Tichys Einblick
Wenn Politiker am Ast sägen, auf dem sie ...

Causa Merz – Das deutsche Parteiensystem gerät auf Treibsand

Das deutsche Parteiensystem ist in Bewegung geraten. Das hat in den Parteizentralen noch niemand so recht begriffen, denn dort pflegt man die alten Spielchen, die alten Rituale, die abgestandenen Phrasen, allerdings im sich steigernden hysterischen Ton.

IMAGO / Chris Emil Janßen

Wird die politische Situation in Deutschland europäischer? Heißt: beweglicher, dynamischer, moderner – ängstliche Gemüter könnten freilich fürchten: unsicherer, zumindest unberechenbarer? Die Causa Merz ist in Wahrheit eine Causa CDU/CSU, ist überdies und vor allem eine Causa bundesdeutsches Parteiensystem. Die Demokratie ist ein Tanker, der braucht, bis er reagiert – in Deutschland aufgrund der nationaltypischen Bonhomie, auch Schafsgeduld genannt, allerdings besonders lang. Doch wenn er in Bewegung geraten ist, bringt ihn niemand mehr auf den alten Kurs.

Man muss nicht allzu sehr in der Geschichte suchen, auch nicht in der bundesrepublikanischen, um zu verstehen, dass das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland inzwischen Geschichte ist. Seine Existenz ist unwirklich. Die Parteiapparate, die sich in den letzten zwei Jahrzehnten komplett von der Wirklichkeit entkoppelt haben oder noch nie wie die Grünen in der Realität beheimatet waren, haben eine Parallelwelt ausgebildet und führen eine surreale Existenz als Wiedergänger von ehemals politischen Parteien, deren Kommunikation nicht einmal das Niveau von ChatGPT erreicht, weil sie nur unter einem sehr begrenzten Bestand an Textbausteinen auswählen dürfen, den der Ungeist des Wokismus zulässt, jener Patchwork-Ideologie, die man metaphorisch auch als Autoimmunerkrankung unserer Kultur verstehen kann.

Brandmauer gegen die AfD
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Zwar sind Wahlprognosen keine Wahlergebnisse, doch fassen sie die politische Situation viel genauer als Wahlergebnisse, denn in den Prognosen zeigt sich das unmittelbare Empfinden und Denken, das durch eine Vielzahl an Gefühlen und Ängsten in der Wahlkabine überformt wird. Wahlprognosen kann man so auch als Fieberkurve der Gesellschaft verstehen, sie widerspiegeln nicht Wahlen, sondern Meinungen, Empfindungen, Befürchtungen, Hoffnungen, Zufriedenheiten und Unzufriedenheiten des Volkes mit der gesellschaftlichen Entwicklung. Lesen wir also Wahlprognosen nicht als Fingerzeige für künftige Regierungen, sondern als Ausschläge des Seismographen der Gesellschaft.

Insa hat gestern für die AfD den Zustimmungswert von 21,5 Prozent gemessen, für die CDU/CSU 26,5 Prozent, für die SPD 18 Prozent, für die Grünen 14 Prozent, für die FDP 7 Prozent und für die Linke 4,5 Prozent. In den Umfragen ist die AfD stärkste Partei, denn CDU und CSU sind, auch wenn sie eine Fraktionsgemeinschaft bilden, zwei Parteien. Ob 21,5 Prozent oder 20 Prozent, die Meinungsforschungsinstitute stimmen im Wesentlichen darin überein, die AfD jenseits der 20 Prozent zu verorten. Das Institut Wahlkreisprognose sieht die Grünen in Baden-Württemberg zwar mit herben Verlusten mit 25,5 Prozent noch vorn in der Wählergunst, gefolgt von der CDU mit 24 Prozent, aber auch in dieser Umfrage überspringt die AfD nicht nur wie in Ostdeutschland, sondern nun auch im Westen die 20-Prozent-Marge mit 21 Prozent, weit abgeschlagen die SPD mit 11 Prozent und die FDP mit 7 Prozent.

Im Vergleich zur Wahl 2021 verlieren die Grünen 7,1 Prozentpunkte ihrer Wähler, die CDU 0,1 Punkte und die AfD gewinnt 11,3 Prozentpunkte hinzu. Damit bestätigt das Institut den Trend, der vor vier Tage zuvor vom Meinungsforschungsinstitut infratest dimap für Baden-Württemberg ausgemacht wurde, das 19 Prozent für die AfD prognostizierte. Auch in Hessen kommt die AfD in den Umfragen mittlerweile auf 20 Prozent und liegt dort gleichauf mit der SPD. Die Spitzenkandidatin der Hessen-SPD, die Turbomigrationsministerin Nancy Faeser, wird es sicher noch gelingen, die SPD klar hinter der AfD zu platzieren.

