Tichys Einblick
Die Lage im Ukraine-Krieg

Teilmobilmachung: Putin zündet die nächste Eskalationsstufe

Nach den jüngsten militärischen Erfolgen der ukrainischen Truppen gegen seine Invasionsarmee hat Russlands Machthaber Wladimir Putin jetzt die Teilmobilmachung ausgerufen. Er erhöht damit den Einsatz.

Russlands Machthaber Wladimir Putin bei seiner Fernsehansprache zur Teilmobilmachung, 21.09.2022

IMAGO / ZUMA Wire

Kreml-Machthaber Wladimir Putin hat eine unverzügliche Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte angeordnet, die noch am heutigen Mittwoch beginnen soll. In einer Fernseh-Rede sagte er: „Um unsere Heimat und unsere Integrität zu schützen, halte ich es für notwendig, eine Teilmobilisierung zu unterstützen.“ Er folge damit dem Vorschlag des Verteidigungsministeriums. Wie sein Verteidigungsminister Schoigu im Anschluss mitteilte, sollen schrittweise 300.000 Reservisten eingezogen werden. Die einzuziehenden früheren Soldaten würden vor dem Kampfeinsatz „eine zusätzliche militärische Vorbereitung“ durchlaufen.

Putin beschuldigte den Westen, keinen Frieden zwischen der Ukraine und Russland, sondern Russland zerstören zu wollen. Er unterstellte eine atomare Bedrohung durch die Nato und drohte, Russland könne sich dagegen wehren: „Das ist kein Bluff“, sagte er.

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Um den Schutz der Heimat dürfte es Putins Regime mit dieser neuen Eskalation weniger gehen als um die Stärkung seiner angeschlagenen Invasionstruppen in der Ukraine. Putin ging nicht auf die jüngsten Erfolge der ukrainischen Streitkräfte ein, die vor allem im Raum Charkiw große Gebiete zurückerobern konnten. Aber sein jetziger Schritt kann wohl nur als eine Reaktion darauf verstanden werden.

Welche Bedeutung diese ukrainischen Erfolge für den weiteren Verlauf und Ausgang des Krieges haben werden, bleibt noch unklar. Ein Basisproblem bei der Berichterstattung und Beurteilung von Vorgängen wie dem russischen Überfall auf die Ukraine ist die Verifizierung von Meldungen, die aus den Büros der Beteiligten stammen. So lassen sich vor allem militärische Erfolgsmeldungen im ersten Moment kaum verifizieren – und selbst dann, wenn wie jetzt geschehen eine Seite überaus erfolgreich in der Lage war, die andere großräumig aus zuvor besetzten Gebieten zu verdrängen, muss dieses für den Kampfverlauf keine tatsächliche Auswirkung haben. Immerhin steht auch dann nicht zuletzt die Frage im Raum, ob es den aktuellen Gewinnern gelingen wird, ihren Gewinn zu halten.

Im konkreten Fall der Befreiung der nördlichen Region bei der Metropole Charkiw bis zum Fluss Oskil gibt es am militärischen Erfolg der Ukraine keine Zweifel mehr. Doch wie weiter? Die Offensive scheint ins Stocken geraten zu sein – sollte es vielleicht auch, weil die ukrainische Militärführung eine Phase der Konsolidierung benötigt, um die zurückeroberten Gebiete, die immerhin über eine lange Landgrenze zur Russischen Föderation verfügen, zu sichern.

Nebelkerzen in der Offensive

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Dennoch ließ Präsident Wolodymyr Selenskyj wissen: Die Offensive geht weiter! Aus ukrainischen Kreisen war zu hören, dass es aktuell sowohl um die Befreiung der beiden Separatistenhochburgen Donezk und Luhansk sowie um die Rückeroberung der zu Beginn des Überfalls von Russland besetzten Städte Mariupol, Melitopol und Cherson gehe. Das entspräche nicht nur einem Generalangriff auf breiter Front, sondern ließe auch heftige Schlachten zwischen russischen und ukrainischen Einheiten erwarten, die nicht in Übereinklang mit dem bisherigen Vorgehen der Ukraine in schnellen und mobilen Einsatzgruppen stehen.

