Tichys Einblick
Unterwegs auf Ortsterminen

Wie Abgeordnete eine eigene Welt erleben

Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat sich jüngst bei einem Ortstermin in Brasilien blamiert. Solche Termine, ob im Ausland oder im eigenen Wahlkreis, stellen die Pseudo-Realität dar, die Abgeordnete meinen zu erleben. Mit Folgen für ihre Politik.

Robert Habeck bei einer Wahlkampfveranstaltung der Bundestagsfraktion am 15. September 2021 auf dem Marienplatz in München

IMAGO / Action Pictures
Als Erfinder des politischen Ortstermins gilt Grigori Alexandrowitsch Potjomkin. Der russische General – früher meist „Potemkin“ geschrieben – begleitete die Zarin Katharina die Große durch „Neurussland“. Heute ist das weitgehend deckungsgleich mit der Ukraine. Aber darum geht es in diesem Text nicht. Sondern um den Trick, den der Höfling anwandte, um die Herrscherin ob des peinlich schlechten Zustands des Siedlungsgebietes zu täuschen. Er ließ die Kulissen eines Dorfes bauen, verpflichtete Statisten und ließ beides zum jeweils nächsten Stopp der Reise transportieren. Die berühmten Potemkinschen Dörfer waren geboren.

Katharina gewann aus dieser Reise den Eindruck, dass die Besiedlung Neurusslands gut vorangehe. Schließlich war es egal, wo sie hielt: Überall stieß sie auf prosperierende Dörfer mit wohl ernährten und gut gepflegten Einwohnern. Russland ging es gut. Die Zarin hatte sich selbst ein Bild davon gemacht.

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Es ist gut, wenn sich Mächtige ein Bild von der Realität machen wollen. Die Frage lautet halt nur: Ist dieses Bild echt oder potemkinsch? Von Kurt Beck hält sich in Mainz die Legende, dass er als Fraktionsvorsitzender der SPD in der Landtagskantine einen Abgeordneten zusammengestaucht habe. Der hatte sich lautstark beschwert, dass er sich am Vorabend ein lahmes Fußballspiel im Fernsehen angeschaut habe. Beck warf ihm gleich drei Vergehen vor: Er habe sich gelangweilt, er habe den Abend vorm Fernseher verbracht und am Schlimmsten von allem – er habe den Abend nicht genutzt, um einen Ortstermin wahrzunehmen.

Der Ortstermin gilt Politikern als Ausweis für Volksnähe. Wenn ein Hinterbänkler eine Chance bekommt, im Fernsehen zu reden, streut er gerne den Halbsatz ein: „Wie ich von vielen Besuchen in meinem Wahlkreis weiß …“ Der Halbsatz soll belegen, dass der Abgeordnete zu den Fleißigen gehört. Vor allem aber, dass er nicht abgehoben, sondern volksnah sei, und die Probleme aus der Ansicht vor Ort kenne. Nur sind es halt oft neurussische Dörfer, die er da studiert hat.

Nur etwa die Hälfte der Wochen tagt der Bundestag. In der restlichen Zeit kann und soll der Abgeordnete – wenn es nach Fraktionsvorsitzenden wie Kurt Beck geht – Termine in seinen Wahlkreisen wahrnehmen. Dafür hat er einen eigenen Mitarbeiterstab. Die Etats dafür sind in den vergangenen Jahren permanent gestiegen, sodass die Internetseite das Bundestags teilweise nicht mehr dabei nachkommt, diese darzustellen. Mittlerweile liegen die Etats bei knapp 20.000 Euro im Monat. Arbeitgeberbrutto. Die Sozialabgaben zahlt der Bundestag nochmal extra. Wie er diese 20.000 Euro aufteilt, bleibt dem Abgeordneten selbst überlassen. Er kann davon theoretisch 50 Kräfte zu 400 Euro einstellen oder vier gut bezahlte Mitarbeiter.

Nahezu jeder Abgeordnete richtet ein Wahlkreisbüro ein. Auch die, die keinen Wahlkreis gewonnen haben, sondern über eine Parteiliste in den Bundestag eingezogen sind. Ihnen steht ebenfalls der gleiche Etat für Mitarbeiter zur Verfügung wie direkt gewählten Abgeordneten. In der Regel beschäftigt jeder von ihnen zwischen einem und drei Mitarbeitern, die für sie die Arbeit vor Ort erledigen – also in Flensburg, Köln oder Passau bleiben, statt mit dem Abgeordneten nach Berlin zu gehen. Die Ortstermine sind dabei die vornehmste Aufgabe. Schließlich will der Abgeordnete im Interview sagen können, dass er von vielen Terminen zu Hause weiß, dass …

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Nur: Was weiß er wirklich? Wie viel Potjomkin steckt in seinem Wahlkreis-Mitarbeiter und dessen Ortsterminen? Denn eins vorweg: Der Mitarbeiter hat ein Interesse daran, dass diese zufriedenstellend verlaufen. Sie entscheiden über das Wohl und Wehe seiner Zukunft. Denn er sieht den Abgeordneten nur die Hälfte des Jahres. Und egal wie sehr der seine Bodenständigkeit betont und erzählt, was er alles auf seinen Terminen vor Ort erfahren habe – die Entscheidungen fallen in Berlin. Denn dort sitzen die Büroleiter und dort verharren die Gedanken des Abgeordneten.

