Tichys Einblick
Teil 1: Über einen Trennungsplan von 2012

Wenn CDU und CSU in der Sommerpause getrennte Wege gehen (sollten)

Die AfD hätte aus Unionssicht verhindert werden können, wenn CDU und CSU seinerzeit die Trennung und jeweils bundesweite Ausdehnung koordiniert angegangen wären.

Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

In der vergangenen Woche hatte ich anhand des US-Western „High Noon“ mögliche Szenarien des Konflikts zwischen den beiden Unions-Schwesterparteien CDU und CSU aufgezeigt. Ein Szenario hatte ich bewusst ausgelassen. Ich tat dieses, weil es einer eigenen Betrachtung wert ist – und weil es mehr noch als das Seehofer-Maßnahmepaket die Republik verändern könnte.

High Noon oder Scheingefecht
Die Migrationskrise – wenn vielleicht doch alles ganz anders ist
Um dieses Szenario zu verstehen, muss ich zurückschauen auf das Jahr 2012. Damals – noch vor Gründung der AfD als damals noch liberal-konservative, den Euro ablehnende Partei – hatte ich eine Untersuchung veröffentlicht, die unter dem Titel „Für eine Neuordnung der Politik des Bürgertums“ mit der Unterzeile „Ein Plädoyer für eine bundesweite CSU“ stand. In dieser Untersuchung wurde anhand der Entwicklung der Partei-Zustimmungen seit der Gründung der Bundesrepublik dargelegt, dass bei den Bürgern, die sich an Wahlen beteiligten, ein kontinuierlicher Trend nach links festzustellen war, welcher – so er in dieser Weise sich fortsetzen sollte – langfristig dazu führen müsste, dass die Parteien links von der Union dauerhaft die Politik der Republik bestimmen würden.

Gleichzeitig jedoch wurde anhand der Entwicklung dargelegt, dass jene ständig zunehmende Wahlverweigerung, die mittlerweile bei rund einem Drittel der Wahlberechtigten lag, sich maßgeblich rechts von der Union manifestierte: Jene Bürger, die sich der Abstimmung über die Besetzung des Deutschen Bundestages verweigerten, waren – daran könnte anhand der Untersuchung kein Zweifel bestehen – in ihrer politischen Grundausrichtung nicht dem systemüberwindenden Spektrum der Kollektivisten, sondern den an konservativen Werten orientierten Deutschen zuzuordnen. Gleichzeitig wurde in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Gefahr bestünde, jene sich der Teilnahme am parlamentarischen Demokratieprozess verweigernden Bürger zu radikalisieren.

Überlegungen aus 2012

Die Ergebnisse formulierte ich seinerzeit unter anderem wie folgt:

Was zu tun ist

Um dieser nicht abweisbaren Gefahr einer Radikalisierung rechtskonservativer Kreise durch Ausgrenzung und Stigmatisierung begegnen zu können, wäre allen Parteien und Politikern zu empfehlen, das Vorhandensein rechtskonservativer, politischer Positionen in einer Bevölkerung von rund 80 Millionen Bürgern als Normalzustand zu begreifen und zu akzeptieren. Die Stigmatisierung und in Form antifaschistischer Beißreflexe festzustellende Instinktreaktion insbesondere linker politischer Kreise ist einer Gesellschaft, die siebzig Jahre nach ihrem letzten totalitären Irrweg ihre Demokratiefähigkeit unter Beweis gestellt hat, nicht mehr angemessen. …

Somit wird die Aufgabe, das rechtskonservative Bürgertum in den Demokratieprozess zu reintegrieren, zu einer Aufgabe der bürgerlichen Parteien, die dann auch gegen die zu erwartenden, erheblichen Widerstände seitens linker Parteien und an diesen orientierter Medien umzusetzen sein wird. …

Handlungsperspektiven der Union

Die Unionsparteien können – business as usual – weiterhin die faktisch durch die Wahlergebnisse widerlegte Behauptung aufstellen, sie seien eine „Partei der Mitte“, die by the way den rechten Rand der Bevölkerung abdeckt. Beides trifft jedoch nicht zu. Im Spektrum der Wahlbeteiligung ist die Union eine rechte Partei, die spätestens seit 1990 die „Mitte“ zu keinem Zeitpunkt mehr besetzen konnte. Weiterhin wurde in den vorangegangenen Darlegungen festgestellt, dass die Union den rechten Rand der Bevölkerung seit geraumer Zeit zunehmend weniger abdeckt. Vielmehr hat sie selbst dazu beigetragen, diese Bevölkerungsteile aus dem parlamentarischen Prozess zu verdrängen. Eine Partei der Mitte wäre die Union – wenn überhaupt – bestenfalls nur dann, wenn das rechtskonservative Wahlverweigererklientel in die Betrachtung einfließt.

