Tichys Einblick

Das Ende des Zeitalters der Demokratie?

Anmerkungen zu Philip Manow, (Ent)Demokratisierung der Demokratie (Frankfurt, 2020).

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Vor einiger Zeit hat der Landtag von Brandenburg ein Gesetz verabschiedet, das gewährleisten soll, dass in Zukunft die Hälfte der Abgeordneten des Landtages Frauen sind. Es liegt jetzt dem Verfassungsgericht des Landes zur Prüfung vor. Ein ähnliches Gesetz ist in Thüringen verabschiedet worden. Es ist denkbar, dass beide Gesetze an den jeweiligen Verfassungsgerichten scheitern. Sicher ist das aber nicht, weil in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren häufiger Personen ohne zureichende Qualifikation oder mit einer dezidiert linken Agenda in die Verfassungsgerichte berufen wurden. Der Höhepunkt war in Mecklenburg-Vorpommern die jüngste Berufung einer Richterin (Barbara Borchardt), die wohl eher eine Gegnerin der parlamentarischen Demokratie ist, eine Berufung, die nur zustande kam, weil die CDU mitspielte, auf die in diesen Dingen auch keine Hoffnung mehr zu setzen ist. Von daher ist es denkbar, dass erst in den neuen Bundesländern, dann in einem zweiten Schritt sicher auch in den alten das Wahlrecht vollständig umgestaltet wird. Und machen wir uns nichts vor, gibt es erst einmal Quoten für Frauen in den Landtagen, dann werden bald Quoten für andere Gruppen folgen: für ethnische Minderheiten wie etwa für „persons of colour“, aber auch für sexuelle Minderheiten.

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In der logischen Konsequenz läge es dann, von den Parlamenten zu verlangen, dass ihre Zusammensetzung möglichst exakt das demographische Profil der Bevölkerung widerspiegelt, während heute natürlich zum Beispiel Personen mit Universitätsstudium (mit und ohne Abschluss) und vermutlich auch mit Promotion (namentlich, wenn man die gnadenhalber von Fakultäten verliehenen Doktortitel mit einbezieht) überrepräsentiert sind, was in Zukunft dann ebenso wenig hinnehmbar wäre, wie die bedauerliche Überzahl von weißen Männern heute.

Im Grunde genommen würde man sich damit von der Idee der repräsentativen Demokratie überhaupt abwenden, die impliziert, dass Abgeordnete auch die Interessen von Personen mitvertreten, die einem ganz anderen Milieu angehören als sie selber. Man würde eher zu ständestaatlichen Vorstellungen zurückkehren, mit der Folge, dass jeder „Stand“ nur durch seine eigenen Angehörigen repräsentiert werden kann. In der Zwischenkriegszeit gab es solche Überlegungen ja durchaus, etwa beim Nationalökonomen Otmar Spann (1878-1950), den man freilich in der Regel dem Austrofaschismus zurechnet. Aber warum sollten nicht solche Ideen in linkem Gewande eine Wiederauferstehung feiern? Ihre Anhänger haben sie offensichtlich.
Dabei kommt in solchen Wahlgesetzen auch ein tiefes Misstrauen von maßgeblichen Vertretern der politischen Klasse gegenüber dem Wähler zum Ausdruck. Man traut ihm – oder ihr – offenbar nicht zu, die „richtigen“ Personen zu wählen. Also müssen die Wahlen gesteuert werden, damit im Parlament die relevanten sozialen Gruppen alle in angemessener Weise vertreten sind. Verfolgt man diesen Gedanken bis zu seinen äußersten Konsequenzen weiter, dann kann man Wahlen freilich auch ganz abschaffen, oder nur noch als bloßes Ritual erhalten, ohne jede wirklich reale Bedeutung. Dass die Demokratie ein solches Ende nehmen und zur bloße Fassade werden könnte, so wie in der Antike die römische Republik nach der Machtergreifung des Augustus, erscheint heute keineswegs mehr ausgeschlossen.

Wird die Demokratie Opfer ihres eigenen Erfolges?

