Tichys Einblick
Eingeständnis von Panik und Schwäche

Die Teilmobilmachung zeigt: Putin hat sich verzockt

Putin hat gegenüber der Welt seine Niederlage gegen die Ukraine eingestanden. Mag er auch noch scheinbar fest im Sattel sitzen – doch seine Tage sind gezählt. Und es scheint so, als ahnte er das auch.

Wladimir Putin bei seiner Fernsehansprache am 21.09.2022

IMAGO / Russian Look

Am frühen Morgen des 21. September verkündete Wladimir Putin die „Teilmobilmachung“ der russischen Streitkräfte. Parallel dazu wurde unterstrichen, dass in den derzeit noch von Russland besetzten Gebieten der Ukraine bereits am 22. September die geplanten Fake-Abstimmungen zum Beitritt zur Russischen Föderation beginnen sollen. Der russische Präsident garnierte seine Mittelung mit den üblichen Vorwürfen: Die Nato plane einen Krieg gegen Russland etc. – es lohnt nicht, den propagandistischen Unsinn zu wiederholen.

Tatsächlich hat Putin nun das getan, was gestern noch kaum möglich schien – er hat gegenüber der Welt sein Totalversagen und seine Niederlage im Kampf gegen die Ukraine eingestanden. Die Teilmobilmachung, die unmittelbar zur Folge hatte, dass die Flüge aus Russland in Staaten mit visumsfreier Einreise für Russen bis auf den letzten Platz ausgebucht sind und Tickets auf dem Schwarzmarkt zu horrenden Preisen gehandelt werden sollen, ist ein Eingeständnis der Schwäche und der Panik.

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Putin hat sich auf ganzer Linie verzockt. Auf Grundlage falscher Berichte aus den Reihen seines Militärs und seiner Geheimdienste hatte er den Überfall auf die Ukraine zum 24. Februar 2022 befohlen. Das Kalkül: schneller Vorstoß im Süden bis nach Transnistrien, vom Osten in die Industriegebiete und im Norden nach Kiew, wo sich nach Einschätzung der russischen Dienste zu diesem Zeitpunkt bereits die gewählte Regierung des Wolodymyr Selenskyj im Eiltempo nach Washington abgesetzt haben würde. Dort die Wiedereinsetzung des in der Maidan-Revolution geflohenen Viktor Janukowic als getreuer Statthalter Moskaus und die Ukraine ähnlich Belarus fest umschlossen von den Armen Moskaus.

Doch die Planung zerstob bereits in den ersten Wochen. Der Vorstoß auf Kiew scheiterte vor allem am mangelnden Nachschub. Angesichts der Erwartung, dass die russischen Invasoren am Abend des Einmarsches ihr Essen im Kiewer Supermarkt finden würden, war die Logistik auf längere Kampfhandlungen nicht ausgerichtet.

Im Süden konnte Russlands Überfall bis an den Dnjepr vorstoßen – doch taktisch völlig dumm hielten sich Russlands Elitetruppen mit der Einnahme der Stadt Mariupol auf, statt sie einfach zu umgehen und vom Mutterland abzuschneiden. Offensichtlich war die Angst vor dem dort stationierten Regiment Asow, gepaart mit dem Blick aus der ideologischen Brille, diese „Faschisten“ ausräuchern zu müssen, größer als jede militärische Vernunft.

Trotzdem gelang es Russland mit Unterstützung der Kollaborateurseinheiten aus den sogenannten „Volksrepubliken“, die Russland 2014 in der Ostukraine etabliert hatte, einschließlich der Krim und des Donbass, rund ein Fünftel des überfallenen Landes zu besetzen.

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Was folgte, war im Wesentlichen ein Stellungskrieg. Bis Anfang September die Ukraine nach einem wochenlangen Katz-und-Maus-Spiel erfolgreich die Gebiete nördlich und östlich der Metropole Charkiw befreien konnten. Die Tatsache, dass die russischen Einheiten offenbar Hals über Kopf geflohen sind, muss nicht nur bei den Kollaborateuren, die nun ihre Scheinabstimmungen umgehend durchziehen wollen, sondern auch in Moskau Panik ausgelöst haben.

Bislang war der Überfall auf die Ukraine, der in Russland nicht „Krieg“ genannt werden durfte (und nach den Regeln des Kriegsrechts auch keiner ist, sondern als terroristische Handlung gewertet werden muss), für die Bürger Russlands eher eine Art Live-Dokumentation im Television. Offizielle Kriegshetzer bedienten medial niedere Instinkte, verkündeten Erfolge und stießen gegen den bösen Westen wüste Drohungen aus. Das alles hatte für Moskowiter wie Omsker eher den Charakter einer etwas gruselnden Realityshow. Sie mochten zwar erste Nachteile durch die westlichen Wirtschaftssanktionen spüren – doch die Unmittelbarkeit eines Krieges traf die Menschen ausschließlich dann, wenn sie zufällig an jenen Tagen auf der Krim Urlaub gemacht hatten, an denen die Ukraine auf dem Militärstützpunkt Saki erfolgreich mehrere Militärmaschinen zerstörten. Und wie viele waren das schon.