Die zweite Lebenslüge der Union ist die Behauptung, sie wäre die einzig verbliebene „Volkspartei“. Wenn der Begriff der Volkspartei daraus abzuleiten ist, dass die Partei eine Mehrheit der Bevölkerung repräsentiert, dann hat die Union diesen Anspruch bereits in den sechziger Jahren verloren. Wenn der Begriff der Volkspartei darauf basiert, in den eigenen Parteistrukturen die politischen Inhalte eines über die Hälfte der Bevölkerung hinausgreifenden Auffassungsbildes zu repräsentieren, ist dieser durch die Union ebenfalls nicht mehr zu erheben. Weder repräsentiert sie in ihren Inhalten die grundlegenden Positionen der Sozialdemokratie oder der Grünen (auch wenn parteiinterne Kritiker dieses der Führung gern vorhalten), noch repräsentiert sie heute das rechtskonservative Klientel.

… Angesichts der fehlenden Klammer ist beides unter einem Dach bereits heute nicht mehr zu leisten – und wird es zunehmend weniger sein.

Die Union steht somit vor einer für sie existentiellen Entscheidung, bei der es nicht zuletzt um nichts anderes geht als darum, ob sie auf Basis einer im Bürgertum verankerten Bevölkerungsmehrheit künftig noch regierungsfähig bleiben wird. Weder der Merkel-Kurs einer bürgerlichen-liberalen Positionierung noch eine „Rückbesinnung“ auf die klassischen rechtskonservativen Werte wird in der Lage sein, dieses zu organisieren.

Plädoyer für eine bundesweite CSU

Die dargelegte Situation lässt nur einen einzigen, zielorientierten Schluss zu: Die Unionsschwestern müssen künftig getrennte Wege gehen. Sie müssen das von ihnen heute noch erreichte und das bei Trennung erreichbare Wählerpotential mit jeweils eigenen Schwerpunktsetzungen ansprechen. Hierbei kann es einer Unionspartei des aufgeklärten Bürgertums gelingen, weiter in die Mitte vorzudringen, wobei es unvermeidbar zu Verlusten bei ihrer klerikal-konservativen Anhängerschaft kommen wird.

Die andere Unionspartei wird ihren Schwerpunkt auf jenes konservativ-klerikale, als rechtskonservativ bezeichnete Potential legen müssen. Es wird ihr darüber gelingen, erhebliche Teile der Wahlverweigerer in den parlamentarischen Prozess zurückzuholen. Gleichzeitig jedoch wird sie ihre liberal-bürgerlichen Anteile an die Noch-Schwester abgeben.

Die zuvor dargelegten Diagramme und Überlegungen haben aufgezeigt, dass es mit zwei breit angelegten bürgerlichen Parteien, die sich nicht wie die FDP zwischen ihren links- und rechtsliberalen Flügeln zerreiben und sich nicht als Klientelpartei präsentieren, gelingen kann, eine über die 50 % der Bevölkerung greifende Abdeckung zu erreichen. Aus genau diesem Grunde wird ein vehementer Widerstand der Parteien aus dem linken Lager, die bei unveränderter Fortentwicklung der gegenwärtigen Situation eher kurz- als mittelfristig in der Lage sein werden, Regierungen unter Ausschluss der bürgerlichen Bevölkerung zu bilden, zu erwarten sein.
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„Unpolitische Überlegungen“

Seinerzeit diskutierte ich jenes Papier mit einem der intelligentesten Köpfe, den die CDU-Führung in Hamburg seinerzeit zu bieten hatte. Ein weniger intelligenter Kopf meinte allerdings, das Papier sei „unpolitisch“, denn am Ende zählten doch immer nur jene Bürger, die sich an Wahlen beteiligten – und diese hätten bislang fast immer noch genug Stimmen für die Union gebracht, um die führende Regierungsbeteiligung zu sichern. Wie auch immer: Das Papier ging – ohne jede Reaktion – an die Generalsekretäre beider Unionsparteien.

Die Geschichte seit jenem Jahr 2012, in dem das Papier entstanden war, ist jenen damaligen Überlegungen in der zu erwartenden, politischen Entwicklung weitgehend gefolgt. Wenn auch in etwas anderer als der damals aufgezeigten Weise.