Aber die Gefährdung der Demokratie geht heute nicht nur von einer Einschränkung des Wahlrechtes im Sinne einer Quotenregelung aus, von der man immer noch hoffen mag, dass sie vor den Verfassungsgerichten keinen Bestand hat. Die Demokratie an sich, droht, wie jüngst auch der Politikwissenschaftler Philip Manow in einem geistreichen Buch – (Ent)Demokratisierung der Demokratie – dargelegt hat, Opfer ihres eigenen Erfolges zu werden. Zum einen gibt es seit 1989 kein Gegenmodell zur Demokratie mehr. Seit dem Sturz der sozialistischen Diktaturen im Osten und dem Verschwinden konservativ-autoritärer oder gar postfaschistischer Regime, deutlich früher, im Laufe der 1970er Jahre im Westen lässt sich politische Autorität faktisch nur noch durch demokratische Wahlen legitimieren, jedenfalls in Europa, in China z. B. mag das freilich anders aussehen, und auch in arabischen Ländern.

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Der Kampf gegen die Gefahr des Kommunismus oder auch eine mögliche Diktatur von rechts, wie sie z. B. in Griechenland 1967 bis 1974 bestand, hatte im Europa aber nach 1945 durchaus eine stabilisierende, integrierende Funktion für die Demokratie. Heute besteht links wie rechts eher die Befürchtung, dass die Demokratie von innen ausgehöhlt werden könnte. Die Fassaden bleiben, wie schon anagedeutet, stehen, aber hinter diesen Fassaden setzen sich in Wirklichkeit Gegenmodelle durch. Links der Mitte, aber vielleicht auch im liberal-bürgerlichen Lager besteht der Eindruck, dass sich dieser Prozess in Länder wie Ungarn und Polen schon vollzogen hat, aber auch in den USA unter quasi „cäsaristischen“ oder bonapartistischen Vorzeichen zur Vollendung kommen könnte, falls Präsident Trump wiedergewählt wird. Sowohl in Polen wie in Ungarn handelt es sich ohne Zweifel um demokratisch gewählte Regierungen, die aber in der Tat für ein Modell der postliberalen Demokratie eintreten, in der der Spielraum für die Opposition bewusst begrenzt ist, weil diese aus der Sicht der Regierung als staatsfeindlich und damit als illegitim gilt.
Die abnehmende Relevanz von Wahlen als Gefahr für die Demokratie

Das Problem einer Aushöhlung der Demokratie besteht aber auch aus der entgegengesetzten Perspektive namentlich durch die Verlagerung von immer mehr Entscheidungen auf eine Ebene, die der demokratischen Willensbildung innerhalb des Nationalstaates entzogen ist. Das gilt für supranationale Organisationen wie die EU, die von Anfang an postdemokratisch strukturiert war, ebenso für die Tendenz, bestimmte politische Fragen immer mehr den Gerichten, nationalen und supranationalen, zur Entscheidung zu überlassen. Dazu kann dann auch die Frage gehören, wie viel Immigration man zulassen will, oder soll. In dem Maße, in dem politische Entscheidungen konstitutionalisiert werden, d. h. Verfassungsrang erlangen, sind sie dann später auch nicht mehr durch normale Mehrheitsentscheidungen zu modifizieren. Wenn man am Ende – und namentlich in der EU besteht dazu die Tendenz – „alle wichtigen Entscheidungen konstitutionalisiert sind,“ müsse der Streit über diese Entscheidungen, so Manow, „zwangsläufig die Form einer Verfassungskrise annehmen“ (169); wer eine andere als die offiziell von Gerichten oder von Gremien mit verfassungsgebender Autorität einmal festgelegte Politik will, wird damit faktisch zum Verfassungsfeind.

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Mit diesem Vorwurf kann man entsprechende Parteien zwar leichter marginalisieren, schafft aber einen Konflikt, der eher einer echten Feindschaft als einer agonalen Gegnerschaft in einer Demokratie entspricht. Zunehmend nehmen auch Wahlkämpfe diese Form an. Ein Beispiel wäre der EU-Wahlkampf von 2019 in Deutschland, bei dem die dediziert pro-EU Parteien suggerierten, ihre Gegner, vor allem die AfD, seien grundsätzlich Feinde Europas und sogar der Demokratie an sich. Damit war man sogar halbwegs erfolgreich, aber wie Manow zurecht betont: „das läuft auf eine Vorstellung von Demokratie hinaus, die die Möglichkeit eines sich über Wahlen vollziehenden, regelhaften Machtwechsels ja grade ausschließen muss. Es läuft also auf gar keine Vorstellung von Demokratie hinaus.“ (145)
Kann die Demokratie den Nationalstaat überleben?

