Tichys Einblick
Aushöhlung der Demokratie

Auf dem Weg in die Räterepublik

Bärbel Bas möchte eine Art Nebenparlament schaffen: einen Bürgerrat. Nimmt man diese Idee ernst, dann steht eine Entlassung an, entweder die des Deutschen Bundestages oder die des deutschen Volkes – man weiß nur nicht recht welche.

IMAGO / photothek

Bald ist es soweit. Bärbel Bas, der Allgemeinheit wenig bekannte SPD-Politikerin, auch die nicht allzu bekannte Präsidentin des deutschen Bundestages, jedweden Charismas und jedweder Subtilität unverdächtig, freut sich, dass sie drei Millionen Euro an Steuergeldern ausgeben darf, um ihr Lieblingsprojekt verwirklichen zu können. Sie möchte eine Art Nebenparlament schaffen, und zwar einen Rat, einen Bürgerrat, der im September seine Arbeit aufnehmen soll. Per Los sollen aus den 80 Millionen Deutschen 160 Bürgerräte ausgewählt werden.

Und so stellt sich das Bärbel Bas vor: „Zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger sollen mit Hilfe neutraler Experten und Moderatoren circa 40 Stunden lang über ein Thema, das vom Deutschen Bundestag vorgegeben wird, diskutieren. Abschließend sollen sie ein Bürgergutachten mit konkreten Empfehlungen für die Politik erarbeiten, die der Deutsche Bundestag im parlamentarischen Prozess aufnehmen kann.“ Nicht auf die Auswahl der Bürger, sondern auf die Auswahl der Moderatoren und Experten, also der Wächter kommt es an. Neutral werden die Experten und Moderatoren mit Sicherheit nicht sein. Wie die SPD neutrale Experten auswählt, hat die SPD zur Genüge in der Zeit der Pandemie unter Beweis gestellt.

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Nimmt man die Idee von Bärbel Bas ernst, dann steht eine Entlassung an, entweder die des Deutschen Bundestages oder die des deutschen Volkes – man weiß nur nicht recht welche.

Muss das deutsche Volk den Deutschen Bundestag auflösen und eine Reform der Demokratie einleiten, dergestalt, dass erstens ein einfaches Mehrheitswahlrecht eingeführt und zweitens als Voraussetzung für das passive Wahlrecht eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein abgeschlossenes Studium mit dem Nachweis einer gewissen Berufserfahrung verlangt wird, weil die Einberufung eines Bürgerrates, der Empfehlungen für die Politik erarbeiten soll, im Klartext heißt, dass die Abgeordneten nicht in der Lage sind, die Aufgaben, die ihnen vom Souverän übertragen worden sind, zu bewältigen? Denn wären sie es, bedürften sie keines Bürgerrates.

Entweder sind die Volksvertreter nicht in der Lage, das Volk zu vertreten, weil sie als Apparatschiks, als Parteisoldaten, als Listenkandidaten mit dem normalen Leben nichts mehr zu tun haben und die einzigen Menschen, die sie noch treffen, andere Abgeordnete und Parteifreunde sind. Dann sollte man tunlichst auf die Listenkandidaten verzichten, sondern nur noch den Direktkandidaten wählen, der seinen Wählern in seinen Wahlkreisen Rede und Antwort zu stehen hat. Oder die Volksvertreter kennen das Berufsleben nicht, weil sie nie einen Beruf gehabt, nie einen Beruf ausgeübt haben.

In beiden Fällen, entweder als Apparatschik, wie beispielsweise der Grüne Michael Kellner, oder als Ungelernte, wie die abgebrochene Theologiestudentin Katrin Göring-Eckardt, würde die Bildung von Bürgerräten sie als Volksvertreter für Komplettausfälle halten, weil sie nicht das Volk, nicht die Bürger in ihrem Wahlkreis vertreten würden und mangels Kompetenz es auch nicht könnten. Im Gegenteil, es kann dann sogar dazu kommen, dass man gegen die Menschen in seinem Wahlkreis Politik macht, wie beispielsweise Michael Kellner, dessen Politik darauf hinausläuft, dass Schwedts PCK, der Motor der Wirtschaft in der Uckermark, durch Habecks und Kellners Politik wirtschaftlich zerstört wird. Als ihren Volksvertreter haben ihn viele Uckermärker auch nicht haben wollen, denn Kellner kam 2021 erst nach den Kandidaten der SPD, AfD, CDU, Die Linke und der FDP ins Ziel.

