Tichys Einblick
Aserbaidschanische Angriffe auf Armenien

Die Völkerrechtlerin ignoriert den Völkerrechtsbruch

Aserbaidschan hat militärische und zivile Einrichtungen in Armenien angegriffen – darunter auch einen Kurort. Mehr als 100 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Außenministerin schweigt, das Auswärtige Amt stellt sich dumm. Presse-Anfragen werden ignoriert.

IMAGO / Political-Moments

Zwei Tage sind vergangen seit dem Angriff aserbaidschanischer Truppen auf armenisches Hoheitsgebiet. Mittlerweile halten die Invasoren auch Teile armenischen Territoriums besetzt. Das geht nicht nur aus Auslandsberichten und privaten Medien hervor, sondern auch aus einem Beitrag der Deutschen Welle. Die Bilanz gestern Abend: 105 Tote auf armenischer, 50 Tote auf aserbaidschanischer Seite. Aserbaidschanische Truppen setzen Drohnen in der Nähe des Kurorts Dschermuk ein.

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Doch aus dem Auswärtigen Amt kommt bisher vor allem eines: dröhnendes Schweigen. Während die Außenministerin sonst die erste an der Front ist, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht, meldete sich Annalena Baerbock auch am Mittwochabend nicht zu Wort.

Nun kann auch die Chefin deutscher Auslandsbeziehungen nicht jeden Konflikt auf dem Schirm haben. Umso pikanter wird die Sache jedoch, wenn sich dieselbe Außenministerin noch am Dienstag mit ihrem georgischen Amtskollegen Ilia Darchiashvili trifft. Hintergrund: ein Kulturabkommen. Aber ausgerechnet beim Treffen mit Georgien, immerhin Nachbarland Armeniens und Aserbaidschans und Schlüsselland im Südkaukasus, nutzt die Außenministerin nicht die Gunst der Stunde, wenigstens ein paar Worte über den Gewaltausbruch zu verlieren? In einer solchen Situation wird defensives Schweigen zum offensiven Verschweigen.

Die Außenministerin schweigt

Eine noch größere Unverschämtheit bietet dagegen das Auswärtige Amt selbst. TE hat bereits am Dienstagmorgen eine Presseanfrage an Baerbocks Behörde gestellt. Die Fragen waren:

„Welche Kenntnisse besitzt das Auswärtige Amt bezüglich des Ausbruchs? Aserbaidschan begründet seine Angriffe auf armenisches Territorium mit einem armenischen ‚Sabotageversuch‘. Nach jetzigem Kenntnisstand der Medien geht der Gewaltausbruch jedoch einzig auf die aserbaidschanischen Streitkräfte zurück (u. a. Angriff auf Goris, Sotk und Dschermuk). Die Kämpfe haben damit eine neue Qualität erreicht, weil sie nicht mehr Bergkarabach, sondern Armenien selbst zum Ziel haben. Gibt es eine Stellungnahme der Außenministerin dazu?

Welche Maßnahmen wird das Auswärtige Amt bzw. die Bundesregierung im Konflikt ergreifen, um die Situation aufzulösen?

Armenien bewertet den aserbaidschanischen Angriff als Bündnisfall und hat daher die CSTO um Hilfe angerufen. Wie bewertet das Auswärtige Amt diesen Vorgang und welche Konsequenzen könnte er aus Sicht des Auswärtigen Amtes bzw. der Bundesregierung haben?

