Tichys Einblick
Verfassungsstörung!

Das Votum der Wähler zählt für die Abgeordneten nicht im Parteienstaat

Erstaunlich ist insbesondere die Bereitschaft der Abgeordneten, zuvorderst der Fraktion der SPD, aus ihren eigentlichen Funktionen abzudanken.

© Odd Andersen/AFP/Getty Images

Der Vorgang ist in der Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland einzigartig. Auch fast fünf Monate nach einer Bundestagswahl, in der die beiden Parteien der großen Koalition eindeutige Verlierer waren, gibt es immer noch keine Regierung. Die geschäftsführenden Minister – allen voran Herr Gabriel – tun indessen so, als ob ihre Tätigkeit auch weiterhin den Anspruch demokratischer Legitimation erheben kann. Indessen ist das Gezerre um Posten nicht nur ein Grund für die Politikerverdrossenheit der Bürger, sondern auch ein Anlass, über die Funktionalität des parlamentarischen Regierungssystems nachzudenken.

Denn die hart verhandelten Ergebnisse des sogenannten Koalitionsvertrages werden nun einer Instanz zur Zustimmung unterworfen, die das Grundgesetz bei der Regierungsbildung gar nicht vorsieht. Die ca. 460.000 Mitglieder der SPD haben nämlich die Befugnis, über das Wohl und Wehe einer Fortsetzung der großen Koalition zu entscheiden. Zwar hat das Grundgesetz in Art. 21 die Parteien als intermediäre Instanzen installiert, wenn auch unter Vorbehalten. Gleichwohl ändert dies nichts an dem Grundsatz, dass der Bundeskanzler vom Bundestag aus seiner Mitte gewählt wird. Weder Parteitagen, noch Urabstimmungen sollen nach dem Willen des Grundgesetzes darüber entscheiden, ob und wie eine Regierungsbildung mit einer Kanzlermehrheit zustande kommt.

Tages-Themen-Dämmerung
Das hatte die Redaktion der Tagesthemen nicht geplant
Währenddessen sind die von der Verfassung vorgesehenen Entscheidungsträger – die Abgeordneten – damit beschäftigt, sich in den einzelnen Ausschüssen zu sortieren. Im Übrigen dürfen sie abwarten, was die Mitglieder ihrer Parteien, besonders die Mitglieder der SPD über das Schicksal der Regierungsbildung beschließen. Damit sind wir vom imperativen Mandat nicht mehr weit entfernt. Währenddessen sieht Art. 38 GG eindeutig vor, dass alle Abgeordneten des Bundestages Vertreter des gesamten deutschen Volkes und nur ihrem Gewissen verpflichtet sind und daher auf Abstimmungen innerhalb ihrer Parteien keine Rücksicht nehmen dürfen. Die Entscheidung über die Regierungsbildung und die Verpflichtung, an einer Regierungsbildung teilzunehmen, obliegt daher ausschließlich den Mitgliedern der Fraktion.

Erstaunlich ist an diesem Vorgang insbesondere die Bereitschaft der Abgeordneten, zuvorderst der Fraktion der SPD, aus ihren eigentlichen Funktionen abzudanken. Nur sie haben das Recht – aber auch die Pflicht -, sich an der Regierungsbildung durch Wahl des Bundeskanzlers zu beteiligen. Entscheidungen ihrer Parteimitglieder sind für die Dezisionskriterien der Abgeordneten unerheblich. Die parlamentarische Demokratie bringt sich durch diese Unsitten des Parteienstaates um ihre eigene Existenzbedingung. Die Diskussion über die Vermeidung dieser Gefahrenlage für die Demokratie ist damit eröffnet. Hoffentlich sehen die Vertreter im Bundestag mittlerweile ein, dass nur das Mehrheitswahlrecht aus dieser Bredouille hilft.