Tichys Einblick
Wahl-Debakel in Baden-Württemberg

Die CDU sitzt in der selbst gestellten Falle

Die Wählerwanderungen in Baden-Württemberg künden von einem weiteren Niedergang der Union, die für ihre konservativen Wähler eine Repräsentationslücke geschaffen hat. Jetzt fällt der Union der Schulterschluss mit den Grünen zusehends auf die Füße.

imago Images/Ralph Peters

Wer sich ein eindrückliches Bild von der Falle machen will, in der inzwischen die CDU wohl nicht nur in Baden-Württemberg sitzt, kann dies anhand der von Infratest dimap ermittelten Zahlen zur Wählerwanderung in diesem Bundesland tun. Demnach haben rund 70.000 Wähler, die 2016 für die AfD gestimmt haben, am vergangenen Sonntag (wieder) die CDU gewählt. Dabei dürfte nicht nur das Vorgehen des Verfassungsschutzes gegen die AfD, sondern auch deren innere Zerstrittenheit, nicht nur in der Corona-Politik, und das teilweise höchst fragwürdige öffentliche Gebaren einiger ihrer Funktionäre eine Rolle gespielt haben. Hinzu kommt, dass die Asyl- und Migrationspolitik der Bundesregierung die Bürger in Baden-Württemberg nicht mehr so umtreibt und empört, dass viele von ihnen es erneut für erforderlich hielten, aus Protest eine asyl- und migrationskritische Partei zu wählen.

Dem Gewinn von AfD-Wählern stehen aber weit größere Verluste der CDU in mehrere Richtungen gegenüber. Rund 10.000 Wähler verlor sie an die SPD, rund 50.000 an die FDP und 70.000 an die Grünen. Die größten Verluste erlitt sie allerdings in Richtung der Nichtwähler: Rund 80.000 frühere CDU-Wähler wählten diesmal gar nicht. Das ist zum Teil sicherlich dem Corona-bedingten generellen Rückgang der Wahlbeteiligung geschuldet, der auch die Grünen 35.000 Wähler kostete. Die vergleichsweise starke Wahlenthaltung ehemaliger CDU-Wähler dürfte aber auch dem Umstand geschuldet sein, dass viele von ihnen aufgrund der nicht nur von der Berliner CDU-Parteispitze geschaffenen konservativen Repräsentationslücke diese Partei nicht mehr als ihre politische Heimat betrachten und gleichzeitig weder die FDP noch die AfD für sich als eine wählbare neue Heimat betrachten. So entscheiden sie sich einfach für Wahlenthaltung.

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Die Niederlage von Friedrich Merz im Kampf um den Parteivorsitz hat das Gefühl der Heimatlosigkeit bei vielen ehemaligen CDU-Wählern in Baden-Württemberg gewiss noch verstärkt, obwohl sich die CDU von Baden-Württemberg auf dem Delegiertentreffen Ende des letzten Jahres mehrheitlich für Merz aussprach. Dies wiederum dürfte mit ein Grund dafür sein, dass viele CDU-Wähler, die die schon längst eingeleitete grüne Wende der CDU befürworten, lieber das Original als die Kopie grüner Politik wählten.

Ein ausgesprochen cleverer Schachzug der grünen Wahlstrategen um Kretschmann war in diesem Zusammenhang die Übernahme des Wahlslogans von Merkel aus dem Jahr 2013 „Sie kennen mich“. Kretschmann präsentierte sich damit wenige Tage vor der Wahl vor allem den Merkel-affinen CDU-Wählern als ein Garant der Fortsetzung ihrer Politik. Dafür wählten sie ihn dann auch. Die baden-württembergischen Grünen konnten so ihr Vordringen in das progressiv orientierte Wählerreservoir der CDU noch weiter ausbauen.