Tatsächlich allerdings hatte der militärische Erfolg bei Charkiw auch gezeigt, dass die Ukraine sehr erfolgreich mit Nebelkerzen hantiert. Damals hatte Selenskyj im Vorfeld immer wieder von der im Südwesten gelegenen Stadt Cherson und der Krim gesprochen und damit erfolgreich dafür gesorgt, dass Russland seine Offensive im Donbass zurückfuhr und die scheinbar ruhigen Frontabschnitte bei Charkiw vernachlässigte. Als dann dort die Offensive ihren Schwerpunkt nahm, trafen die Ukrainer auf völlig unvorbereitete Russen, die ihr Heil in der unkoordinierten Flucht suchten, wobei sie Unmengen an Material bis hin zu Panzern zurückließen – was die Ukrainer in besonderem Maße freut, weil sie diese selbst dann, wenn sie nicht mehr fahrtüchtig sein sollten, als Ersatzteillager für eigenes Material verwenden können.

Offensiven und Gegenoffensiven

Putin reagierte in einem ersten Schritt mit der gezielten Zerstörung ziviler Infrastruktur in der Ukraine – flankiert von Mitteilungen des Kreml, die offen zugaben, dass dieser Beschuss gleichsam eine Bestrafung dafür sei, dass die Ukraine es gewagt hätte, jene erfolgreiche Offensive durchzuführen. Jenseits dieser völkerrechtswidrigen Terroraktionen warteten die Beobachter jedoch auf eine bodengestützte Antwort; auf einen Gegenangriff der neusortierten russischen Einheiten, um die Scharte, die im öffentlichen Ansehen entstanden ist, auszuwetzen. Doch bislang vergeblich. Zwar soll es die üblichen Versuche einzelner Vorstöße auf ukrainisches Territorium gegeben haben, doch Erfolge konnte Russland nicht vermelden und von einer koordinierten Gegenoffensive war überhaupt nichts zu spüren.

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Die Ukraine hingegen unterstrich: Wir sind weiter auf dem Vormarsch. Selenskyj versprach ein schnelles Vorgehen, um, wie er es formulierte, „sicherzustellen, dass die Bedürfnisse der Ukraine auf allen Ebenen – Verteidigung, Finanzen, Wirtschaft, Diplomatie – erfüllt werden“. Serhij Hajdaj, Gouverneur von Luhansk, betonte, dass der Kampf um die Rückeroberung der Separatistenhochburg Luhansk „vorbereitet werde“ und es bereits gelungen sei, das Dorf Bilohoriwka zu befreien. Doch ihm ist auch bewusst, dass dieser Teil der Befreiung des besetzten Landes weniger zügig erfolgen wird als die Rückeroberung der Territorien bei Charkiw: „Der Feind bereitet seine Verteidigung vor. Wir werden also nicht einfach einmarschieren.“
Russland bereits in der Defensive?

Bislang sah es nicht danach aus, dass eine gezielte, russische Gegenattacke erwartet wird. Das könnte sich zumindest mittelfristig nach der russischen Teilmobilmachung aber ändern.

Vom Verhandlungstisch scheint Putin jedenfalls trotz der jüngsten Niederlage nichts zu halten. Und Kiew hält bis auf Weiteres an seiner Forderung des bedingungslosen Rückzugs aller russischen Einheiten und Kollaborateure aus allen völkerrechtlich zur Ukraine gehörenden Gebieten einschließlich der Krim fest.

Pokern mit leeren Händen?

Wie also ist die tatsächliche Situation? Verhandlungen machen aus ukrainischer Sicht gegenwärtig tatsächlich keinen Sinn. Russland würde die Krim und zumindest die Provinzen Luhansk und Donezk behalten wollen. Zudem sieht es sich zur Sicherung der Krim angewiesen auf den Landkorridor im Süden der Ukraine mit Mariupol, Melitopol und im optimalen Falle auch der Dnjepr-Stadt Cherson. Auch wird Putin nicht bereit sein können, für das Ende des Konfliktes jene gegenwärtig bereits auf über 700 Milliarden Dollar geschätzten Regressforderungen zu erfüllen. Stattdessen und vielleicht auch deshalb läuft in Moskau immer noch die Platte, dass man bei Verhandlungen mit der Ukraine nur die bedingungslose Kapitulation erwarte.

Putin hat jetzt den Einsatz erhöht und versucht offenbar damit die Situation auf dem Schlachtfeld wieder zugunsten Russlands zu ändern.

Vor dem Einsatz taktischer Atomwaffen hat US-Präsident Joe Biden dieser Tage eindringlich gewarnt. Das, so Biden, werde eine Reaktion hervorrufen, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg noch nicht gegeben habe. Das klingt gefährlich und riskant für alle Seiten, gerade weil Biden es nicht näher konkretisiert.

