Tichys Einblick
Ende der Aufarbeitungsinstitution

Die Stasi-Unterlagen-Behörde wird geschlossen: Der Letzte macht das Licht aus

Die größte Aufarbeitungsinstitution der Welt, die Stasi-Unterlagen-Behörde, wird morgen aufgelöst. Möglich wurde dies, weil ihr eigener Chef das Amt nicht mehr wollte – und dafür im Bundestag bereitwillige Unterstützer fand. 

Eine Mitarbeiterin des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR demonstriert die Rekonstruktion zerrissener Unterlagen.

IMAGO / snapshot

Die, die dabei waren, werden diesen Tag nie vergessen: Am Morgen des 2. Januar 1992 kam in Berlin mehr als ein Dutzend früherer Dissidenten in einem kahlen Raum zusammen, um erstmals nachzulesen, wie der DDR-Staatssicherheitsdienst gegen sie vorgegangen war. Auf einer Art Teewagen schoben Bedienstete der neu gegründeten Stasi-Unterlagen-Behörde Berge hellblauer Aktenordner heran und verteilten sie auf die Tische. Irgendwann stand der Schriftsteller Hans-Joachim Schädlich auf und verkündete mit bleichem Gesicht, dass sein vermeintlich oppositioneller Bruder unter dem Decknamen „Schäfer“ für die Stasi gearbeitet hätte.

Fast drei Jahrzehnte ist es her, dass im wiedervereinigten Deutschland ein weltweit einmaliges Experiment begann. Nur kurz nach der Auflösung wurden die Akten einer ebenso allmächtigen wie gefürchteten Geheimpolizei Opfern, Journalisten und Historikern zugänglich gemacht. Im Gegensatz zu den meisten anderen Systemwechseln auf dieser Welt wurden ihnen auch die Namen der Spitzel und ihrer Führungsoffiziere mitgeteilt.

Bei der Aufarbeitung des Stasi-Erbes gingen die Deutschen, ihrem Ruf entsprechend, gründlich vor. Der Bundestag errichtete 1992 eine Behörde mit mehr als 3000 Mitarbeitern. Sie wachten darüber, dass die Opfer ordnungsgemäß ihre Anträge stellten und nur das zu lesen bekamen, was ihnen aufgrund des komplizierten Gesetzes zustand. 

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An der Spitze der Behörde stand der vom Bundestag gewählte Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen Joachim Gauck. Doch im Hintergrund zog der Direktor und spätere BND-Chef Hansjörg Geiger die Fäden. Gemeinsam sorgten sie dafür, dass überwiegend ehemalige Mitarbeiter aus dem DDR-Staatsapparat und auch der Stasi eingestellt wurden, während das Führungspersonal meist aus westdeutschen Juristen bestand. Ehemalige DDR-Oppositionelle hatten dagegen kaum Einstellungschancen, weil sie als unkontrollierbar galten.

Das deutsche Amt wurde vor allem im Ausland bewundert. Es zeigte, dass man sensible Akten einer Diktatur nicht wie sonst üblich Jahrzehnte unter Verschluss halten muss, sondern zeitnah aufarbeiten kann. Im ehemaligen Ostblock entstanden nach und nach ähnliche Einrichtungen, zuletzt 2015 in Albanien.

Für ehemalige DDR-Oppositionelle arbeitete die Behörde weniger glanzvoll, nicht nur wegen ihrer Personalpolitik, sondern auch aufgrund der oft jahrelangen Wartezeit für eine Akteneinsicht. Für Historiker und Journalisten waren zudem die zahllosen, oft übertriebenen Schwärzungen ein Ärgernis. Als dann noch bekannt wurde, dass Dutzende frühere Stasi-Mitarbeiter unerkannt in dem Amt tätig waren, widmete ihm der vormalige Dissident Jürgen Fuchs einen apokalyptischen Roman, der – in Anspielung auf den ostdeutschen Spottnamen für die Stasi – den Untertitel trug: „VEB Horch und Gauck“.

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Gleichwohl trug die Behörde dazu bei, nach dem Ende der DDR wenigstens ein bisschen Gerechtigkeit herzustellen. In über 500.000 Rehabilitierungsverfahren stellte sie Unterlagen zur Verfügung. Für die Betroffenen waren diese oft die einzige Möglichkeit zu beweisen, dass sie aus politischen Gründen verfolgt worden waren. Auch vielen anderen half das Stasi-Unterlagen-Gesetz, Klarheit über die eigene Vergangenheit zu erlangen. 3,5 Millionen Anträge auf persönliche Akteneinsicht gingen seit 1991 bei der Behörde ein. Selbst 2020 – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung – waren es immer noch über 37.000.