Eine Gefährdung der Demokratie sieht Manow aber auch dezidiert in der zunehmend zu beobachtenden Auflösung von Staatlichkeit überhaupt. Die Partizipationsrechte in Demokratien waren traditionell immer an die Staatsbürgerschaft geknüpft und zwar an die Staatsbürgerschaft in einem Nationalstaat mit festen Grenzen. Zunehmend wird jetzt aber postuliert, dass eine solche Form von Demokratie auf eine Diskriminierung der Anderen, der Nicht-Staatsbürger, etwa rezenter oder sogar bloß potentieller Immigranten hinauslaufe; diese müssten dieselben Rechte haben wie die in einem Land Geborenen, und eigentlich müsse jeder das Recht haben, sich überall auf der Welt jederzeit niederzulassen. Damit wäre der Nationalstaat natürlich vollständig aufgelöst, das Bürgerrecht wäre wertlos geworden.

Ähnliche Konsequenzen hat aber die Entmachtung der Nationalstaaten durch supranationale Organisationen, denen es ihrerseits dann nicht gelingt, zu echten Staaten mit einheitlicher Staatsgewalt und einem zumindest politisch, wenn auch nicht ethnisch homogenen Staatsvolk zu werden. Die EU ist hier ja das klassische Beispiel. Wer solche Entwicklungen der Entstaatlichung vorantreibt, übersieht oft, welch große Leistungen der Staat bei der Befriedung und Einhegung politischer Konflikte erbracht hat. Nur innerhalb seines institutionellen staatlichen Regelwerkes ist es möglich, Konflikte in friedlicher Form und nicht in Gestalt einer unüberwindlichen Feindschaft auszutragen.

Versucht man die nationalstaatliche Demokratie durch eine Art Weltdemokratie – für manche ihrer Anhänger ist auch die EU mit ihrer Tendenz zur grenzenlosen Erweiterung offenbar nur ein Baustein eines noch zu schaffenden Weltstaates – zu ersetzen, in der es keinen Unterschied mehr zwischen Menschen- und Bürgerrechten gibt, riskiert man die Demokratie an sich abzuschaffen. Oder, wie Manow im Anschluss an die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown schreibt: „Ist der imperiale Traum des Universalismus dereinst verwirklicht, wird er nicht die Form der Demokratie angenommen haben. Die Verwirklichung dieses Traumes würde nicht nur keine demokratische Form annehmen, sondern stattdessen notwendigerweise eine tyrannische.“ (157)

Der Rückzug beginnt
Die EU ist kein Staat und hat kein Recht
Gemeint sind damit zwar Träume von einem möglichen Weltstaat, aber mit Einschränkungen ist diese Warnung auch für die Zukunft der EU relevant, die man zwar nicht als Tyrannis bezeichnen kann, aber doch als ein politisches Gebilde, in dem durch Wahlen nicht mehr übermäßig viel entschieden werden kann, weil die selbstgeschaffenen Sachzwänge, der beständige Zwang zum umfassenden Kompromiss, und die Unmöglichkeit, Rechtsnormen mit faktischem Verfassungsrang – und das gilt in der EU fast extrem viele Rechtsnormen – jemals wieder zu revidieren, das unmöglich machen. Wer darauf hinweist, ist freilich fast schon ein Ketzer. Aber als solcher zu gelten, davor scheint Manow wenig Angst zu haben.
Am Ende muss man dezidiert seinem Diktum zustimmen: „Man wird die (repräsentative) Demokratie gegen ihre Herausforderer schlecht verteidigen können, wenn man ihre gegenwärtigen Schwächen nicht thematisiert, weil man sich darin eingerichtet hat, Ursache und Folge zu verwechseln.“

Wie wenig freilich unsere Politiker bereit sind, auf solche Warnungen zu hören, das eben zeigen auch die anfangs angesprochenen Paritätsgesetze für Brandenburg und Thüringen. Man will offenbar die Krise der repräsentativen Demokratie sogar noch bewusst eskalieren lassen, weil man hofft, davon zu profitieren. Der Aufstand der sogenannten „Populisten“ gegen solche Regelungen ist einkalkuliert und der Kampf gegen diese Populisten wird dann weitere Gegenmaßnahmen bis hin zu einer Einschränkung der Meinungsfreiheit – eine Tendenz, die im Zuge des Strebens nach politischer Korrektheit durchaus schon erkennbar ist – legitimieren. So scheint man zu denken. Ob diese Rechnung freilich aufgeht, bleibt offen.

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