Tichys Einblick
Flüchtlingskrise: Gespaltene Realität

Beim Thema Flüchtlinge sind wir alle „triggered“

Wir verordnen Irrationalität und Ignoranz gegenüber den Fakten gerne bei allen, die anderer Meinung sind. Aber wir alle handeln unter dem Einfluss kognitiver Verzerrungen. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise macht dies deutlich.

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Mit etwas zeitlichem Abstand und losgelöst von ihren Details betrachtet ist der tiefgreifendste Effekt der „Flüchtlingskrise“ von 2015 vielleicht der, dass sie die Wahrnehmung der Deutschen, die ihr als Volk und als Gesellschaft ausgesetzt waren und sind, in zwei Hälften gespalten hat. Vielerorts hat sich dies dadurch bemerkbar gemacht, dass die Kommunikation zwischen Gegnern und Befürwortern der „Flüchtlingspolitik“ auf allen Ebenen zusammengebrochen ist und noch immer darniederliegt.

Die Befürworter der „Flüchtlingspolitik“ und damit auch der Regierung Merkel nehmen die negativen Folgen der jüngsten Zuwanderung – wenn überhaupt – selten in vollem Umfang wahr und selbst wenn sie es tun, dann stellen sie nicht den Zusammenhang zwischen diesen Folgen und der Politik her, die sie bedingt hat. Das hat nichts mit mangelnder Intelligenz zu tun, sondern es besteht eine kognitive Blockade, die logische Verknüpfung zwischen Punkt A und Punkt B herzustellen. Sollte dann jemand anderes in ihrer Hör- oder Sichtweite diese Verknüpfung an ihrer Stelle einzeichnen, löst dies ein reflexhaftes Abwehrverhalten in den bekannten Formen aus: Abbruch des Gesprächs oder gleich des persönlichen Kontakts, Kontaktsperre in den sozialen Netzwerken, mit dem Argument, dass die vom Gegenüber vertretene Ansicht ja irgendwie AfD sei. Diese impulshafte, gereizte bis aggressive Reaktion beschreibt man im Englischen gern mit „triggered“, von „to trigger“ = „auslösen“.

Die kognitiven Vorgänge, die hinter diesem Verhalten vermutet werden, sind der Verhaltensforschung bekannt und wurden auch bereits mehrmals in anderen Beiträgen auf Tichys Einblick aufgegriffen. Der „Confirmation Bias“ oder Bestätigungsfehler zum Beispiel sorgt dafür, dass jegliche Evidenz so selektiert und interpretiert wird, dass die eigene Vorstellung von der Welt dadurch gestärkt wird, sogar dann, wenn die Evidenz dieser Vorstellung explizit widerspricht. Die „kognitive Dissonanz“ dagegen tritt dann ein, wenn das Selbstbild so stark mit der Realität kollidiert, dass daraus nur unangenehme Schlüsse gezogen werden können: Eine Entscheidung, die man in der Überzeugung getroffen hat, intelligent genug zu sein, um sie handhaben zu können, welche sich dann aber als falsch herausstellt, erzeugt kognitive Dissonanz, denn sie rüttelt am konstruierten Selbstbild der intelligenten Person. Die übergroße Mehrzahl der Betroffenen wird als Folge davon ihr Selbstbild nicht komplett abwracken, sondern sich Gründe ausdenken, warum die Entscheidung doch nicht so dämlich gewesen ist, wie es den Anschein hat, um die Dissonanz aufzulösen. Deshalb wird der moralische Imperativ der „Flüchtlingsaufnahme“ so oft bemüht, um sie nachträglich auch dann noch zu rechtfertigen, wenn sich ihre Auswirkungen auf die Kriminalität oder den sozialen Frieden bereits bemerkbar machen: Nein, man war nicht kurzsichtig oder verblendet. Man war moralisch! Im höchsten Stadium dieser Dissonanzbewältigung entsteht dann daraus gedanklich eine Welt, in der Fakten, welche dissonante Widersprüche erzeugen könnten, schlicht nicht mehr existieren.

Wie zu Beginn gesagt, wurde die Wahrnehmung der Gesellschaft gespalten. Der von mir gern zitierte Amerikaner Scott Adams hat sehr gut dargelegt, wie dasselbe in den USA als Folge des Wahlsiegs von Donald Trump geschehen ist: Die Amerikaner sehen seitdem zwei verschiedene Filme auf derselben Leinwand ablaufen.