Gibt es eine Neubewertung der Kooperation mit Aserbaidschan angesichts der aserbaidschanischen Aggression gegen Armenien? Seit Juli hatten die EU und ihre Mitgliedsstaaten ihre Energie-Kooperation mit Baku erheblich ausgebaut. Nur einen Tag vor dem Angriff vermeldete das Land, die Gas-Lieferungen nach Europa zu intensivieren.“

Das Auswärtige Amt ignoriert Presseanfragen

Das Auswärtige Amt hielt es nicht nötig zu antworten. Am Mittwochmorgen erinnerte TE das Auswärtige Amt an die unbeantwortete Anfrage. Damit verbunden eine Nachfrage angesichts des Treffens zwischen Baerbock und Darchiashvili. Der Transparenz wegen soll auch hier der Inhalt wiedergegeben werden:

„Zusätzlich würde ich angesichts des Treffens der Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrem georgischen Amtskollegen Ilia Darchiashvili wissen, ob der kürzlich erfolgte Gewaltausbruch Thema der Gespräche war, insbesondere vor dem Hintergrund der Stabilität der gesamten Kaukasus-Region und den Beziehungen Georgiens mit den Konfliktländern.“

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Stand Donnerstagmorgen hat sich das Auswärtige Amt zu keiner Antwort niedergelassen – zu einem Konflikt, der, sollte er eskalieren, auch die deutschen Sicherheitsinteressen in der Kaukasus- und Nahostregion bedroht. Auch Pressemitteilungen gab die Behörde nicht aus; einzig die Reisewarnung nach Armenien wurde aktualisiert. Nur im Zuge einer Bundespressekonferenz, in der die letzte Kabinettssitzung Thema war, konnten Journalisten vor Ort die Bundesregierung stellen. Doch angesichts der dort gegebenen Antworten könnte man sich denken: Es wäre klüger gewesen, hätten sie auch hier geschwiegen.

Der Pressesprecher Christian Wagner machte dabei alles andere als eine gute Figur. Angesprochen auf den Angriff sagte er:

„Die Bundesregierung ist zutiefst besorgt über Kampfhandlungen entlang der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, darunter auch Angriffe auf zivile Infrastruktur und Wohnorte. Wir fordern Aserbaidschan und Armenien auf, umgehend jegliche Handlungen einzustellen, die die Sicherheit zwischen beiden Ländern wie auch der Region gefährden könnten. Und wir fordern beide Länder auf, den Dialog fortzusetzen.“

Baerbocks Pressesprecher kann keinen Aggressor ausmachen

Was Wagner gezielt ausließ: Die angegriffenen Ziele waren durchweg armenisch. Statt den Angreifer zu verurteilen, kreiert das Auswärtige Amt eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe, die es so nicht gibt. Obwohl Aserbaidschan eine Diktatur mit gefälschten Wahlen und eingeschränkten Grundrechten – das Land steht an einer der hinteren Stellen der Pressefreiheit – ist, wagt es die Bundesregierung wegen neuer Gasabkommen mit der EU nicht, Ross und Reiter zu benennen.

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Die Scharade erreicht aber erst danach ihren Höhepunkt. Die Bundesregierung könne keinen Aggressor erkennen, weil dafür die Informationen nicht ausreichten. Medienberichten interessieren das Auswärtige Amt nicht, es gebe keine neutralen Beobachter vor Ort. Daher beharrt Wagner im Namen seines Hauses darauf, dass man die Situation vor Ort nicht unabhängig überprüfen könne. Den Vergleich mit der Ukraine will sich Wagner daher „nicht zu eigen machen“.

Eine geographisch, demographisch und ressourcenreiche Autokratie besetzt Teile des Nachbarlands, aber Berlin will sich nicht auf bloßes Hörensagen verlassen. Dass Frankreich den Angriff Aserbaidschans verurteilt und auch das US-amerikanische State Department „Beweise für Bombardierungen“ durch Aserbaidschan auf Armenien festgestellt hat, interessiert in der Bundesbehörde niemanden. Offenbar verlassen sich Paris und Washington auf zwielichtige Fake News.