Viele der Termine vor Ort betreffen die Partei: Mitgliederversammlungen, Vorstandssitzungen, Wahlkampfstände, Podiumsdiskussionen ohne fremde Zuschauer oder Parteitage. Hier kommt der Abgeordnete der Realität noch am nächsten. Die Partei kennt er. Da kann ihm der potemkinsche Mitarbeiter nix oder bestenfalls nur sehr wenig vormachen. Doch diese Termine sind wichtig, um wieder auf die Landesliste zu kommen. Aber um im Interview von Erfahrungen vor Ort berichten zu können, sind sie dennoch viel zu wenig.

Dafür muss es mehr nach Realität riechen. Werkshallen sind seit Bill Clintons „It’s the economy, stupid“ obligatorisch. Aber Soziales ist gut fürs Image. Gerne genommen wird die Tafel. Denn so ein Bild vom Abgeordneten, wie der Essen austeilt und dabei eine lustige Mütze und Handschuhe trägt, kommt in der Lokalzeitung immer gut rüber. Für die machen er und Potjomkin das ja alles. Und für die Erfahrungen, die sie dabei sammeln. Natürlich. Da die ja so wichtig sind und alle, wirklich alle, in den Entscheidungsprozess einfließen. Obdachlosen-Einrichtungen werden jüngst auch gerne genommen – aber da sind die Bilder trostloser.

Viele politische Karrieren bestehen nur noch aus drei Stationen: Kreißsaal, Hörsaal, Plenarsaal. Umso wichtiger ist es da, sich einen Hauch von Authenzität zu geben. Das erkennt der geneigte Leser schon in den Wikipedia-Biographien der Abgeordneten, die meist einer ihrer Mitarbeiter geschrieben hat. Da werden Praktika in den Lebenslauf genommen und Ferienjobs aufgeblasen, natürlich ohne Angabe über die Dauer, nur um Berufserfahrung vorzutäuschen. Den Rest holen sie bei Ortsterminen nach.

So pendelt der Abgeordnete dann und sieht Schreinereien, in denen kein einziger Holzspan auf dem Boden liegt. Küchen, in denen aus dem Mülleimer gegessen werden könnte. Betriebe, in denen schwer getragen wird, aber kein Mitarbeiter Rückenschmerzen hat. Kantinen, in denen keine schmutzigen Witze erzählt werden. Kurz: Die Welt ist so korrekt, wie alle in Berlin immer erzählen, berichtet der Abgeordnete, wenn er zurück in die Hauptstadt kommt. Er weiß es jetzt. Er war ja im Wahlkreis.

Im Sozialen geht es so ähnlich zu. Muss der Abgeordnete in der Aufnahmestelle für Flüchtlinge mal aufs Klo, wird er zum einzigen sauberen, mitunter eigens geputzten, geführt. An der Ausgabe verweigert keiner, mit der Mitarbeiterin zu sprechen, weil die eine Frau ist. Wundgelegene Patienten in Krankenhäusern und Pflegeheimen sind bloß eine Verschwörungstheorie. Das kann der Abgeordnete schwören. Schließlich ist das nie passiert, wenn er da war. Und er ist in seinem Wahlkreis viel unterwegs.

Der wichtigste Punkt beim Ortstermin ist der Besuch der Kantine. Wenn der Abgeordnete und sein Potjomkin Glück haben. Meist ist es nur ein Besprechungszimmer. Wer lange genug für einen Abgeordneten gearbeitet hat, kennt eine bunte Design-Vielfalt an deutschen Thermoskannen. In diesen Gesprächen bekommt der Abgeordnete zu hören, dass die Steuern zu hoch sind, die Auflagen zu viel, die Subventionen zu niedrig, aber alles eigentlich super ist, man nur mehr davon bräuchte.

Das Problem ist nur: Das erzählen Interessenvertreter immer. Alles andere wäre Quatsch. Aus ihrer Sicht. Sagen sie „Uns geht’s prima, wir haben keine Wünsche“, bleiben Erhöhungen aus oder werden sogar bestehende Töpfe gestrichen. „Uns geht’s schlecht“ zu sagen, kostet nichts und bewahrt den Interessenvertreter vor solchen Schicksalen. Also sagt er das immer, dass es ihm schlecht geht. Das Dumme ist nur: Wie soll es der Abgeordnete unterscheiden, wenn es dann tatsächlich stimmt?

So nimmt der Abgeordnete nach Berlin mit: dass alles prima sei, im Prinzip, es nur von allem mehr geben müsste. Kein Problem. Schließlich ist er eh für die nächste Steuererhöhung. Dann kann der Bundestag seinen Mitarbeiteretat gleich mit erhöhen. Schließlich braucht er Leute vor Ort – denn er ist ja in seinem Wahlkreis viel unterwegs.

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