Und wie sieht es auf ukrainischer Seite aus? Haben deren Soldaten tatsächlich die Kraft, tief in die 2014/15 von Russland geschaffenen Separatistenrepubliken vorzustoßen? Auch wenn diese Territorien völkerrechtlich immer noch Teile der Ukraine sind, so hatte Russland dort nun sechs Jahre Zeit, effektive Abwehrvorbereitungen zu schaffen, an denen sich die Ukrainer die Zähne ausbeißen könnten, wenn an diesen Stellungen gut geschulte und motivierte Soldaten stehen.

Wie steht es um die Moral?

Damit nun sind wir an einem Punkt, der möglicherweise über das Ergebnis der Kämpfe entscheiden wird: die Moral der Truppe. Unstrittig ist, dass die Ukrainer hochmotiviert in ihren Kampf um Freiheit und Selbstbestimmung gehen. Dass dieses auf russischer Seite zumindest partiell anders aussieht, hat der schnelle Vorstoß bei Charkiw bewiesen.

Wie aber sieht es in der Fläche aus? Stehen auf russischer Seite hochmotivierte, gut geschulte Krieger, oder demotivierte Jungs, die sich auf verlorenem Posten finden und langsam begreifen, dass die ihnen unterbreiteten Lockangebote nur der Preis dafür waren, dass sie ihr junges Leben auf ukrainischem Acker lassen sollen? Und wie wird die Motivation der nun eingezogenen Reservisten sein?

Es ist unmöglich, in die Gemütslage dieser jungen Russen zu schauen – dafür aber offenbaren andere die ihre. Und aus diesen Offenbarungen lässt sich einiges ablesen, was weder in den offiziellen Verlautbarungen noch in den Berichten zu finden ist. Konkret geht es um die Kollaborateure, die als Parteigänger Russlands davon ausgegangen sind, sich mit ihrer Positionierung an der Seite des Aggressors eine gute, persönliche Zukunft gesichert zu haben.

Die Situation der Kollaborateure

Um deren Gemütslage zu verstehen, muss man als erstes wissen, dass in den vergangenen Wochen in verschiedenen besetzten Städten gezielt zumeist tödliche Anschläge auf entsprechende Kollaborateure erfolgt sind. Diese erfolgten teils über Autobomben, was auf Partisanentätigkeit hinweist; über nicht näher definierbare Explosionen, was sowohl Partisanentätigkeit aber auch erfolgreichen Raketenbeschuss durch die Ukraine belegen könnte; durch gezielte Raketenangriffe wie in der Stadt Donezk, wobei hier die Russen die Ukraine verantwortlich macht, während die Ukraine Moskau unterstellt, diese Aktionen selbst zu inszenieren, um im Land die Stimmung gegen die Ukraine anzuheizen.

Unabhängig davon gelingt es der Ukraine, Depots und Munitionslager der Russen im besetzten Gebiet auszuschalten und logistische Schlüsselpositionen unter Feuer zu nehmen – bis dahin, dass Russland bereits mehrmals bei der Brücke von Kertsch, der einzigen Verbindung der Krim mit Russland, mit erheblichem Einsatz von Luftabwehrwaffen auf angebliche ukrainische Angriffe reagiert hat.

Schauen wir nun gezielt auf die Kollaborateure, so macht sich unter diesen offensichtlich eine gewisse Panik breit. Deutlich wird das an der Positionierung zu den geplanten „Abstimmungen“, mit denen die sogenannten Volksrepubliken und der besetzte Süden ihren Anschluss an die Russische Föderation vorbereiten sollten.

Die Referenden als Indiz der Gefühlslage

Ursprünglich war diese Farce – denn das kann es angesichts der gezielten Bevölkerungsverschiebungen und der russischen Gewaltherrschaft zum gegenwärtigen Zeitpunkt selbst dann nur sein, wenn die Stimmauszählung tatsächlich am Ende nicht gefaked wäre – für den Herbst vorgesehen. Als die Ukraine bei der angekündigten Südoffensive minimale Erfolge verzeichnete, wurden die Vorbereitungen erst einmal ausgesetzt. Zu diesem Zeitpunkt gingen die Kollaborateure offenbar davon aus, alle Zeit der Welt zu haben und deshalb darauf vertrauen zu können, dass die Russen die ukrainischen Attacken nicht nur abwehren, sondern dabei auch das zu annektierende Territorium erweitern würden.