Bürgerrat ab Juli:
Die Bundestagspräsidentin traut dem Bundestag nicht
Einzug in den Bundestag hielt Kellner als weit abgeschlagener Listenkandidat nur, weil die Grünen schließlich doch knapp über die 5-Prozent-Hürde kamen. Das dürfte in zwei Jahren anders aussehen. Auch Göring-Eckardt fuhr nicht als Direktkandidatin nach Berlin, sondern als Listenkandidatin, übrigens nach der SPD, der CDU, der AfD, den Linken (letztere beide gleichauf). Göring-Eckardt hat 1988 das Studium abgebrochen, seit 1990 hat sie beruflich nur Parteiarbeit oder Arbeit für die Partei der Grünen kennengelernt. Bei einem einfachen Mehrheitswahlrecht würden weder sie noch Michael Kellner ein Bundestagsmandat erhalten. Auch Kellner lernte beruflich nichts anderes als die Partei der Grüne kennen, so anfangs als Büroleiter von Claudia Roth.

Bundestagspräsidentin Bärbel Bas meint, dass „viele Bürgerinnen und Bürger … sich in den parlamentarischen Debatten nicht mehr“ wiederfinden. Das jedoch ist keine Frage des Niveaus der Bürger, sondern des Niveaus der parlamentarischen Debatten, die inzwischen nicht selten dem Hohen Haus unwürdig sind. Dass dieses fehlende Niveau Bärbel Bas nicht auffällt, spricht Bände. So kommt sie tatsächlich auf die Behauptung, dass „die Bürgerinnen und Bürger … in so einem Rat“ lernen, „dass es keine einfachen Lösungen gibt“. Jeder Handwerker, jeder Facharbeiter, jede Ärztin, jede Volkswirtschaftsprofessorin und jeder Naturwissenschaftler – mit Ausnahme freilich der Klimakatastrophenpropagandistin Claudia Kemfert und des Klimaapokalyptikers Stefan Rahmstorf – weiß, dass es zuweilen keine einfachen Lösungen gibt, hin und wieder aber schon. Ob Bärbel Bas es nun zu fassen vermag oder auch nicht, in der Wirklichkeit gibt es sowohl einfache als auch komplizierte Lösungen, der Satz, dass es keine einfachen Lösungen gäbe, ist genauso falsch wie der Satz, dass nur einfache Lösungen existierten.

Aber die Idee, Bürgerräte einzuführen, als Hilfsschulen für die dummen Bürger, die in ihrer Lebenswirklichkeit nicht an die Erhabenheit von Bundestagsabgeordneten heranreichen, hat schon fast Ulbricht-Format. Von Studentinnen ohne Abschlüsse wie von der grünen Abgeordneten Jamila Schäfer soll also Hans-Werner Sinn lernen, „dass es keine einfachen Lösungen gibt“. Obwohl unvergessen ist, dass Schäfer, die Mitglied im Haushaltsausschuss des Bundestages ist, zu einfachen Lösungen neigt, denn ihrer Auffassung nach, kann der Staat so viel Schulden machen, wie er will. Da passt es gut, dass Jamila Schäfer auch Vorsitzende des parlamentarischen Gremiums ist, das über die Schuldenaufnahme der Bundesregierung wacht. Die BöckIn zur GärtnerIn gemacht?

So könnte man zu der Auffassung kommen, dass Funktionen im Deutschen Bundestag inzwischen Ausbildungsstellen sind, dass derjenige Abgeordnete die Stelle bekommt oder Minister wird, der am wenigsten davon versteht, Habeck für Wirtschaft, Schäfer für Haushalt. Was bedeutet also die Initiative von Bärbel Bas für die Demokratie? Erinnert sie am Ende an Bertolt Brechts Gedicht über den 17. Juni:

„Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?“

Alle Macht den Sowjets?
„Bürgerräte“: Von der parlamentarischen Demokratie zur grünen Räte-Republik
So gesehen stünde auch die Frage im Raum: Wenn die Bundestagspräsidentin meint, dass das Volk zu dumm für die Demokratie sei und Bürgerräte als Nachhilfestunden für die dummen Bürger eingerichtet werden müssten, in denen sie von „neutralen Experten“ wie Jamila Schäfer, Claudia Kemfert, Claudia Roth oder Katrin Göring-Eckardt, bis auf Kemfert alle ohne Abschluss, geschult werden müssten, lohnt sich da überhaupt der Aufwand, wäre es nicht einfacher Frau Bas „löste das Volk auf und wählte ein anderes“?