INSA
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Die Ursachen für diese Entwicklung wurden hier mehrfach besprochen und dürften jedem, wenn er nicht im Apparat der Parteien, die sich demokratisch nennen, sitzt, klar sein. Fragen wir deshalb danach, wie sich diese Entwicklung auf die Parteien auswirkt. Bis jetzt reagieren die Funktionäre der Grünen, der Linken, der SPD, der FDP und der Union in der Mehrheit mit Realitätsverweigerung. Sie setzen alle Hebel, alle Propagandamittel, alle ideologischen Staatsapparate, wie es der Marxist Louis Althusser einst nannte, zu einer Zeit, als Linke intellektuell noch ernst zu nehmen waren, in Bewegung, um die Wirklichkeit zu erziehen. Sie richten ihre politische Agenda nicht an der Wirklichkeit aus, sondern versuchen, die Wirklichkeit an ihrer politischen Agenda auszurichten. Das nennt man Voluntarismus, den man sich nur im politischen Wolkenkuckucksheim, neudeutsch: Blase, leisten kann.

Für die Grünen bedeutet das, das sie ihre kommunistische Gesellschaftsutopie namens klimaneutrale Gesellschaft auf Biegen und Brechen durchsetzen wollen und sie in ihrer Selbstermächtigung als Streiter für die gute Sache keine Grenzen kennen, denn sie haben nichts anderes als ihre reaktionären Träume – alles wird à la Orwell umdefiniert nach Maßgabe der eigenen Gesellschaftsutopie und Selbstermächtigung, teils von amerikanischen Stiftungen mittelbar finanziert. Die Vereinigung von Bündnis 90 mit den Grünen stellte den Verrat von Bündnis 90 an der Friedlichen Revolution von 1989 dar. Genaugenommen sind die Grünen auch keine politische Partei, sondern ein Weltanschauungsverein. Nicht Politik steht im Mittelpunkt, sondern Gesinnung. Die Resultate ihrer Politik kann man an den Wirtschaftsdaten oder an der Kriminalstatistik ablesen.

Wie sie schon Merkels Politik stark beeinflussten, dominieren sie nun die Ampel. Das gelingt, weil selbst die SPD nicht mehr weiß, wofür sie steht, wer sie ist, für wen sie Politik macht. Für Migranten, für People of Color, für die Transsexuellen-Lobby – nur eben nicht mehr für die Deutschen ohne Migrationshintergrund. Dass eine moderne sozialdemokratische Politik möglich ist, zeigen die dänischen Sozialdemokraten. Intellektuell und politisch ist die SPD vollständig in der Partei der Grünen aufgegangen. Noch hat die SPD allerdings Machtoptionen jenseits der Grünen, noch, wenn sie sich einer modernen Sozialpolitik abseits von Identitätspolitik verschriebe und zwar mit der Union, aber rein theoretisch auch, weil es praktisch nicht nur vollkommen ausgeschlossen und geradezu undenkbar ist, mit der AfD und der FDP, denn zumindest fokussieren beide Parteien soziologisch auf das gleiche Milieu, Gemeinsamkeiten in der Sozialpolitik wären also definierbar.

Die AfD wird einhergehend mit der wirtschaftlichen Entwicklung zunehmend die Partei der unteren und mittleren Mittelschicht, der Wählerschichten, die eine identitätspolitische SPD aufgegeben hat. Da nützt auch alle teure Phantompolitik um die Erhöhung des Mindestlohns nichts. Über die FDP muss man kein Wort verlieren, sie ist die Partei derer, die sich den Realitäten nicht zu stellen gedenken und über die man mit Adolf Glaßbrenner spotten könnte: „Immer langsam voran! Immer langsam voran, /Daß der Michel beim Fortschritt nachkommen kann!“.

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Insofern ist der mediale Overkill, den Friedrich Merz erlebte, nachdem er im Sommerinterview eine Selbstverständlichkeit ausgesprochen hatte, dass man auf kommunaler Ebene in Sachthemen sehr wohl mit der AfD Wege der Zusammenarbeit finden müsste, an Heuchelei kaum mehr zu überbieten. Denn auf kommunalpolitischer Ebene arbeiten ohnehin alle Parteien mit allen Parteien zusammen, weil die Sachthemen sehr viel näher liegen als die ideologischen Vorbehalte. Die Entscheidung über eine Kita, einen Sportplatz, eine Schule sind weder rechts noch links.

