Tichys Einblick
ultra-vires non obligat

Die Stunde der Wiesel

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner verzweifelten Navigation zwischen Skylla und Charybdis eine funktionierende Ultra-Vires-Kontrolle mit seiner gelieferten Urteilsbegründung praktisch abgeschafft - im Widerspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung.

© Uli Deck/AFP/Getty Images

Dass und warum die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank für unsere und die Zukunft unserer Kinder, den Zusammenhalt Europas und die Stabilität unseres Gemeinwesens Probleme heraufbeschwört, habe ich in einer Vielzahl von Artikeln an dieser Stelle Gelegenheit gehabt, darzulegen.

In dem Sinne, dass man die Dinge ja immer zu Ende denken soll (Ein Wahlspruch, den die Kanzlerin für sich in Anspruch nimmt, aber beim europapolitischen Fahren auf Sicht selten erfüllt) muss man sich ob der gewaltigen aufgetürmten Risiken auch weitere Gedanken machen: Zum Beispiel darüber, ob unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung die in absehbarer Zeit anstehende Erschütterung überstehen wird. Oder ob unser System vom Schleichpfad der Unfreiheit, auf den Maas und Konsorten es geschoben haben, auf die Autobahn-Überholspur in Richtung Tyrannei abbiegen wird.

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Um die Demokratie auf Spur zu halten, haben sich die von einer langen Reihe großer Denker der Aufklärung inspirierten Väter unseres Grundgesetzes auf ein System der wechselseitigen Kontrolle der Macht verschiedener Institutionen geeinigt. Die in Teilen als Vorbild dienende US-Verfassung spricht von „Checks and Balances“. Sie äußern sich zum Beispiel in Gewaltenteilung, der Herrschaft des Rechts und damit auch der Einklagbarkeit des Rechts.

Eine der wichtigsten Institutionen zur Sicherstellung des Rechtsstaats und der Demokratie in unserem Land ist das Bundesverfassungsgericht (BVG). Es sieht sich als Hüter der freiheitlich-demokratischen Grundordnung, oder tat das wenigstens bis vor kurzer Zeit. Neuerdings sind daran ernsthafte Zweifel begründet. Denn das von der Geldpolitik als Erfüllungsgehilfin der Fiskalpolitik geschaffene Dilemma hat es mittlerweile geschafft, diese Verteidigungslinie unserer Freiheit massiv zu beschädigen. Worin besteht dieses Dilemma und was ist da passiert?

Die Politik fiskalischer Verantwortungslosigkeit in den Peripheriestaaten der Eurozone plus Frankreich und die Unterlassung der Ahndung der permanenten Verstöße gegen den Vertrag von Maastricht hat eine Situation geschaffen, bei der die Geldpolitik wählen muss zwischen der verbotenen Staatsfinanzierung oder der Pleite dieser Staaten und damit dem Auseinanderbrechen der Eurozone, also dem Ende dieser Währung. Die fortgesetzte Akkommodation durch die Nullzinspolitik hat darüber hinaus durch die Zombifizierung der Unternehmen und der Bankbilanzen weitere, gigantische und bei Entladung unfinanzierbare Ungleichgewichte erzeugt. Es ist völlig klar, dass ein Zentralbankrat, der vor der Wahl steht, das Gesetz zu brechen (wofür er aufgrund seiner Immunität nicht belangt werden kann) und dem Verlust seines Jobs sowie der Abschaffung seiner machtvollen Institution sich für den Gesetzesbruch entscheiden wird. Ausnahmen bestätigen die Regel.

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Da so viel Missbrauch anvertrauter Macht Menschen mit staatsbürgerlicher Verantwortung dazu bringt, dem in den Arm zu fallen, wurde das Bundesverfassungsgericht angerufen, den offensichtlichen Rechtsbruch zu stoppen. Nun stand das höchste deutsche Gericht vor einer simplen Wahl mit höchst unterschiedlichen Konsequenzen: Entweder den Rechtsbruch zu stoppen mit der Folge, dass der Euro auseinanderbricht in einem zumindest kurzfristig wirtschaftlich sehr unschönen Szenario oder den Rechtsbruch zu dulden mit der Folge, dass es seiner Kernaufgabe nicht mehr gerecht wird, aber darauf hoffen kann, dass Politik und Geldpolitik das schon irgendwie alles wieder so hinbekommen und seine Selbstentmannung halbwegs folgenlos bleiben wird.