Nicht ausgezahlt hat sich der Schulterschluss zwischen den Grünen und der Union hingegen für die CDU. Ihr gingen rund 70.000 Wähler an die Grünen verloren, während sich gleichzeitig eine erhebliche, allerdings nicht exakt zu beziffernde Anzahl an heimatlos gewordenen CDU-Wählern der Wahl enthielten und weniger als die Hälfte der rund 190.000 im Jahr 2016 an die AfD verlorenen Wähler wieder zur CDU zurückkehrten. Letzteres kann die CDU in Baden-Württemberg für sich zwar zusammen mit dem Umstand als Erfolg verbuchen, dass keine erneuter Aderlass in Richtung AfD stattgefunden hat. Wenn die CDU dafür indes der tatkräftigen Hilfe des Verfassungsschutzes bedurfte und so überdies die eigenen Wähler von den Wahlurnen vertrieb, dann zeugt dies nicht nur von einem erheblichen politischen Unvermögen, sondern auch von einem recht fragwürdigen Demokratieverständnis.

Für die anstehenden Bundestagswahlen könnte der Ausgang der Landtagswahlen in Baden-Württemberg durchaus ein Szenario sein, das den Wahlausgang auch im Bund prägt. Dort ist zwar weiterhin nicht damit zu rechnen, dass die Grünen schon bei der kommenden Bundestagswahl an der Union vorbeiziehen und Robert Habeck oder Annalena Baerbock Ende des Jahres ins Kanzleramt einziehen – es sei denn, es käme kurz vor der Wahl irgendwo auf der Welt zu einem weiteren GAU in einem Atomkraftwerk. Sehr wohl ist aber damit zu rechnen, dass die Union aufgrund ihrer Anpassung an Ziele und Inhalte der Grünen, insbesondere auf den Feldern Energie- und Klimapolitik, Asyl- und Migrationspolitik, Genderpolitik und Europapolitik, Teile ihrer progressiv orientierten Wählerschaft an das grüne Original verliert und gleichzeitig Teile ihrer liberal orientierten Wählerschaft zur FDP und ihrer noch verbliebenen konservativ orientierten Wählerschaft zu den Nichtwählern treibt. Eine deutlich geschrumpfte Union könnte dann nur noch mit Hilfe der Grünen und der FDP das Kanzleramt verteidigen, sollte die SPD bei ihrer Ankündigung bleiben, im Bund nicht mehr mit der Union zu koalieren. Die bereits bestehende Repräsentationslücke für konservative Wähler würde sich so freilich noch weiter vergrößern. 

Machtverlust täte gut
Höchste Zeit für die CDU: ab in die Opposition!
Das Schicksal der CDU gleicht sich auf diese Weise dem Niedergang der SPD zusehends an. Verlor die SPD einen Teil ihrer zunächst von Schröder politisch heimatlos gemachten, linken (Stamm-)Wählerschaft erst an die PDS/Linke, danach an die Nichtwähler und schließlich unter Gabriel und Nahles an die AfD, so wählen viele von Merkel heimatlos gemachten rechten (Stamm-)Wähler der CDU inzwischen die AfD oder gehen ebenfalls nicht mehr zur Wahl. Insofern haben wir es in Deutschland nicht nur mit einer rechten, sondern auch mit einer linken Repräsentationslücke zu tun, die von den beiden großen Volksparteien zeitversetzt selbst geschaffen und seitdem nicht mehr geschlossen, sondern weiter vergrößert worden sind. Das fällt beiden ehemaligen Volksparteien zusehends auf die Füße.

Links der SPD ist es der Linken inzwischen in einigen Bundesländern gelungen, diese Lücke mehr oder weniger erfolgreich zu besetzen. Im Bund steht ein solcher Erfolg noch aus. Rechts der Union ist es hingegen nicht nur aufgrund ihrer aktuellen Wahlverluste ungewiss, ob der AfD die nächsten Jahre Ähnliches gelingen wird. Gewiss ist hingegen: Sollte die Repräsentationslücke rechts der Union in den Ländern wie im Bund auf Dauer offenbleiben, geriete Deutschland zusehends in eine politische Schieflage, die dem Land und seiner Demokratie schon heute in hohem Maße schadet. Dass die CSU vor diesem Hintergrund nun dazu aufruft, Brandmauern gegen die Grünen zu errichten, nachdem Söder vor kurzem noch für eine Koalition mit ihnen warb, ist nur ein weiterer Beleg für die völlige Prinzipien- und Orientierungslosigkeit der gesamten Union.