Tichys Einblick
EU der Blöcke

Deutschland in Europa wieder allein zuhaus‘

Verlorene Monate für eine supranationale Organisation, die nach außen hin ihre eigene Position nicht oft genug als historische Unabdingbarkeit verkaufen kann, aber im Grunde selbst nicht weiß, wie sie ihre historische Beständigkeit begründen will.

KENZO TRIBOUILLARD/AFP via Getty Images

Die Europäische Union redet am liebsten über sich selbst. Es ist eine Autosuggestionsübung. Täte sie es nicht, sie könnte an ihrer eigenen Existenz zweifeln. Seit Allerheiligen sollte die neue Kommissionsführung im Amt sein. Ursula von der Leyen wartet als ungeduldige Prinzessin auf dem Thron, aber das Hofzeremoniell gestattet ihr nicht die Nachfolge. Der kranke König Juncker bleibt geschäftsführend im Amt, obwohl ein Aneurysma erst kürzlich die Grenzen seiner eigenen Macht aufzeigte. Dass von der Leyen ihre Kommissare ein halbes Jahr nach der Europawahl noch nicht um sich geschart hat, liegt dabei nicht nur am fehlenden britischen Amtsträger, der im Gänseblümchenzupfen um den Brexit noch nicht festgelegt werden konnte. Die Kandidaten aus Frankreich, Rumänien und Ungarn müssen immer noch vom EU-Parlament geprüft werden. Der geschlechtliche Proporz bei der Kandidatensuche – wir leben in paritätischen Zeiten, in denen offensichtlich die richtigen Sexualorgane mehr über die Qualifikationen aussagen als die Kompetenz – tat sein Übriges.

Verlorene Monate für eine supranationale Organisation, die nach außen hin ihre eigene Position nicht oft genug als historische Unabdingbarkeit verkaufen kann, aber im Grunde selbst nicht weiß, wie sie ihre historische Beständigkeit begründen will. Die Werte, welche die EU vertritt, könnten überall auf der Welt vertreten werden; der Einsatz für Menschenrechte und Frieden ist keine genuin europäische Sache, das Bekenntnis zu Anti-Diskriminierung könnte ebenso gut in Australien oder Neuseeland stattfinden. Ein überzeugendes Narrativ ihrer Existenz hat die EU bis heute nicht vorgelegt: Frieden allein sicherte auch das Osmanische Reich in den von ihm befriedeten Teil der Welt.

„Europa ist die Antwort“. Und die Frage?
Das Nachspiel zu den EU-Wahlen 2019 im deutsch-polnischen Kontext
Die Ideenlosigkeit der EU hinsichtlich ihrer Vergangenheit stellt dieselbe Frage für die Zukunft. Der Glaube an unbedingt gelebten Klimaschutz ist derselbe Lückenfüller wie die sozialistische Idee, die doch letztlich nach bereits zwei Generationen niemanden mehr zu überzeugen mochte – selbst in den obersten Parteikadern nicht mehr. Der Bruch, der durch Europa geht, manifestiert sich bereits in den Verfassungen. Ein Blick in die polnische oder ungarische Konstitution enthüllt ein enormes historisches und kulturelles Selbstbewusstsein. Während die Brüsseler Eliten peinlichst auf die Vermeidung eines Gottesbezuges verzichteten, beginnt die ungarische Verfassung mit dem ikonischen Leitsatz: „Gott segne die Ungarn!“

Während sich die EU zu nichts zu bekennen traut und sich am Ende der Geschichte wähnt, lechzen jene Völker, die jahrzehntelang unter dem sowjetischen Joch darbten, nach dem Wiedereintritt in die Geschichte. Wie ist anders der Bund der Visegradstaaten zu erklären, der in einem weitaus effektiveren Manöver als das Pendant EU mit Grenzschützern aus Polen, Tschechien und der Slowakei am ungarischen Zaun patrouilliert? Schon 2015 kritisierte Deutschland dieses Vorgehen. Dabei ist es Deutschlands historisches Verdienst, dass die V4 heute so hervorragend zusammenarbeiten – das alte Dreieck aus Paris, Berlin und Warschau ist längst vergessen, und Deutschland hat auch keinen Hehl daraus gemacht, dass es diese Partnerschaft nicht interessiert. Wenn nicht unter Gerhard Schröder (als man russische Pipelines in der Ostsee festlegte – und damit an Polen vorbei dirigierte), so doch spätestens unter Angela Merkel (deren Migrationspolitik wenig populär ist).

Die Antwort Visegrads bei der Bewährungsprobe von 2015 zeigt – gerade im Unterschied zum Wirken der EU – die Vorteile des alten Lehrsatzes „small is beautiful“ auf. Die mangelnde Effizienz der Brüsseler Bürokratie mit ihren unzureichenden Antworten verhält sich unflexibel angesichts Problemstellungen katastrophalen Ausmaßes. Sie wirkt chancenlos. Kleine Bündnisse in der Größe der Benelux- oder Visegradstaaten, die sich schneller abstimmen können, bilden dabei nicht nur eine mögliche Antwort auf die Krise des Kontinents – sie könnten sogar alternativlos sein.