Das ist nun schlagartig anders. Plötzlich stehen nicht nur die Mütter russischer Wehrpflichtiger, sondern die Frauen und Töchter jener Männer im Krieg, die als Altgediente ihre Knochen in der Ukraine hinhalten sollen. Die Reaktion darauf zeigt sich an jenen hochschnellenden Buchungszahlen. Und sie war offenbar von den politisch Verantwortlichen vorhergesehen worden. Das zeigen die plötzlichen Duma-Beschlüsse, die Wehrverweigerung und den Übertritt in Kriegsgefangenschaft weiter zu kriminalisieren, und die an jene Zeiten erinnern, in denen hinter der Front der Politoffizier stand, um jedem Deserteur die Kugel zu geben.

Die Teilmobilmachung ist eine Panikreaktion, die Putin den Kopf kosten kann. Nicht nur, dass die Eingezogenen nicht im Geringsten über die militärischen Fähigkeiten verfügen, um sich erfolgreich gegen die westlich geschulten Ukrainer zu stellen – es wird ihnen zudem jegliche Motivation fehlen, sich für Putins Versagen erschießen zu lassen. Ihre Köpfe werden bei ihren Frauen und Kindern sein – nicht bei einem Feind, der bis von 30 Jahren noch ihr Mitbürger und Bruder war.

Putin mag von einem totalen Krieg träumen, um sein Versagen nicht eingestehen zu müssen. Das taten vor ihm schon andere Gescheiterte. Doch die Russen von 2020 sind bei aller Indoktrination nicht mehr die Russen von 1940. Die vielgerühmte Leidens- und Opferbereitschaft ist ebenso Legende wie Putins Wunderwaffen, von denen in diesem Krieg bislang nichts zu sehen war. Vor allem aber mag der Diktator ja einen großen Krieg des Westens gegen Russland an die Wand malen – aber noch wurde kein einziger russischer Bürger von einem Nato-Soldaten erschossen; noch steht keine Wehrmacht vor Leningrad oder Moskau. In der Ukraine stehen sie nicht gegen Amis und Deutsche, sondern gegen Männer, die ihre Nachbarn sein könnten.

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Putin hat sich verkalkuliert. Was von dem schmächtigen KGB-Agenten aus den Hinterhöfen Leningrads als Zeichen der Stärke gedacht war, könnte sich schnell zu jener Schlinge entwickeln, in der sich sein Kopf verfängt. Nicht, weil der Westen es will – sondern weil sein Volk sich von ihm nicht länger in zaristisch-kommunistischer Tradition als willenloser Abschaum behandeln lassen wird. Und weil er es in den 20 Jahren seiner Regentschaft versäumt hat, aus dem flächenmäßig größten Land der Erde mit unermesslichem Potenzial an Menschen und Rohstoffen eine in der Welt anerkannte Wirtschaftsmacht zu formen. Stattdessen hat er das Land zurückgeführt in die düstersten Zeiten des russisch-sowjetischen Expansionismus, verfangen in einer Tradition des frühen 20. Jahrhunderts und gestützt auf ein Militär, dessen Führer bis heute in den Kategorien der Roten Armeen denken.

Russen sind geduldig und sie haben gelernt, ihre Führer zu fürchten. Putin aber hatten sie zumeist auch vertraut, weil sie ihm glaubten, dass sein Anliegen das eines erfolgreichen Russlands sei. Mit der Teilmobilmachung und dem Opfergang in die Ukraine werden sie begreifen, dass Putins eigentliche Motive jedoch ganz andere gewesen sind.

Russische Mütter sind gutmütig und vielleicht auch leichtgläubig. Aber Russen sind nicht dümmer als andere Europäer – und russische Mütter lieben ihre Söhne nicht weniger als amerikanische.

Kriegsspiele in der Ukraine und antifaschistische Propaganda – damit konnten sie noch leben, solange sie nicht persönlich davon betroffen waren. Aber zuschauen, wie die eigenen Liebsten für Putin auf die Schlachtbank geführt werden – für nichts als irgendwelche Großmachtfantasien und Herrschaftsparanoia?

Die Sowjetunion brach auch deshalb zusammen, weil das Politbüro den Menschen die Särge aus Afghanistan nicht mehr erklären konnte. Was will Putin den Russen erzählen, wenn nun die Särge von faktisch Zwangsrekrutierten zurückkommen? Oder wenn die Nachrichten von der Front ausbleiben, weil Putins mobile Krematorien die Toten haben verschwinden lassen?

Nein, der Mann im Kreml hat sich verzockt. Mag er auch noch scheinbar fest im Sattel sitzen – doch seine Tage sind gezählt. Und es scheint so, als ahnte er das auch.

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