcher Eurobonds vorbereiten soll, ist bereits angekündigt. Es wird sinnvoller Weise in Versailles stattfinden. Einen besseren Ort hätte man sich sicher nicht aussuchen können dafür, wenn man in einer historischen Perspektive denkt. 

Theoretisch könnte Deutschland von einem gemeinsamen Verteidigungsfonds natürlich auch profitieren, aber Macron zusammen mit seinen Verbündeten wird schon dafür sorgen, dass wir der wichtigste Nettozahler bleiben, zumal wir durch unsere törichte Schuldenbremse rein fiskalisch sehr viel besser dastehen als viele andere europäischen Länder, darunter auch Frankreich selbst. Wir werden also in überproportionalem Maße die Zinslasten für Billionen neuer Schulden übernehmen müssen, das ist unausweichlich.

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Zum anderen wird Macron jetzt erst recht auf eine europäische Autarkiepolitik drängen. Europa, so wird das Argument lauten, muss versuchen, in wesentlichen Bereichen (Energie, Lebensmittel, Computertechnik) vom Weltmarkt stärker unabhängig zu werden. Kriege wie der jetzige stützen solche Argumente natürlich, und völlig falsch ist dieser Ansatz nicht, nur ist das Wirtschaftsmodell, dem sich die EU in Zukunft verschreiben wird, eben nicht verträglich mit unserer Tradition der Marktwirtschaft und des relativen Freihandels, auf dem in der Vergangenheit unser Wohlstand beruhte. Aber, wie schon betont, stoppen können wir diese Entwicklung nicht mehr, dazu ist unsere Position viel zu schwach und unser Schicksal liegt auch nicht mehr in unserer Hand, darüber bestimmen andere, in Washington, in Paris und in Brüssel.  Sicher mögen ein paar Deutsche darunter sein, aber sie können in der Regel wie Ursula v. d. Leyen mit ihrem Land nichts anfangen oder sind gnadenlos naiv wie so viele Europolitiker der CDU. Wir sind am Ende in der EU nur Untertanen, so wie in der Schweiz einst die Bewohner des Tessin in der Frühen Neuzeit, nur leider zu schlechteren Bedingungen.
Haben wir überhaupt noch Optionen?

Was können wir überhaupt noch tun? Wir müssen den Ehrgeiz aufgeben, unnötige Opfer zu bringen, um die Welt zu retten. Wenn man uns durch ein aufgezwungenes Gasembargo für unsere früheren guten Beziehungen zu Russland bestrafen will und uns immer neue gemeinsame europäische Schulden aufbürdet, so können wir das nicht verhindern. Sehr wohl aber können wir den Ehrgeiz aufgeben, bei der Energiewende Vorreiter zu sein, um die Welt vor dem Hitzetod zu retten. Diese Aufgabe müssen jetzt leider andere übernehmen, das können wir nicht mehr. Wir werden zumindest vorübergehend wieder stärker auf Braunkohle zurückgreifen müssen, so schädlich das auch ist. Vor allem aber werden wir neue Kernkraftwerke brauchen, die unsere Nachbarn ohnehin bauen werden. Sicher, im Krieg stellen solche Kraftwerke ein Risiko dar, aber wir werden dennoch keine Wahl haben, wenn wir als Wirtschaftsstandort überleben wollen. Wenn die gesamte Energiewirtschaft elektrifiziert werden soll – und das ist der Plan -, wird kein Bauprogramm für Windräder reichen, um in absehbarer Zeit genug Strom zuverlässig zu liefern. Vor allem aber müssen wir sofort die Schuldenbremse aufheben, die in einer Währungsunion, die auf eine immer höhere Verschuldung, permanente monetäre Staatsfinanzierung und steigende Inflation hin angelegt ist, keinerlei Sinn hat. Die Schulden wird die Inflation, die wir ohnehin nicht eindämmen können, weil auch darüber andere allein entscheiden, schon hinwegspülen. 

Aber leider werden wir, das haben die letzten 15 Jahre ja gezeigt, von Politikern regiert, denen sowohl Kompetenz als auch Verantwortungsgefühl meist fehlen, sonst wäre es gerade in der Energiepolitik nicht zu so katastrophalen Fehlentscheidungen gekommen, wie dies geschehen ist, unter Merkels Ägide, der angeblich größten Kanzlerin aller Zeiten, aber auch unter dem Druck der SPD und ihrer Putin-Connection. Von daher ist nicht zu erwarten, dass in Berlin das Notwendige geschieht. Fatal ist es überdies, wenn Politiker, die eine Partei vertreten, die wie keine andere den Nationalstaat auf dem Müllhaufen der Geschichte entsorgen will, und das wollen die Grünen nun mal, plötzlich von „nationalen Kraftanstrengungen“ reden, um die entbehrungsreichen Jahre und Jahrzehnte, die vor uns liegen, zu bewältigen und die unrealistische Energiewende doch zur Wirklichkeit werden zu lassen, wie Habeck das tut. Das ist Politikkitsch und schon fast etwas degoutant.

Kann man auf die politischen Entwicklungen überhaupt noch Einfluss nehmen? Über Wahlen wohl kaum, weil wir ein politisches System haben, das sehr gut darin ist, fundamentale Kritik auszubremsen und ihr die geballte Deutungsmacht der Medien und der politischen Klasse entgegenzustellen. In Brüssel hat man als Deutscher ohnehin kaum eine Stimme, weil es im Zweifelsfall immer übermächtige Zweckbündnisse der Gegner Deutschlands im EU-Parlament und im Rat geben wird, und unsere eigenen Abgeordneten ihre Aufgabe meist nicht darin sehen, die Interessen unseres Landes zu vertreten, sondern darin, sich bei den Vertretern anderer Länder beliebt zu machen. Vielleicht entsteht in Deutschland wie in Frankreich in einigen Jahren, wenn die Leute wirklich verarmen, ja eine Art Gelbwestenbewegung, um das Schlimmste zu verhindern, aber dazu müssten die Deutschen sich als Nation vollständig neu erfinden. Das dürfte ihnen kaum gelingen.

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