Diese Situation hat sich fast über Nacht schlagartig geändert. Die sogenannten „Bürgerkammern“ in den beiden Pseudo-Republiken haben nun gleichlautende Beschlüsse gefasst, wonach diese „Referenden“ schnellstmöglich stattfinden sollen. Selbst der Statthalter Russlands in Cherson prescht nun an die Annexionsfront mit der Forderung nach einem schnellen Referendum, weil angeblich „die Bevölkerung“ es nicht erwarten könne, endlich zur Russischen Föderation zu gehören. Am frühen Nachmittag des Dienstags meldete er einen entsprechenden Beschluss – und veröffentlichte Verordnungen, die die Aufstellung örtlicher „Heimatschutzbrigaden“ vorsehen. Das wiederum könnte auf eine Zwangsrekrutierung von Ukrainern hindeuten und dürfte den Weg in den Partisanenkampf eher forcieren. Wir erinnern uns: Cherson ist jene Stadt, in der die Bürger noch lange nach dem Einfall der Russen regelmäßig mit den Fahnen der Ukraine gegen die russische Besetzung protestiert hatten, bis die Besatzer diesem Tun mit Waffengewalt ein Ende setzten.

Bemerkenswert ist auch, dass Russlands Ersatz-Putin Medwedew umgehend zumindest in Sachen Donbass auf diesen Zug sprang und ebenfalls schnellstmögliche Referenden fordert. All das spricht dafür, dass sich nicht nur in der besetzten Ukraine, sondern selbst in Moskau eine gewisse Panik breit macht darüber, dass die großartig angekündigte „militärische Spezialoperation“ nicht mehr zu retten ist. Denn offensichtlich befürchten die russischen Handlanger von Cherson bis zum Donbass, dass es in den ihnen unterstellten Regionen ähnlich zugehen könnte wie in den befreiten Gebieten bei Charkiw. Dass die dort stationierten russischen Einheiten lieber das Hasenpanier ergreifen, als sich für die Machtgelüste irgendwelcher ukrainischen Kollaborateure das Leben nehmen zu lassen.

Die Hoffnung auf den totalen Krieg

Die schnellstmögliche Annexion durch Russland, so das offensichtliche Kalkül der Paniker, könnte die Ukraine davon abhalten, sie anzugreifen, weil nach russischer Logik dann das russische Kernland angegriffen würde.

Allerdings dürfte dieses Kalkül deshalb nicht aufgehen, weil die Ukraine sich völkerrechtlich auch dann in der besseren Position sieht, wenn die besetzten Gebiete nach russischer Auffassung zur Föderation gehören sollten. Jeder Quadratmeter Boden, der gemäß Grenzziehung von 2013 ukrainisch war, ist dieses auch heute noch – unabhängig davon, ob dort aktuell russische Truppen stationiert sind. Die Ukraine wird, sollte sie militärisch weiterhin erfolgreich sein, weder an der Grenze zur Krim noch an den Grenzen zu den Separatistenprovinzen Halt machen.

Putins Risiken der Generalmobilmachung

Eine Generalmobilmachung, also die Einberufung aller Reservisten, wäre für Putin ein großes Risiko aus drei Gründen. Die jetzige Teilmobilmachung ist ein Kompromiss.

  • Zum einen hätte er damit zugegeben, dass seine „Spezialoperation“ von Anbeginn an nichts anderes als ein militärischer Überfall gewesen ist – oder eine militärische Strafoperation, wie sie vor hundert Jahren noch gelegentlich von Kolonialmächten gegen unbotsame Provinzen und Stämme befohlen wurden.
  • Zum zweiten hätte er damit das Scheitern seiner „Spezialoperation“ eingestehen müssen, weil nur ein solches Scheitern die Erweiterung des Überfalls zu einem regulären Krieg hätte begründen können.
  • Zum dritten wäre damit schlagartig ins Bewusstsein aller Russen gedrungen, dass es sich bei der „Spezialoperation“ nicht um einen chirurgischen Schnitt gegen gefühlte oder gedachte Faschisten handelt, sondern tatsächlich um eine militärische Aktion gegen das Nachbarland Ukraine. Einmal abgesehen davon, dass vor allem junge Russen nun unerwartet und unmittelbar davon bedroht wären, über die Generalmobilmachung zu Putins Kanonenfutter zu werden – es ist auch nicht auszuschließen, dass in einem solchen Falle tatsächlich eine echte Zivilgesellschaft (und nicht eine künstlich konstruierte der staatsnahen Lobbyvereine) den Widerstand geprobt hätte.