Doch nicht die erwartbare, bigotte Empörung der Grünen und der SPD entfachten das Feuer im Kessel, sondern erst die konzertierte Aktion der Merkelianer in der CDU, der Wüst-Funktionäre, denn Hendrik Wüst ist der Lordsiegelbewahrer von Merkels Erbe in der CDU und wohl auch inzwischen der parteiinterne Anführer des merkelistischen Funktionärsapparats.

Friedrich Merz war nie der Parteivorsitzende des Apparates, sondern er war der Parteivorsitzende der Basis. Der Apparat hatte Friedrich Merz einen Aufpasser vor die Nase gesetzt in Gestalt von Mario Czaja. Die großen und entscheidenden Fehler von Friedrich Merz bestanden darin, dass er sich erstens Cazja vor die Nase hat setzen lassen, und zweitens nicht das Bündnis mit der Basis schmiedete, auch über neue Formen in der Partei, die nur ein Ziel haben konnten, nämlich substanzielle Veränderungen im Parteiapparat vorzunehmen. Dazu hätte es einer klaren, taktisch geschickten, lang- und mittelfristig angelegten Strategie bedurft.

Hier hätte er, was den Bewegungscharakter betrifft, mutatis mutandis von Macron und „En marche“ lernen können – und auch von Merkel und deren Griff nach der Macht in der CDU nach der Wahlniederlage 1998. Doch dazu war Merz nicht in der Lage, weil er erstens die Partei nach ihrer Merkelisierung nicht mehr gut genug kennt, zweitens weil er dann doch selbst zu sehr Mann des Partei-Establishments ist und deshalb auch nur in diesen Bahnen zu denken vermag, und drittens weil er keine Agenda besitzt. Merz hat die Basis enttäuscht und die Verbündeten in der Partei mehr als einmal düpiert. Er ist der Johann Ohneland der CDU.

Ein Blick auf die Chronologie verdeutlicht, was eigentlich hinter dem medialen Getöse steckt. Wüst hat den Grundsatzkonvent, auf dem sich Merz und Linnemann soweit erniedrigt hatten, sich von dem Hardcore-Grünen Fücks in die Kladde diktieren zu lassen, welche politische Linie die CDU künftig zu vertreten hat, benutzt, um seinen Anspruch auf die Kanzlerkandidatur zu stellen. Das war taktisch zu früh und zeigte, dass Wüst auf der Ebene „Junge Union“ stehengeblieben ist, doch diesen Warnschuss hörte nun auch der Parteivorsitzende, der bis dahin sich wohl gar nicht vorstellen konnte, dass jemand anderer in der Union ihm den Griff nach der Kanzlerkandidatur hätte streitig machen können. Dabei hat er doch den Grünen bisher weitestgehendes Entgegenkommen signalisiert und lässt sich auch immer wieder für einen gelegentlichen flotten Spruch oder ein kurzes Anerkennen der Realität sofort von den grünen Twitter-Gouvernanten schelten und zurückpfeifen.

Grüne und SPD
Die Heuchelei der linken Parteien: sie arbeiten längst mit der AfD zusammen
Immer mehr Bürger, die sich nach einer Opposition zum Ampel-Kurs der Deindustrialisierung, der Verelendung und des Niederganges sehnen, lässt Merz keine andere Wahl, als sich der AfD zuzuwenden. Die Umfrageergebnisse der AfD, die mittlerweile auf dem Niveau der CDU stehen, wenn sie diese nicht überholen, zwingen Merz, die ungeliebte Oppositionsrolle etwas, wenn auch hasenfüßig, auszuprobieren. Er versuchte, die Überlebenswahrheit der Union auszusprechen, nämlich, dass der Hauptgegner der CDU die Grünen sind. Deshalb warteten Wüsts Truppen nur auf einen Anlass, um den Parteivorsitzenden anzugreifen. Diesen Anlass erblickten sie nun in der unspektakulären Aussage des Parteivorsitzenden am Sonntag im ZDF. Ein Sturm, vor allem von CDU-Apparatschiks und von Markus Söder auch noch befeuert, der wohl auf die Kanzlerkandidatur hofft, brach über Friedrich Merz herein. Dass diese Funktionäre damit zwar nicht nur den Parteivorsitzenden beschädigt haben, sondern vor allem die CDU, dürfte ihnen in den Wandelgängen der CDU, in denen es keine Fenster nach draußen gibt, nicht aufgefallen sein.

