Tichys Einblick
Vom Davor und Danach

Die Briefwahl hat entschieden

Eigentlich soll eine Wahl ja die Stimmung ALLER Wähler an dem betreffenden Tag wiedergeben, doch jetzt war es die Stimmung von vielen Wochen, in denen Entscheidendes passierte bzw ans Licht kam. Das Ganze wirft einen Schatten auf unsere Demokratie, klassischer Wahlkampf ist nicht mehr möglich.

Briefwahlunterlagen für die Landtagswahl in Baden-Württemberg

IMAGO / Eibner

Wo er recht hat, hat er recht. SPD-Chef Norbert Walter-Borjans gestern abend bei „BILD live“: „Das Wahlergebnis der CDU ist desaströs…. Trotz hoher Briefwahlanteile – das heißt also weit vor der Maskenaffäre – trotzdem so schlecht abgeschnitten.“ Das bringt das ganze Dilemma dieser beiden Landtagswahlen auf den Punkt. Es gab ein Davor und Danach. Es gab quasi zwei Wahlen in jedem Land. Man erinnere sich an den Wahlabend in den USA. Klarer Sieg Trumps bei Auszählung der Stimmen aus der Wahlurne – doch dann wurden die Briefe geöffnet …

Man braucht keinerlei Verschwörungstheorie, die Betrachtung der Realität reicht. Meinungsforschungsinstitute wie das hoch präzise INSA oder sogar die Merkel-nahe Forschungsgruppe Wahlen im ZDF gaben kurz vor dem Wahltag die Stimmung präzise wieder: zum Beispiel vernichtende Niederlage der CDU, kaum Zuwächse bei der FDP, Stabilisierung der AfD auf dem Niveau der letzten Wahlen etc. Der erste Trend um 18 Uhr bei ARD und ZDF spiegelte das auch exakt so. Das genau hatten nämlich die Wähler, als sie am Sonntag das Lokal verließen, den Forschern angegeben. So entsteht nämlich der 18-Uhr-Trend: Nachfrage vor dem Wahllokal (und nicht im Briefkasten oder bei der Post!). Gegen 14 Uhr hatte ich durch einen ehemaligen ARD-Kollegen bereits diesen Trend präzise als SMS auf meinem Handy. Die „Überraschung“ bei Politikern und Journalisten um 18 Uhr ist also nichts als Theater, das muss man wissen.

Doch dann wurden die Briefe ausgezählt und alles durcheinander gewirbelt. Der SPD-Chef hat völlig recht. Eigentlich soll eine Wahl ja die Stimmung ALLER Wähler an dem betreffenden Tag wiedergeben, doch jetzt war es die Stimmung von vielen Wochen, in denen Entscheidendes passierte bzw. ans Licht kam. Es gab also das Davor und Danach. Risiko, könnte man sagen. Oder Glück, Pech, je nach Standpunkt.

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Aber es lässt interessante Rückschlüsse zu. Bis zum 21. Februar wurden die Wahlunterlagen verschickt, viele beantragten sofort Briefwahl und wählten Ende Februar (!) bereits eilig per Briefwahl. Für Rheinland-Pfalz gibt es exakte Zahlen: 44 Prozent der Wahlberechtigten haben per Brief abgestimmt, das sind rund 70 Prozent (!!) derer, die dann auch tatsächlich gewählt haben. In Baden-Württemberg lag der Anteil der Briefwähler damals bei exakt 21 Prozent. Jetzt das mindestens Dreifache.

Nochmal: Die Umfragen und der 18-Uhr-Trend bezogen sich auf die aktuelle Stimmung. Warum die (vor allem bei der AfD) von den Briefwählern Lichtjahre entfernt war: Es bedarf keiner Hellseherei, keiner Verschwörungstheorie, keines Fälschungsvorwurfs etc. pp. Die einen hatten eben „davor“, die anderen „danach“ gewählt, so bestätigt es der SPD-Bundesvorsitzende ungewollt (?) eindeutig. Die Kölner Gerichtsentscheidung gegen eine AfD-Beobachtung durch den Verfassungsschutz war genauso wenig bekannt wie die dramatischen Korruptionsfälle in der CDU  (und in der CSU, was jetzt gern unterschlagen wird). Ganz zu schweigen von dem sich zuspitzenden Widerstand gegen den wahnhaften Lockdown als Preis einer katastrophal verfehlten Corona-Politik von CDU, CSU, SPD, Grünen und FDP im Bund und in den Ländern.

Wir erinnern uns an die USA: Die Demenz von Biden wurde erst thematisiert, als die Briefwahlstimmen bereits „im Sack“ waren. Wer Harris als Vizepräsidentin (und baldige Präsidentin) partout nicht wollte, hatte sie dennoch (indirekt) gewählt.
Beim Ausfüllen der Briefwahl-Unterlagen waren jedoch die Grundzüge der Politik bekannt, da gibt es nichts zu deuteln: Mehr Flüchtlinge (so der Rat auch von CDU-Kauder und CSU-Söder), der ganze Lockdown-Wirr- und -Irrsinn, die gründliche, typisch deutsche „Arbeit“ der Polizei bei der Verfolgung von Corona-„Sündern“, die Pleitewelle, die Selbstmorde, das Elend unserer Kinder und Alten, das eklatante Versagen in Sachen Tests und Impfstoff, der ganze Widerspruch zum Thema Masken, die Klima- und Flüchtlingspolitik, die Deals mit Putin und China, die nachhaltige (!) Demontage unserer Export-Weltmeisterschaft, Gender etc. pp. ALLES bekannt! Erst kurz vor der (eigentlichen) Wahl am Sonntag ging wenigen ein Licht auf. Die Meisten hatten bereits gewählt.

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Das Ganze wirft einen Schatten auf unsere Demokratie, klassischer Wahlkampf ist nicht mehr möglich, wenn sich die Wahl wochenlang hinzieht, wenn die einen nach dieser, andere nach jener Stimmung ihr Kreuzchen machen. Vor einem Skandal oder danach. Man bedenke, wie Fukushima den Grünen geholfen hat, exakt kurz vor der BW-Wahl 2011. Und ganz nebenbei: Die Wahlbeteiligung war in Baden-Württemberg so niedrig, dass die Grünen zum Beispiel bei deutlich weniger Stimmen als 2016 mehr Prozentpunkte machten. Das alles wird unter den Tisch gekehrt, gehört aber zur erstaunlichen Wahrheit.

Man muss also ganz nüchtern, ruhig, ohne Schaum vorm Mund und realistisch feststellen: Die Mehrzahl der Konservativen, auch der engagierten Christen, Humanisten, Idealisten WOLLEN das so: den Corona-Lockdown-Wahnsinn, die Zerstörung von Vereinen, Sport, Kirchengemeinden, den Untergang von Mittelstand, Gastronomie, Tourismus, den Bildungsnotstand und die psychische Verwahrlosung unserer Kinder. Sie wollen das! Man muss die AfD keineswegs mögen. Als jedoch der AfD-Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann in der Elefantenrunde von ARD und ZDF diese Themen ansprach, schrie CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak aufgebracht: „Spalter, Spalter!“ Also Themen, die noch vor zehn Jahren zum Credo der Union gehörten, sind jetzt „Spalter“-Themen. Na toll! Da ist eben nichts zu machen. Denn was soll noch passieren?! „Davor“ war schon vieles bekannt, „danach“ erst recht. Reagiert haben die (Rest-)Konservativen, wie das Endergebnis es präzise aussagt. Denk ich also an Deutschland in der Nacht …

Oder, um es mit Roman Herzog zu sagen: Uns geht es immer noch zu gut.