Damit war die Abwägung die das Gericht zu treffen hatte, kein rein rechtliche mehr. Das Gericht folgte daraufhin der Leitlinie „Not kennt kein Gebot“ und wählte dafür einen scheinbar eleganten Weg: Es delegierte die Entscheidung einfach „zuständigkeitshalber“ an den Europäischen Gerichtshof (EuGH), wohl wissend, dass dieser sich weniger als Normenkontrollinstanz versteht, als vielmehr als politischer Gerichtshof im Dienste der „immer tieferen Union Europas“. Der EuGH tat dann auch genau das, was man von ihm erwarten durfte: Durchwinken des Rechtsbruchs mit fadenscheiniger Begründung.

Fast überflüssig zu erwähnen, dass der Präsident des EuGH und vorsitzende Richter des zuständigen Senats Staatsbürger eines Landes war, dessen ökonomische Existenz im Euro vom Rechtsbruch der EZB abhing, nämlich Griechenlands. So etwas nennt man Befangenheit. Aber richterliche Unabhängigkeit wird ja eh überschätzt.

Nur in Deutschland scheint wie immer alles paletti: Wir haben die Verantwortung solange durch- und weitergereicht, bis keiner im Lande mehr zuständig war. Die Stunde der Wiesel.

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Es ist immer wieder lachhaft, wenn man dann aus Politik, Geldpolitik und linkstreuen Medien das Sprüchlein zu hören bekommt, die Geldpolitik sei rechtens, weil ja schließlich von den höchsten Gerichten mit Generalabsolution versehen.
Dieser kleine Hattrick der Verantwortungsverweigerung durch das Bundesverfassungsgericht kommt aber im Kleingedruckten mit einen Zünder daher, den man nur als staatsrechtlichen Sprengsatz für die Demokratie in Deutschland bezeichnen kann, wenn man sich eine Ausarbeitung des höchst angesehenen Staatsrechtlers Prof. Dr. Dietrich Murswiek, emeritierter Inhaber eines Lehrstuhls für öffentliches Recht der Universität Freiburg zu Gemüte führt.

Unter der harmlos klingenden Überschrift „Die Ultra-Vires Kontrolle im Kontext der Integrationskontrolle“ geht der Autor auf die Frage ein, mit welcher Begründung das BVG Klagen gegen Maßnahmen von EU-Organen auch dann zurückweist, wenn es selbst diese Maßnahmen für kompetenzüberschreitend hält.

Als Ultra-Vires-Akt bezeichnet man einen Akt des Rechtsausbruches, man könnte auch sagen der Kompetenzanmaßung, durch eine Stelle, der dafür die notwendige Zuständigkeit und demokratische Legitimation fehlt.

Da die Europäische Union nicht über eine eigene demokratische Legitimation verfügt, erhält sie ihre Vollmachten durch Verträge der an ihr teilnehmenden Staaten. Diese Staaten sind demokratisch verfasst und es ist daher notwendig, sicherzustellen, dass die Europäische Union sich aus diesen Verträgen keine Rechte anmaßt, die beim Abschluss nicht vorgesehen waren, weil dies nicht nur eine Vertragsverletzung wäre, sondern vor allem eine Aushebelung der demokratischen Kontrolle durch die Völker der Mitgliedsländer konstituieren würde.

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Da jedes Volk der Mitgliedsländer der EU mit demokratischen Verfassungen ein Recht auf Demokratie und damit Kontrolle aller Entscheidungen durch den Souverän hat, wäre eine Aushebelung dieses Prinzips ein Akt der Einschränkung und damit mindestens teilweisen Abschaffung der Demokratie. Man kann Demokratie aber nicht in Scheiben geschnitten haben, die gibt es am Stück oder gar nicht.

Die Ultra-Vires Kontrolle durch die Verfassungsgerichte der Länder der Union ist daher ein unverzichtbares Instrument zum Erhalt der demokratischen Rechte der Völker. Seine Einschränkung, insbesondere im Lichte der ausgreifenden Rechtsanmaßung durch die EU-Kommission und die EZB, ist so gesehen nicht weniger als ein Anschlag auf die Demokratie. Das ist gewissermaßen das politische Pendant zur übergriffigen Körpersprache des EU-Kommissionspräsidenten Juncker, wenn er seine mittlerweile ahnungsvoll auf Distanz bedachten Opfer abbusselt und herzt bis zur Schmerzgrenze des guten Geschmacks.

Zu einer wirksamen Ultra-vires-Kontrolle gehört, dass das BVG nicht nur die Europäische Kommission oder die EZB kontrolliert, sondern auch dann eingreift, wenn der EuGH Kompetenzüberschreitungen dieser Organe absegnet. In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon (2009) hatte das BVG dies ausdrücklich festgestellt.