Schon der blitzgescheite römische Satiriker Juvenal fragte aus Erfahrung: „Wer aber bewacht die Bewacher?“ Mit anderen Worten, wer stellt die Räte und vor allem die „neutralen Experten und Moderatoren“, die ja nicht durch Los bestimmt werden, für die neue deutsche Räterepublik, die rotgrüne Diktatur zusammen? Wolfgang Leonhard erinnerte sich, als es in der Sowjetischen Besatzungszone darum ging, Gremien oder Räte zusammenzustellen, damit es demokratisch aussieht, aber die Kommunisten alles in der Hand haben, wie Ulbricht forderte, an den entsprechenden Kursus der Kominternschule in Baschkirien. In den Seminaren musste er üben, „Volksausschüsse ‚richtig‘ zusammenzusetzen“. Wer also setzt richtig zusammen?

Das Auswahl-Gremium besteht aus einem Verein namens Mehr Demokratie e.V., dessen Homepage so undurchsichtig ist, dass man dem Verein zurufen möchte: mehr Transparenz wagen; zum Beispiel werden im Finanzüberblick 2021 Großspender über 10.000 Euro nicht namentlich aufgeführt. Nicht besser steht es um das nexus Institut, zu dessen Beirat – welch Zufall – die Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie e.V. Claudine Nierth gehört. Witziger Weise heißt der nexus Beirat „wissenschaftlicher Beirat“, doch Claudine Nierth, über die Wikipedia berichtet, dass sie eine Künstlerin und Politaktivistin sei, die irgendwie Kunst studiert hat, dann nach „mehrjähriger Bühnentätigkeit (Eurythmie)“ den Schwerpunkt auf die „künstlerische Gestaltung sozialer Prozesse“ gelegt hat, dürfte mit Wissenschaft weder im engeren noch im ferneren Sinne in Zusammenhang gebracht werden.

Die Rückkehr der Räterepublik
Das Los entscheidet: Beteiligung der Bürger durch «Bürgerräte»
Die ifok GmbH, die auch an Bord ist, will, auch nicht verwunderlich, den „Wandel gestalten“. Oder am Wandel verdienen? Wichtiger ist, dass ifok zur US-amerikanischen Cadmus-Gruppe gehört, die von sich sagt: „Cadmus ist ein strategisches und technisches Beratungsunternehmen, das dazu verpflichtet ist, zur Lösung der schwierigsten Probleme der Welt beizutragen … Gemeinsam stärken wir Gesellschaft und Natur. Die mehr als 1.000 Berater von Cadmus betreuen Regierungs-, Handels- und Nichtregierungsorganisationen auf der ganzen Welt.“ Sie ist beispielsweise tätig im Nachhaltigkeits- und Energiemanagement – und da lässt sich in Deutschland besonders gut verdienen. So betreut im Auftrag des Bundeswirtschaftsministerium die ifok GmbH die Plattform Industrie 4.0.

Fehlen darf auch nicht das Institut für Partizipatives Gestalten GmbH. Und auch dieses Institut begleitet „Transformations- und Gestaltungsprozesse“. Und klänge das nicht schon rotgrün und woke genug, hat das Institut präzisiert: „Wir bringen Akteuren aus Zivilgesellschaft, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Mit wirksamen, lebendigen und kokreativen Methoden und der entsprechenden Fachexpertise erarbeiten wir zukunftsfähige, innovative Lösungen und konkrete Maßnahmen. Das ist unsere Kompetenz, unsere Leidenschaft und unser Beitrag.“ Das Institut will „toxische Strukturen adressieren“ und „ermächtigende Strukturen aufbauen“, das Geschwurbel kann allerdings schwerlich die totalitäre Neigung bemänteln, denn in einer Demokratie gibt es keine „ermächtigenden Strukturen“, sondern nur legitimierte oder sprachlich besser und präziser legitime Strukturen.

Bärbel Bas hat also dafür gesorgt, dass der Bürgerrat „richtig zusammengestellt“ wird, sie hat rot oder grün oder woke verortete NGOs und „Institute“ ausgewählt, zwischen denen es auch Querverbindungen gibt. Der Bundestag hat also drei Millionen Euro an Steuergeldern freigegeben, für einen Erziehungsrat und einen Akklamationsrat für woke Politik.

Mit dem Grundgesetz, mit der parlamentarischen und pluralistischen Demokratie haben Bürgerräte nichts zu tun, dafür umso mehr mit Gemeinwohldiktaturen. Als die Kommunisten die Diktatur 1917 in Russland und 1919 auch in Deutschland durchsetzen wollten, nannten sie die Parallelveranstaltungen zu den demokratisch gewählten Parlamenten, die zumindest in Russland das Parlament schließlich abschafften, Räte: Arbeiter- und Bauernräte. Vielleicht sollten die Sozialdemokraten den Begriff Demokratie aus ihren Namen streichen, er ist aus ihrer Zeit gefallen.

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