So werden in Russland trotz der damit verbundenen Konsequenzen immer wieder Stimmen laut, die die Zivilcourage haben, Putins Überfall öffentlich zu kritisieren. Jüngster Fall: Die Popsängerin Alla Pugatschowa, die dafür in den staatlich gelenkten Medien bereits als „Auslandsagentin“ diffamiert wird und auf deren Kritik ausgerechnet der Leiter der „Menschenrechtskommission“ des russischen Präsidenten, Waleri Fadejew, mit folgendem Satz reagierte: „Diese Dichterlinge, Harlekine und Gaukler brauchen bloß eine Möglichkeit zu singen und zu tanzen, zu feixen und vulgär klugzuscheißen!“

Noch scheint ein solcher Holzhammer in Russland Wirkung zu entfalten – doch was geschieht, wenn die Einberufung plötzlich zum Thema am heimatlichen Küchentisch wird, ist nicht kalkulierbar.

Die Stimmung der Soldaten

Wenn in einer solchen Situation die Panik der Kollaborateure zum Greifen nahe ist, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie es mit den Soldaten an der Front aussieht. Und da hat die Ukraine zwischenzeitlich zumindest in Teilen Situationen geschaffen, die eine vergleichbare Panik nachvollziehbar machten.

Vor allem jene Invasoren, die im Süden westlich des Dnjepr stationiert sind, haben ein Problem. Die Ukraine hat die Brücken über den Fluss zerstört – auch die widerholten Versuche der Russen, dort provisorische Pontonbrücken zu errichten, sind am Montag erneut gescheitert. Kurzum: Die Westeinheiten stehen ohne gesicherte Versorgung da und haben zudem nicht einmal die Möglichkeit eines geordneten Rückzugs. Vorstellbar also, dass die Offensiv-Ankündigungen in Luhansk nichts anderes sind als ein neues Ablenkungsmanöver, um Russland zu veranlassen, den Süden auszudünnen um den Norden zu stärken.

Denkbar aber auch, dass die Ukraine scheinbar in Luhansk und bei Cherson gleichzeitig mit Attacken beginnt, um die Mitte bei Melitopol zu entblößen. Dort hat die Ukraine in jüngerer Vergangenheit erfolgreich Munitionsdepots, Nachschublager und Transportlogistik unter Feuer genommen – und es ist die Wespentaille im von Russland besetzten Gebiet.

Angenommen, die Ukraine blufft in Luhansk und Cherson und es gelingt ihr ein Schnitt über Melitopol bis an das Asowsche Meer – dann wären mit einem Mal alle westlich davon stationierten Einheiten Russlands nur noch über die Brücke von Kertsch zu versorgen. Beginnt dann bei Cherson eine weitere Offensive, die ähnlich Charkiw die ohnehin schon demotivierten Einheiten zur Flucht zwingt, dann entsteht im gesamten besetzten Westen ein nicht mehr zu kontrollierendes Chaos, weil alle russischen Einheiten ihr Heil in der Flucht auf die Krim und von dort über Kertsch nach Russland suchen könnten.

Kommt es zu einem solchen Szenario, dann bricht die russische Offensive in sich zusammen – und gelingt es der Ukraine zudem noch, die Brücke zu zerstören, dann hat sie schlagartig ein Faustpfand, welches Moskau erhebliche Zugeständnisse abzwingen kann.

Panische Handlungen offenbaren die Situation

Wohl bemerkt – das sind nur Gedankenspiele, die jedoch durch die bisherigen Erfahrungen bei Charkiw, dem militärischen Vorgehen der Ukraine bei Cherson und der bisher dokumentierten Unfähigkeit der Russen zu einer koordinierten Gegenaktion auf dem Schlagfeld gestützt werden.

Unbestreitbar allerdings bleibt, dass die Ukraine in Sachen Charkiw mit Russland sehr erfolgreich Katz und Maus gespielt hat, weshalb in Moskau zunehmend hörbarer über die Ablösung des Militärministers Sergej Shoigu spekuliert wird. Nicht nur in der Duma regt sich Widerstand gegen den Halb-Tuwinen. Ob allerdings ein Nachfolger die offensichtlich maroden Militärstrukturen wird reparieren und die demotivierten Soldaten neu wird motivieren können, darf angezweifelt werden.

Wie schlecht es um die bereits bestellt sein muss, macht ein am 20. September verabschiedetes Gesetz der russischen Duma deutlich, das die Verweigerung an der Teilnahme von Kampfhandlungen, Desertation und die Kapitulation als Kriegsgefangener deutlich kriminalisiert und die Bestrafung verschärft.

Es sind eben nicht immer die propagandistisch platzierten Behauptungen, die Licht auf die versteckte Szene werfen – es sind die panischen Handlungen, die die tatsächliche Situation offenbaren.

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