Der Vergleich zur Ukraine muss unter allen Umständen vermieden werden

Ein weiterer Journalist versucht es anders: Was täte die Bundesregierung denn, sollte sich der aserbaidschanische Angriff bestätigen? Wagner: Es sei gute Tradition im Haus, nicht auf spekulative Fragen zu antworten. Dann geht die Frage in Richtung Regierungssprecher Steffen Hebestreit: Auch der wiegelt ab, man werde sich nicht äußern, bis man den Fall überprüft hätte, dann käme man zu einer Einschätzung. Auf die Nachfrage, wie lange diese Einschätzung dauere – es ist Tag 2 des Angriffs – reagiert Hebestreit sichtlich gereizt: „Das werden Sie merken, wenn wir sie haben.“ Die Nachfrage, ob der Rückzug russischer Truppen in der Ukraine Aserbaidschan ermuntert hätte, den Konflikt im Kaukasus zu suchen, hält Hebestreit für „wahnsinnig spekulativ“.

Der Eindruck bleibt: Unter allen Umständen muss das Bild vermieden werden, hier starte gerade ein Verbündeter einen Angriffskrieg gegen eine benachbarte Demokratie, die das Pech hat, dass ihre Schutzmacht sich gerade auf dem fernen Schlachtfeld verausgabt. Man will weder das Gasland Aserbaidschan noch den Nato-Partner Türkei irritieren. Dem Eindruck, hier laufe der Fall Ukraine unter vertauschten Umständen ab, muss entgegengetreten werden. Dieser Krieg ist eben vollkommen anders als der in der Ukraine – obwohl er ebenfalls an der Nato-Grenze passiert.

Wagner wirkt – wie seine Hauschefin – überfordert. Ähnlich wie 2020 nimmt man der Bundesregierung ab, von der Sache keine Ahnung zu haben. Die Unfähigkeit der EU war der maßgebliche Faktor, warum Moskau damals als Friedensmacht auftreten konnte. Neuerlich sieht man den intellektuellen, moralischen und strategischen Bankrott Deutschlands in der Außenpolitik. Dass man allerdings den Bundesbürger auch noch für dumm verkaufen will, ist an Dreistigkeit kaum zu überbieten. Offenbar denken Wagner und Hebestreit, dass niemand die Nachrichten oder Erklärungen ausländischer Regierungen wahrnimmt.

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Und Bundeskanzler Scholz? Anders als Baerbock nutzte er den Besuch des georgischen Ministerpräsidenten Irakli Garibaschwili, um wenigstens ein paar Worte zum Konflikt zu verlieren. Dieser „mache keinen Sinn“. Keine Verurteilung, kein Aufruf – ein lästiges Problem, das man gefälligst irgendwie klären sollte. Dass eine mögliche Vormachtstellung Aserbaidschans zu Not, Elend und Migration, ethnischen Säuberungen und einer Destabilisierung der Region – mögliches Wiederaufflammen der Kämpfe in Syrien wegen mangelnder russischer Kontrolle, mögliche Unruhen im aserbaidschanischen Nordwesten Irans mit separatistischen Bestrebungen – führt, ist für Berlin wohl ein spekulatives Szenario wie der Blackout. Spekulative Szenarien müssen nicht eintreten. Aber man muss auf sie vorbereitet sein, wenn immer mehr Argumente für diese sprechen.

Das ist gute Scholz-Tradition. Bloß im Vagen bleiben. Beim Auswärtigen Amt kommen dagegen ganz andere Traditionen in den Sinn. Es ist nicht das erste Mal, dass deutsche Diplomaten dabeistehen, während ein Massaker an Armeniern verübt wird. Das ist weniger überraschend, als man denkt. Schließlich erinnert der Ton, dass beide Seiten schuld seien, verdächtig an den Nahostkonflikt. Fehlt nur noch, dass man den Armeniern rät, die berühmt-berüchtigte „Gewaltspirale“ zu stoppen. Das orientalische Christentum ist seit über zwanzig Jahren wegen westlichen Versagens an den Rand der Auslöschung gekommen, aber Europa hat noch immer nicht gelernt.

Neu ist dagegen, dass man ein Land für ein anderes opfert, weil man sich zuvor in eine moralische und energiepolitische Sackgasse manövriert hat. Dass die „Völkerrechtlerin“ dabei den Völkerrechtsbruch so offen ignoriert, bestätigt den alten Vorwurf grüner Doppelmoral.

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