Auch die Staatsanwaltschaften hätten ohne Zugang zu den Stasi-Akten kaum einen der Verantwortlichen für die SED-Diktatur zur Rechenschaft ziehen können. Mit ihrer Hilfe leiteten sie 75.000 Ermittlungsverfahren gegen 100.000 Beschuldigte ein. Dass am Ende nur 40 Personen ins Gefängnis mussten, lag nicht an der Behörde, sondern am Rückwirkungsverbot im Einigungsvertrag und an der täterfreundlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes.

Das Amt trug auch dazu bei, geheimdienstlichen Seilschaften in Deutschland den Boden zu entziehen. Bis Ende 2020 fanden knapp 2,3 Millionen Überprüfungen statt, die meisten im öffentlichen Dienst. Die „Lustration“ war allerdings nicht verpflichtend, so dass wichtige Bereiche – etwa private Sicherheitsdienste – ausgespart blieben. Zudem durfte etwa die Hälfte der enttarnten Stasi-Mitarbeiter auf ihrem Posten verbleiben, weil das Gesetz keine Konsequenzen vorschrieb. Auch im Bundestag und verschiedenen Landesparlamenten sitzen bis heute mehrere frühere Stasi-Spitzel, fast ausschließlich in den Reihen der Linkspartei.

Begrenzt erfolgreich war das Amt auch bei der Erschließung der Akten. In knapp drei Jahrzehnten hat es von den 51 Kilometern Unterlagen, die die Stasi nur nach Namen archiviert hatte, lediglich sechs Prozent inhaltlich erschlossen. Dies ist vor allem für Historiker unbefriedigend. Will man zum Beispiel das Thema Antisemitismus in der DDR untersuchen, muss man vorher wissen, wer sich dort antisemitisch betätigte. Von den 61 Kilometern Akten, die 1990 in den Dienststellen herumlagen, wurden inzwischen zwar 94 Prozent erschlossen, doch die vermutlich wichtigsten Unterlagen – Millionen von der Stasi in letzter Minute zerrissene Dokumente – verstauben immer noch in über 15.000 Säcken.

Vor allem aber liegt das einstige Netz der Stasi bis heute größtenteils im Dunkeln. Anders als in Tschechien hat die Öffentlichkeit in Deutschland keine Möglichkeit zu überprüfen, ob eine Person für den Staatssicherheitsdienst tätig war oder nicht. Vor allem in den sozialen Netzwerken gedeihen deshalb die Gerüchte, wer alles für die Stasi gearbeitet hätte – bis hin zu Bundeskanzlerin Angela Merkel, die angeblich den Decknamen „Erika“ getragen hätte, wofür es keinerlei Beleg gibt. Stellt man in Rechnung, dass die Behörde jährlich rund 100 Millionen Euro kostet und insgesamt mehr als drei Milliarden Euro verausgabt hat, war das deutsche Aufarbeitungssystem nicht besonders effizient.

Während die Ausgaben seit 1995 mehr oder weniger gleich blieben, nahm die politische Bedeutung der Behörde kontinuierlich ab – und mit ihr das Profil seiner Leiter. Während unter dem charismatischen ostdeutschen Pfarrer Joachim Gauck noch die Stasi-Verbindungen prominenter Politiker wie Gregor Gysi oder Manfred Stolpe die Schlagzeilen bestimmten, machte die einstige Gemeindehelferin Marianne Birthler vor allem durch einen jahrelangen, verlorenen Rechtsstreit mit Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl von sich reden. 2011 übernahm dann der ehemalige Bürgerrechtler Roland Jahn das Amt, der öffentlich kaum mehr in Erscheinung trat. 

Hinter den Kulissen warb Jahn indes umso intensiver dafür, die eigene Behörde aufzulösen und die Stasi-Akten ins Bundesarchiv zu überführen. Öffentlich begründete er dies damit, die Akten „sichern“ und „zukunftsfest“ machen zu wollen. Allerdings hatten selbst Kritiker der Behörde nie in Zweifel gezogen, dass sie in dem Amt gut gesichert sind. Behördenintern wurde deshalb vermutet, dass Jahn die Einrichtung auflösen wollte, weil seine eigene Amtszeit abläuft. Eine weitere lässt das Gesetz nicht zu.

