„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lk 10,27). In dieser unauflöslichen Spannung zwischen Nächstenliebe und Selbstliebe geschieht jede menschliche Hilfe. Wer etwa seine eigenen Eltern pflegt und dabei über seine Grenzen hinausgeht, kann so sehr Schaden nehmen, dass er am Ende seinen Eltern gar nicht mehr helfen kann. Nächstenliebe kann immer nur gelebt werden innerhalb individueller Entscheidungen und biographischer und situativer Grenzen. Ein undifferenzierter Zwang zur Nächstenliebe ist zerstörerisch.
In dieser unauflöslichen Spannung von Nächstenliebe und Selbstliebe sollten alle 27 EU-Staaten eigene Wege finden dürfen, die ganz auf ihr Land, ihre wirtschaftlichen Fähigkeiten und ihre Kultur zugeschnitten sind. Darum ist es meines Erachtens ein kontraproduktiver Ansatz, der die Vielfalt und Individualität Europas zerstört, wenn man in der EU zentralistisch nach einer übergreifenden, für alle geltenden europäischen Lösung sucht.
Stattdessen kann die Vielfalt und Konkurrenz unterschiedlicher nationaler Wege dabei helfen, gute und weniger gute Strategien zu identifizieren; mal auswerten, ob über die Zeit gesehen die belgische oder ungarische Migrationspolitik hilfreicher ist; oder der dänische Weg, auf dem die dortigen Sozialdemokraten mit dänisch-evangelischer Kirchenunterstützung eine restriktivere Migrationspolitik verfolgen.
Im Sinne der Bibel, die in ihren 66 Büchern bei der Migrationsfrage keine fundamentalistisch alternativlose Antwort parat hat, plädiere ich für so viel individuelle nationale Lösungen wie möglich und so wenig EU-Zentralismus wie nötig. Genau das bedeutet „Subsidiarität“. Auf diesem bewährten Prinzip war die ehemals erfolgreiche EU ursprünglich aufgebaut.