Ausstieg, Umstieg, Einstieg - Szenarios
Endzeitstimmung oder Das langsame Sterben der Madame M.
Die CDU wurde durch ihre Vorsitzende selbst von einer Partei der bürgerlichen Mitte zu einer dem linken politischen Spektrum zuzurechnenden Partei gewandelt. Stand sie bis in die erste Dekade des 21. Jahrhunderts inhaltlich noch für traditionelle Werte einer an einer deutschen Nation in einem zusammenwachsenden Europa orientierten Politik mit Schwerpunkt auf der von Christdemokraten entwickelten sozialen Marktwirtschaft, so schob Merkel mit der zunehmenden Ausrichtung an „grünen“ Zielen erst in der Energie-, dann in der Migrations- und mittlerweile auch in der Industrie- und Finanzpolitik die CDU immer weiter nach links. Es war die Merkel-typische Antwort auf die Problematik, dass die politische Ausrichtung der Mehrheit der Bevölkerung sich „linken“ Thesen zunehmend mehr zuzuwenden schien. Die Logik Merkels und ihrer Führung lautete: Wenn der langfristige Trend nach mehr Sozialismus und Kollektivismus geht, dann muss die Union diesem Trend folgen – so wie Merkel immer einem scheinbaren oder tatsächlichen Trend unreflektiert gefolgt war. Gleichzeitig aber blieb damit das „rechte“, sich den Wahlen verweigernde Spektrum ohne parteipolitische Bindung. Denn – siehe oben – es hatte ja keine politische Bedeutung, solange es für die Besetzung der Parlamente irrelevant war.
Lucke stößt in die Lücke

Nun geschah das Unvermeidliche. Statt selbst in einer abgestimmten Aktion die Breite des bürgerlichen Klientel vom nationalkonservativen bis zur „linken“ Mitte abzudecken, etablierte sich neben der nach links verschobenen Union mit der Lucke-AfD eine Partei, die genau in jene Lücke stieß, die die Merkel-Union hinterlassen hatte. Hätte die AfD über charismatische Führer verfügt und sich nicht durch partielle Ausflüge in die Radikalität selbst im Weg gestanden, wäre sie in den Wahlen längst über die 20-Prozent-Marke gesprungen. Dennoch war diese Partei bislang erfolgreicher als seinerzeit die Grün-Alternativen, die ursprünglich als Antwort auf die analoge Verschiebung der SPD in die Mitte entstanden waren und deutlich länger brauchten als die AfD, um sich oberhalb der Einstelligkeit zu etablieren.

Die AfD wäre zu verhindern gewesen

Der Erfolg der AfD hätte aus Unionssicht verhindert werden können, wenn CDU und CSU seinerzeit die Trennung und jeweils bundesweite Ausdehnung koordiniert angegangen wären. Jedoch – auch das soll nicht unerwähnt bleiben – hätte dieses aus damaliger Sicht voraussichtlich bundesweit zu Verlusten der CDU geführt. Jene Bürger, die innerhalb Bayerns für die CDU hätten gewonnen werden können, würden die Verluste nicht ersetzen, die die Partei in den anderen Bundesländern an die CSU hätte abgeben müssen.

SPD: Ein Umfrage-Alarm nach dem anderen
Gleichzeitig schien der aufgezeigte Weg auch für die CSU problematisch. Einerseits wäre das Etablieren von CSU-Landesverbänden außerhalb Bayerns mit einem erheblichen Kraftakt verbunden gewesen, der noch dazu sich in Gefahr befunden hätte, jene Polit-Hazardeure anzuziehen, die bereits frühere, konservative Parteiversuche vernichteten und gegenwärtig in der AfD für ständige Verwerfungen sorgen. Unproblematisch wäre die bundesweite Ausdehnung nur möglich gewesen, wenn sich aus dem etablierten CDU-Bestand jene bürgerlich-konservativen Kräfte aus der CDU gelöst und die CSU geprägt hätten. Für die CDU konnte auch dieses nicht erstrebenswert erscheinen, weil es mit einem spürbaren Mitgliederverlust einhergegangen wäre. Also schienen CDU und CSU den Status Quo vorzuziehen und das Erstarken einer Partei rechts von der Union in Kauf zu nehmen – wobei die gängige Auffassung war, dass diese „Rechtspartei“ ebenso wie ihre Vorgänger an sich selbst scheitern würde. So gab Merkel noch nach den ersten Erfolgen der AfD die Order an die Unions-Landesfürsten aus, diese Partei zu ignorieren. Man dürfe, so erläuterte ein damaliger CDU-Landesvorsitzender Merkels Auffassung, die „Rechten“ nicht dadurch stärken, indem man ihre Themen aufgreife. Die Folge war unvermeidbar: Jene Bürger, deren Zukunftsängste ignoriert blieben, wandten sich der neuen Kraft zu. Die AfD hatte – und hat – insofern das Potential, sich mittelfristig oberhalb der 20-Prozent-Marke zu etablieren.

Teil 2 folgt.