Parallelgesellschaften und Parallelstrukturen
Die Spaltung Deutschlands
Nun wäre es verlockend, diese Spaltung im Falle der deutschen Gesellschaft dahingehend zu interpretieren, dass die Mitbürger mit den kognitiven Verzerrungen und Blockaden alle auf „der anderen Seite“ unter den Befürwortern der „Flüchtlingspolitik“ zu finden seien. Aber diese Spaltung hat nicht zwischen wahr und falsch oder zwischen Realität und Fiktion stattgefunden. Zwar gab es auf Seiten der Gegner eine Reihe von Prognosen über die Gefahren der unkontrollierten Zuwanderung, welche sich eher erfüllt haben, als die aus den Mündern der Befürworter. Jedoch sind es bei weitem nicht nur die Letzteren, welche mittlerweile in ihrer eigenen Version der Realität leben. Dazu einige Beobachtungen aus den jüngsten Wochen:

Am 16. Februar 2018 twitterte Erika Steinbach einen Artikel mit dem Titel „Flüchtlingshelferin in NRW erstochen – Mann festgenommen“, zusammen mit den Worten „Schon wieder…“ und dem dazugehörigen traurigen Emoticon. Denn wir sind ja alle schwer betroffen. Der verlinkte Fall war real und unzweifelhaft war er tragisch – allerdings stammten der Artikel und die zugehörige Meldung vom 14. Februar 2017.
Offensichtlich war es nicht Frau Steinbachs Absicht, dieser Tat nur zu gedenken, denn sonst hätte sie kaum von einem „Schon wieder“ gesprochen. Aber unabhängig davon, ob sie den Fall absichtlich oder unabsichtlich als neuen Beleg für Flüchtlingskriminalität anführen wollte, ist beachtenswert, dass Steinbachs Tweet mehrere hundert Likes und Retweets erhalten hat. Das heißt, eine ganze Menge von Steinbachs Followern sind auf die veraltete Meldung angesprungen und haben sie weiterverbreitet, ohne auch nur einmal auf das Datum im Artikel oder die Kommentare unter dem Tweet zu achten, die darauf hingewiesen haben. Ein vermeintlicher weiterer Fall der Flüchtlingskriminalität reicht anscheinend aus, um reflexhaft Empörung und Betroffenheit zu erzeugen, während gleichzeitig die Gehirnregionen für die kritische Überprüfung der vermeintlichen Fakten überbrückt werden, zumindest wenn diese Fakten nicht aus den öffentlich-rechtlichen Medien stammen. Genau wie im Fall der Fans der Flüchtlingspolitik wäre es zu einfach, diese impulsive Reaktion mit mangelnder Intelligenz oder Bösartigkeit zu erklären – sie passt stattdessen aber sehr gut in das Schema von „Confirmation Bias“ und kognitiver Dissonanz.

Am 26. Februar twitterte Maximilian Krah über einen Kriminalfall in Frankfurt, bei dem ein dreijähriges Kind verletzt worden war: „Dreijähriger (!) macht einem neuen Herrenmenschen vor LIDL-Filiale nicht sofort Platz, woraufhin der „Mann“ dem Kind in den Bauch tritt. Krankenhaus. Das ist das neue Deutschland von Merkel: bunt wie eine Mülldeponie.“

Herrenmensch-Kind-Merkel-bunt. Wenn man seinen Followern nur diese Brocken hinwirft, ist einem mittlerweile deren Zuspruch sicher – ganz unabhängig davon, dass es im Frankfurter Fall keinen einzigen Beleg dafür gibt, dass der Täter Flüchtling oder Ausländer im Allgemeinen ist. Mit den richtigen Trigger-Worten dekoriert lässt sich jede Meldung über Kriminalität in den Rahmen der Flüchtlingsproblematik projizieren, wo sie dann die entsprechende Reaktion hervorruft. Es ist zwar durchaus erlaubt, über Tathintergründe zu spekulieren, wenn man sich davon einen Erkenntnisgewinn erhofft. Im genannten Tweet wird die Spekulation allerdings als Tatsache präsentiert, was das Publikum entweder nicht realisiert, oder woran es sich nicht stört.

Andere Akteure gehen mit der Tatsache, dass die Realität für ihre Betrachtungen und Wertungen keine Rolle mehr spielt, erfrischend offen um. So erschien anlässlich des Tötungsdelikts an der 14-jährigen Keira G. auf einem vielgelesenen Blog folgender Text: „Und sie wurde Opfer des Systems Merkel, ganz unabhängig davon, ob sie von einem Asylanten mit wie viel Pässen auch immer, einem Deutschen mit Migrationshintergrund oder einem Indigenen getötet wurde.“

Immerhin braucht es da keine „Flüchtlinge“ mehr, um Merkel die Schuld an allen Übeln der Gesellschaft in die Schuhe zu schieben und Erklärungen, warum Merkels „System“ zu tödlichen Messerattacken unter Jugendlichen führt, braucht es erst recht keine. Es genügt, „Merkel“ zu sagen, die üblichen Suggestionen nachzuschieben und schon muss sich niemand mehr mit der Tatsache auseinandersetzen, dass als Tatverdächtiger ein fast gleichaltriger Deutscher in Gewahrsam genommen wurde.

Der ultimative Test dafür, ob „Confirmation Bias“ und kognitive Dissonanz auch auf Seiten der Gegner von Merkel und ihrer „Flüchtlingspolitik“ auftreten, erfolgt dadurch, dass man die Betreffenden mit der gegenteiligen Realität konfrontiert. Vernünftige mit einer Vorliebe für die Wahrheit und die Fakten würden dann sicherlich bemerken, dass sie mit ihrer Ersteinschätzung eines Ereignisses vielleicht etwas übers Ziel hinausgeschossen sind oder gar komplett danebenlagen und sich entsprechend korrigieren. Aber Menschen sind in den allermeisten Fällen nicht vernünftig und zu den eingangs erwähnten Merkmalen der zur Bewältigung der kognitiven Dissonanz erschaffenen Realität gehört, dass die Betreffenden nicht nur unwillig, sondern auch unfähig sind, die ihnen widersprechenden Fakten zur Kenntnis zu nehmen, denn dies würde die kognitive Dissonanz schließlich wiederaufleben lassen.