Nun aber scheut es den Konflikt mit dem EuGH und will dessen Urteile nur dann korrigieren, wenn sie „offensichtlich willkürlich“ sind – also praktisch nie. So hat das BVG das OMT-Staatsanleihenkaufprogramm der EZB zwar als Ultra-vires-Akt bewertet, aber das Urteil des EuGH, das mit einer juristisch nicht tragfähigen und in sich widersprüchlichen Begründung die Rechtmäßigkeit des EZB-Programms bejahte, schulterzuckend hingenommen: Das BVG teile zwar nicht die Ansicht des EuGH, aber dessen Urteil sei nicht offensichtlich willkürlich.

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Ohne auf alle Details der auch für juristische Laien durchaus bei gründlichem Lesen nachvollziehbaren Argumentation von Prof. Murswiek eingehen zu wollen (Ich empfehle jedem pflichtbewussten Staatsbürger seine Lektüre!) muss man feststellen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner verzweifelten Navigation zwischen Skylla und Charybdis eine funktionierende Ultra-Vires-Kontrolle mit seiner gelieferten Urteilsbegründung praktisch abgeschafft und sich damit in Wiederspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung gesetzt hat.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass der zuständige Senat nicht geahnt haben muss, welches Tor zur Hölle er damit eigentlich aufstößt. Denn ohne diese Kontrolle ist der ausgreifenden Rechtsanmaßung durch die EU-Institutionen ohne jede demokratische Kontrolle Tür und Tor geöffnet. Wir werden in dieser Interpretation des Rechts nicht mehr von den von uns gewählten Vertretern regiert. Sie sind nur noch Statisten, Ausführende und Claqueure einer neuen europäischen Nomenklatura.
Die äußerste Verteidigungslinie des Rechts auf Demokratie in diesem Lande hat kläglich versagt.

Ich stelle daher an dieser Stelle die Frage und ich rufe zur politischen Debatte über sie auf: Wenn unsere Institutionen nicht in der Lage sind, das Recht des deutschen Volkes auf demokratische Kontrolle der sein Leben betreffenden Entscheidungen zu schützen und wenn auf diese Weise unsere fundamentalen demokratischen Grundrechte in Frage stehen, wie ausgreifend muss dann die Rechtsanmaßung nicht gewählter Institutionen werden, bevor das BVG erkennt, dass es diese Rechte mit deutlich mehr Selbstbewusstsein verteidigen muss?

Wie ausgreifend, oder sollte man sagen, übergriffig muss die Rechtsanmaßung der Gemeinschaftsinstitutionen werden, bevor unsere in den Bundestag gewählten Vertreter bemerken, dass sie mehr sind als ein Wahlmännergremium für die ewige Kanzlerin, von der eine klare Abgrenzung in dieser Frage wohl ohnehin nicht mehr erwartet werden kann, weil das ihre Chancen auf den Friedensnobelpreis schmälern würde?

Wie grenzüberschreitend muss die Anmaßung werden, bevor sich ein Restinstinkt der politischen Elite meldet, der ihnen sagt, dass die Bahn, auf der sie sich bewegen, graduell immer abschüssiger wird?

Wie selbstzerstörerisch kann sie noch werden, bevor auch die vordergründig von dieser Entgrenzung beförderten europäischen Institutionen bemerken, dass sie sich mit ihrem Verhalten ihr eigenes Grab schaufeln, weil die Wähler in den Mitgliedstaaten sich von ihnen ab und Parteien zuwenden, die fleißig, aber mehr und mehr vergeblich als „rechts“ diffamiert werden und die diesem Treiben dann auf andere Art ein Ende bereiten werden?

Und schließlich: Wie groß sollen die Schäden an der Geldordnung, der Wirtschaftsordnung und der Fähigkeit dieses Kontinents seinen Bürger ein Leben in Wohlstand zu bieten durch die zerstörerische Geldpolitik noch werden, bevor das Bundesverfassungsgericht realisiert, dass es nicht mehr die Wahl hat zwischen Rechtsprechung und vermeintlichem Pragmatismus, sondern nur noch zwischen dem lauten Knall heute und dem noch lauteren morgen?

Das alles sollte das BVG bedenken, wenn die – erwartbar anmaßende – Antwort des EuGH auf die neuerliche Klärungsfrage zur aktuellen Klage gegen diese Geldpolitik zurückkommt. Es kann seiner genuinen Aufgabe nicht weiter ohne Selbstaufgabe aus dem Weg gehen.

Quelle: Dietrich Murswiek, Die Ultra-vires-Kontrolle im Kontext der Integrationskontrolle, in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift (EuGRZ) 2017, Heft 11-16, S. 327-338