Nach der EU-Wahl
Die trügerische Euphorie vor der nächsten Krise
Den Vorschub für solche Überlegungen leistet die EU dabei selbst. Das Migrationsdiktat hat nicht nur die östlichen Staaten entfremdet und bietet die Basis neuer Interessenbünde. Auch die gesellschaftlichen und energiepolitischen Experimente können die Länder jenseits der Oder nicht überzeugen. Auf einem anderen Blatt steht die währungspolitische und finanzielle Zukunft. Zu Junckers Zeiten hatte die endgültige Einführung des Euro in allen Staaten für Wirbel gesorgt. Die Bürger der starken Volkswirtschaften haben dabei nicht nur die Konsequenzen eines Eurobeitritts von Rumänien oder Bulgarien vor Augen; insbesondere die Dänen haben vor Jahren eine Sonderregelung durchgesetzt, die sie vom Euro-Beitritt ausschließt. Sollte die EU Hamlets Heimat vor die Frage von Sein oder Nichtsein stellen, so könnte ein Referendum über den Euro zu einem Referendum des Däxits werden.

Eine Gesundung des Kontinents könnte daher ein EU-Europa mehrerer Geschwindigkeiten sein; im Grunde ist die EU eben genau das seit Jahren, gibt es doch seither Euro-Staaten und Nicht-Euro-Staaten. Dennoch versucht Brüssel eine solche Reform um jeden Preis zu verhindern: die Gesamtintegration steht im Vordergrund. Die beiden Motoren Deutschland und Frankreich haben – aus Furcht vor einer kompletten Desintegration – solche Vorhaben behindert. Insbesondere aus Paris folgen Zentralisierungsvorschläge im Wochentakt. Deutschland liegt paralysiert in der Mitte Europas, dank einer Kanzlerin, die in ihrer Amtszeit zu einer „lame duck“ geworden ist. Mit dem Ende der Regierungsbeteiligung der Lega ist auch Emmanuel Macrons wichtigster Gegenspieler Matteo Salvini verschwunden. Frankreich ist derzeit die gestaltende Macht des Kontinents – mit allen Konsequenzen.

Diese Herausforderung könnte jedoch zum genauen Gegenteil führen, nämlich dann, wenn sich erneut zeigt, wie überfordert Brüssel mit seinen Aufgaben ist. Regionalbündnisse werden dann notwendigerweise erzwungen, um Krisen zu lösen. Nicht nur wirtschaftliche und sicherheitspolitische Vorstellungen spielen dabei eine Rolle, sondern auch historische und kulturelle Verbindungen. Eine Vereinigung der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen wirkt ebenso sinnig wie ein Bündnis der Nachfolgerstaaten der Donaumonarchie. Gerade Österreich weiß um sein Erbe und hat trotz seines kleinen Territoriums einen erfahrenen Diplomatenapparat, um ein ähnlich effizientes Netzwerk zu spinnen. Das Vereinigte Königreich hatte wiederum eine historisch wichtige Rolle im Nordseeraum, wo es lange Zeit mit der EFTA (European Free Trade Association) führendes Mitglied einer Konkurrentin zur alten EWG war. Die Europäische Freihandelsassoziation ist heute nur noch ein Schatten ihrer selbst, aber eine engere Kooperation mit Irland erscheint schon deswegen sinnig, um eine neue Spaltung der Insel zu unterbinden. Norwegen und Island sind bis heute keine EU-Staaten, die sich ebenfalls anböten. Dass Nordeuropa zudem seine pan-skandinavischen Träume niemals ganz aufgegeben hat, ist eine Binsenweisheit.

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Douglas Murray über die gefährliche Arroganz von Europa
Kurzum: mit Visegrad und anderen regionalen Kooperationen zwischen der nationalstaatlichen und der EU-Ebene kündigt sich möglicherweise ein Europa der Blöcke an, nicht aus Ideologie, sondern aus bloßem Zwang. Die monetäre Frage könnte dabei insbesondere zum Zündstoff zwischen dem Norden und der lateinischen Welt werden. Die nächste Krise kündigt sich an, und sie wird ähnliche Fragen wie in den Jahren 2008 bis 2013 aufwerfen. Es fragt sich dann, ob Deutschland mit Milliarden hilft oder sich querstellt. Beide Optionen werden den Kontinent auf eine Probe stellen. Es liegt an Berlin, ob es die Einheit des EU-Raums mit Geld künstlich erhält, oder sich dieser in regionale Interessensphären zerlegt.

Deutschland ist dabei das Land, das solch einem Szenario widerstehen muss. In einem Konzert der europäischen Blöcke stände es allein. Mit seinen 80 Millionen Einwohnern und seiner gewaltigen Volkswirtschaft ist es schlicht zu groß, um Verbündete zu finden. Selbst die drei großen romanischen Nationen Frankreich, Italien und Spanien halten sich gegenseitig das Gleichgewicht. Deutschland dagegen kann nur in einem gesamteuropäischen Konzert eingebunden werden, in dem es mehrere gleichwertige Kräfte gibt, die sich im Zweifelsfall gegen den germanischen Riesen verbünden können. Ein oft erträumter Nord-Euro muss den Nordstaaten deswegen schon als Gefahr gelten, weil Deutschland ein ähnliches Übergewicht hätte wie Preußen im Deutschen Kaiserreich. Bündnisse dieser Art pervertieren zu Hegemonien. Es stünden keine Optionen in nächster Nähe zur Verfügung. Womöglich müsste Deutschland dann – zynisch gesprochen – seine besondere Partnerschaft mit der Türkei beleben, um doch noch einen Freund zu finden.


Marco Gallina schreibt vorzugsweise auf www.marcogallina.de

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