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Bei den Abgeordneten des Deutschen Bundestages rannte Jahn mit seinem Anliegen offene Türen ein. Vielen erschien das Amt mit seinen immer noch über 1300 Mitarbeitern schon lange überholt und vor allem: viel zu teuer. Schon 2016 hatte die SPD Jahns Wiederwahl davon abhängig machen wollen, die Behörde aufzulösen. Unter Fraktionschef Volker Kauder wies die Union diese Forderung damals jedoch entschieden zurück. In der darauffolgenden Legislaturperiode führte Jahns Werben dann zu einem Umschwenken der Union. Mit den Stimmen der FDP beschlossen die Bundestagsfraktionen von SPD und CDU/CSU im November vergangenen Jahres das Ende der Behörde; nur die AfD stimmte dagegen. 

Die Verantwortlichen beteuerten damals, dass die rechtlichen Regelungen unverändert weiter gelten sollten. Tatsächlich bleibt das Stasi-Unterlagen-Gesetz auch in Zukunft in Kraft. An die Stelle des vom Bundestag gewählten Bundesbeauftragten tritt allerdings das Bundesarchiv, das nun Kulturstaatsministerin Monika Grütters unterstellt ist – ein kleiner, aber bedeutender Unterschied. Neu ist auch, dass die Akten nur noch an sechs statt an 13 Standorten gelagert werden sollen, womit man offenkundig Geld sparen will. 

Ob diese Hoffnung aufgeht, ist zweifelhaft. Personal und Liegenschaften gehen nämlich komplett an das Bundesarchiv über – und produzieren dort dieselben Kosten. Wahrscheinlich werden die Ausgaben sogar steigen, weil der Bundestag auf Jahns Vorschlag einen neuen Posten geschaffen hat: einen Bundesbeauftragten für die Opfer der SED-Diktatur, der die Behörde als Symbol der Friedlichen Revolution ersetzen soll. Mit seinem Mitarbeiterstab dürfte er Mehrausgaben von mindestens einer Million Euro pro Jahr verursachen.

Dabei ist unklar, was der neue Beauftragte eigentlich tun soll. Laut dem nebulös formulierten Gesetz hat er die Aufgabe, „als Ombudsperson für die Anliegen der Opfer der SED-Diktatur (…) zu wirken und zur Würdigung der Opfer des Kommunismus in Deutschland beizutragen“. Außerdem soll er den Bundestag und Behörden beraten sowie Deutschlands Aufarbeitungserfahrungen international vermitteln. Eine weitere Aufgabe ist es, „den Prozess der gesellschaftlichen Verständigung über die unterschiedlichen biografischen Erfahrungen in der Zeit der deutschen Teilung zu befördern.“ Da der Beauftragte außer Gutachten auch noch einmal im Jahr einen Bericht über die Lage der Opfer vorlegen soll, ist zu befürchten, dass er am Ende vor allem mit sich selbst beschäftigt sein wird.

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Das Gerangel um den Posten, der mit einem Grundgehalt von über 10.000 Euro ausgestattet wurde, ist gleichwohl bereits in vollem Gange. Befremdlich erscheinen vor allem die Ambitionen der Kulturausschussvorsitzenden Katrin Budde (SPD), die das von ihr mit geschaffene Amt gerne übernehmen möchte. Nachdem sie im Februar nur auf Platz 2 der Landesliste in Sachsen-Anhalt landete, muss sie angesichts der schlechten Umfragewerte der SPD um ihren Wiedereinzug in den Bundestag fürchten. Die Ostabgeordneten der CDU haben sich dagegen für den parteilosen Ex-Bürgerrechtler Uwe Schwabe ausgesprochen. Diese und weitere in der Öffentlichkeit genannte Namen zeigen freilich vor allem, wie wenige profilierte Fürsprecher die Opfer der SED-Diktatur in Deutschland noch haben.

Während Union und SPD ihren Personalvorschlag ursprünglich schon im Januar präsentieren wollten, gibt es auch fünf Monate später noch keine Einigung. Dabei drängt die Zeit, denn am 17. Juni wird die Stasi-Unterlagen-Behörde aufgelöst. Dass dafür ausgerechnet der Tag gewählt wurde, an dem 1953 der Volksaufstand gegen das SED-Regime ausbrach, sagt viel über veränderten Umgang mit der Stasi-Vergangenheit aus. 

Wie auch immer das Tauziehen am Ende ausgeht, die größte Aufarbeitungseinrichtung der Welt ist nur noch Geschichte. In Anlehnung an ein ostdeutsches Bonmot über die Massenflucht aus der DDR könnte man auch sagen: „Der Letzte macht das Licht aus.“

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