Tichys Einblick
Vorwort zum Sonntag

Eine grundsätzliche Infragestellung des EU-Migrations-Kompromisses

Unter dem Deckmantel vermeintlicher „Solidarität“ sollen Länder Strafe zahlen, wenn sie Migrations-Kontingente nicht aufnehmen: Deutschland in der Rolle des Moralweltmeisters, der anderen Ländern mit seiner wirtschaftlichen Macht seine gutmenschliche Gesinnung oktroyieren will. EU-Zentralismus widerspricht der europäischen Vielfalt.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27). In dieser unauflöslichen Spannung zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe geschieht jede menschliche Hilfe. Wer etwa seine eigenen Eltern pflegt und dabei über seine Grenzen hinausgeht, kann so sehr Schaden nehmen, dass er am Ende seinen Eltern gar nicht mehr helfen kann. Nächstenliebe kann immer nur gelebt werden innerhalb individueller Entscheidungen und biographischer und situativer Grenzen. Ein undifferenzierter Zwang zur Nächstenliebe ist zerstörerisch.

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Auch in der Migrationsfrage kennt die Bibel diese beiden Pole der Liebe: Die Bibel betont die Nächstenliebe für Fremde (z.B. Mt 25,35; 5.Mose 10,18-19); und sie betont das Ernstnehmen der eigenen kulturellen Kraft (z.B. Mt 15,24; Esra 10; 5.Mose 28,43-44). Diese Spannung muss im Blick sein, gerade auch wenn die weltweite Not und die ausufernden Fluchtbewegungen eine Größe annehmen, die zwangsläufig zu systematischer Überforderung führt. Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Bevölkerung in Afrika und in muslimischen Teilen Asiens in nur 25-35 Jahren immer wieder verdoppelt; diese Quelle des Übels steht einer echten Bewältigung des Migrationsproblems im Weg. Die Herkunftsländer werden nicht umhinkommen, eigene kulturelle Lösungen ihrer Probleme finden zu müssen. Die Europäische Union als hilfloser Helfer könnte mit ihrem Helfersyndrom die Lage insofern erschweren, als dass sie in den Herkunftsländern den gesellschaftlichen Druck zu einer eigenen Lösung aus dem Kessel nimmt.

In dieser unauflöslichen Spannung von Nächstenliebe und Selbstliebe sollten alle 27 EU-Staaten eigene Wege finden dürfen, die ganz auf ihr Land, ihre wirtschaftlichen Fähigkeiten und ihre Kultur zugeschnitten sind. Darum ist es meines Erachtens ein kontraproduktiver Ansatz, der die Vielfalt und Individualität Europas zerstört, wenn man in der EU zentralistisch nach einer übergreifenden, für alle geltenden europäischen Lösung sucht.

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Unter dem Deckmantel einer vermeintlichen „Solidarität“ sollen jetzt Länder Strafe zahlen, wenn sie die ihnen zugeteilten Migrations-Kontingente nicht aufnehmen. Deutschland nimmt dabei die Rolle des Moralweltmeisters ein, der anderen Ländern mithilfe seiner wirtschaftlichen Macht seine gutmenschliche Gesinnung oktroyieren will. Solcher machtbasierte EU-Zentralismus widerspricht der europäischen Vielfalt und gefährdet die Zukunft der Europäischen Union.

Stattdessen kann die Vielfalt und Konkurrenz unterschiedlicher nationaler Wege dabei helfen, gute und weniger gute Strategien zu identifizieren; mal auswerten, ob über die Zeit gesehen die belgische oder ungarische Migrationspolitik hilfreicher ist; oder der dänische Weg, auf dem die dortigen Sozialdemokraten mit dänisch-evangelischer Kirchenunterstützung eine restriktivere Migrationspolitik verfolgen.

Im Sinne der Bibel, die in ihren 66 Büchern bei der Migrationsfrage keine fundamentalistisch alternativlose Antwort parat hat, plädiere ich für so viel individuelle nationale Lösungen wie möglich und so wenig EU-Zentralismus wie nötig. Genau das bedeutet „Subsidiarität“. Auf diesem bewährten Prinzip war die ehemals erfolgreiche EU ursprünglich aufgebaut.

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