Basierend auf meinen eigenen Beobachtungen und Experimenten in den sozialen Netzwerken kann ich mittlerweile behaupten, dass viele der überzeugten Gegner der „Flüchtlingspolitik“ genauso „triggered“ reagieren, wenn man ihre Realität durch Verweis auf einen deutschen Täter gefährdet, wie die Befürworter reagieren, wenn man ihre heile Flüchtlingswelt durch Hinweise auf schwer straffällig gewordene „Flüchtlinge“ anzukratzen versucht.

Glücklicherweise waren mir die genannten kognitiven Verzerrungen bereits vertraut, so dass ich den jeweiligen Personen keine originär dumme oder bösartige Intention unterstellen muss. Denn normalerweise triggert mich nichts so zuverlässig wie Erwachsene, die zuerst Unsinn von sich geben und ihn dann auch noch bar jeder Logik und Evidenz verteidigen müssen. In diesem Sinne nachfolgend ein Best-of der Reaktionen, die man als Indizien für starke kognitive Dissonanzen werten kann:

1. Die anderen machen das ja auch.
2. Es hätte ja sein können.
3. In diesem Fall lag ich falsch, aber in dem anderen Fall lag ich richtig.
4. Die Wahrheit wird uns immer noch verheimlicht.
5. Nicht ich bin schuld daran, dass ich mich geirrt habe, sondern die schlimmen Zustände im Allgemeinen, denn wegen ihnen habe ich gedacht, dass es wahr sein könnte.

Diskussionen über die Punkte 1-3 erübrigen sich. Das vierte Statement deutet daraufhin, dass man sich lieber auf Verschwörungstheorien einlässt, die das Selbstbild als klugen Skeptiker stützen, anstatt sich nach einem Fehler zu korrigieren. Nr. 5 schließlich ist die zirkuläre Rechtfertigung der Tatsache, dass man blind, da permanent „triggered“, durch die sozialen Medien stolpert, weil man blind, da permanent „triggered“, ist.

Es ist ja leider auch nicht so, dass es nicht genügend grässliche Kriminalfälle gäbe, in denen sich der religiöse oder kulturelle Hintergrund des Täters tatsächlich als ein wesentliches Tatmotiv herausstellt. Geht man vom Modell des vernünftigen Menschen aus, so sollte dieser doch angesichts der vielen Fälle, die seine Skepsis gegenüber der „Flüchtlingspolitik“ bestätigen, willens und in der Lage sein, diejenigen Fälle, die dies nicht tun, aufrichtig und ohne große Unruhe zur Kenntnis zu nehmen. Aber genau so funktioniert der „Confirmation Bias“ nicht, denn er hält dazu an, neben den realen Fällen von Flüchtlingskriminalität auch gleich noch welche dort zu sehen, wo keine sind, um sich noch bestätigter zu fühlen.

Ich habe es (hoffentlich) vermeiden können, die in diesem Beitrag geschilderten Verhaltensweisen als grundsätzlich dumm, schlecht oder bösartig abzustempeln. Sie sind meinem Verständnis nach einfach vorhanden und das zu einem gewissen Grad in jedem Mitmenschen und jedes Thema betreffend. Wenn man ihre Existenz anerkennt, lassen sich jedoch einige Lehren daraus ziehen, die für den Blick auf den gesellschaftlichen Diskurs zumindest hilfreich sein können:

Eine bestünde darin, sich von der Illusion zu verabschieden, dass sich alle vernünftigen und objektiv urteilenden Leute auf der eigenen Seite des Meinungsspektrums befinden, während die Gegenseite die irrationalen Opfer kognitiver Verschränkungen in sich vereint. Eine andere wäre die, dass das Risiko, Opfer einer gezielten Manipulation zu werden, umso größer ist, je stärker man sich den kognitiven Verzerrungen hingibt, weil man dann umso bereitwilliger auf die „richtigen“ Trigger anspringt.

Zwar halte ich die meisten Mitmenschen, die auf der einen oder der anderen Seite der Flüchtlingsdebatte so „triggered“ agieren, für überwiegend harmlose Leute, deren Sorgen und Motive aufrichtig sind. Aber sie laufen Gefahr, zum Spielball derjenigen zu werden, die genau wissen, welche kognitiven Knöpfe sie drücken müssen, um Unterstützung für ihre eigenen Ziele zu erhalten – und diese Ziele müssen gewiss nicht immer aufrichtig oder gut sein. Davon abgesehen wage ich es noch nicht, darüber zu spekulieren, wie und wann die Spaltung der Wahrnehmung auf der gesellschaftlichen Ebene gekittet und überwunden werden könnte, denn der Weg dorthin erscheint mir gegenwärtig sehr, sehr weit.