Doch es ist eine historische Erfahrung; was stürzen will, das stürzt, und was sich auf die schiefe Ebene begibt, das gerät ins Rutschen. Der Parteivorsitzende ist nun nicht mehr zu halten. Er hat nach seinem Zurückrudern vollends jede Unterstützung verspielt, weil er seine Unterstützer der Lächerlichkeit preisgegeben hat. Damit wird folgendes Szenario immer wahrscheinlicher: Über die Dauer von Friedrich Merz im Amt des Parteivorsitzenden entscheidet nicht mehr Friedrich Merz, sondern Hendrik Wüst. Wäre es anders, hätte Wüst nicht eisernes Stillschweigen zur Causa Merz seit Sonntag gewahrt. Er scheint vermeiden zu wollen, als Catilina wahrgenommen zu werden, um nicht selbst Opfer seines Griffs nach der Macht zu werden. Merz wird zu dem Zeitpunkt gestürzt, an dem man es als günstig einschätzt.

Nimmt man interessiert verursachte Artikel zur Kenntnis, ist Folgendes denkbar: Merz wird von der Spitze der Partei verdrängt und der personifizierte Merkel-Apparatschik Armin Laschet als Parteivorsitzender installiert. Auffällig genug wird er jedenfalls in letzter Zeit von den Grünen als Alternative zu Friedrich Merz über den grünen Klee gelobt. Die Kanzlerkandidatur wird intern vereinbart, der Öffentlichkeit zum passenden Zeitpunkt bekannt gegeben. Vermutlich wird man auf jeden Fall die Bayernwahl am 8. Oktober 2023 abwarten, um den bayrischen Aspiranten klein zu halten. Doch ob die Klugheit oder die Ungeduld einen späteren oder früheren Termin der Bekanntgabe bestimmen, bleibt abzuwarten.

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Grundsätzlich ändern die denkbaren Szenarien nichts an den Folgen für die CDU. Ein Kanzlerkandidat Wüst wird im Osten nicht vermittelbar sein, nicht einmal, wenn man einen Ostdeutschen zum CDU-Vorsitzenden machte. Eine CDU unter Laschet, eine CDU, die nur noch als grüne Blockpartei wahrgenommen wird, wird den Zulauf zur AfD verstärken. Die CDU würde verzwergen, auseinanderbrechen, sich spalten. Die enorme Leidensfähigkeit der Konservativen und der Liberalen hätte ihr Ende erreicht. Eine neue Partei könnte sich gründen, die den Raum zwischen Merkel-CDU und AfD ausfüllen würde und die auch für FDP-Leute und enttäuschte FDP-Wähler attraktiv wäre. Die Absurdität der deutschen Situation besteht darin, dass eine Mehrheit der Wähler eine bürgerliche, eine liberale, eine konservative, eine strikt und konsequent antigrüne Politik wollen. Bei allem dadurch bedingten Zuspruch wird es der AfD auch nicht gelingen, das mangelnde Angebot im Parteienspektrum alleine auf sich zu vereinen. Es bedarf eines Mitte-Rechts-Bündnisses, wie man es auch in anderen europäischen Ländern beobachten kann.

Grüne, SPD, FDP müssen die Verzwergung oder die Spaltung der CDU fürchten, weil damit alle Parteien auf Treibsand geraten. Die Statik ist weg. Die Basis der Herrschaft der Grünen besteht in der Gefolgschaft der CDU. Ohne CDU blieben sie, wenn es günstig läuft eine 13-Prozent-Partei, und auch nur mit dem Einfluss einer 13-Prozent-Partei, aber mit fortschreitender wirtschaftlicher Talfahrt dürften die 13 Prozent nicht zu halten sein.

Das deutsche Parteiensystem ist in Bewegung geraten. Das hat in den Parteizentralen noch niemand so recht begriffen, denn dort pflegt man die alten Spielchen, die alten Rituale, die abgestandenen Phrasen, allerdings im sich steigernden hysterischen Ton.

Sollten Grüne, SPD, FDP, Linke und CDU der totalitären Versuchung nachgeben, dem Rat von Georgine Kellermann zu folgen, die in einem Tweet empfahl: „Wir müssen unsere Demokratie auch mit undemokratischen Mitteln gegen ihre Feinde verteidigen“, und die AfD verbieten, dann wäre nicht ein einziges Problem gelöst, sondern alle Probleme nur verschärft, weil damit die Regeln des demokratischen Aushandelns suspendiert wären und sich die Auseinandersetzungen auf andere Ebenen verlagern würden. Eine Radikalisierung wäre die Folge sein.

Aber vielleicht ergötzt die CDU das Publikum noch und gibt sich eine Doppelspitze in Gestalt von Tobias Hans und Marco Wanderwitz mit einem Generalsekretär Ruprecht Polenz. Es heißt, die Herren haben gerade viel Zeit.

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