Tichys Einblick
Formelkompromiss des Kanzlers

„Machtwort“ zum Ampeltheater – Scholz und seine Koalitionsrettung

Angesichts des Medienframings über das vermeintliche "Machtwort" des Kanzlers zur Kernkraft ist es notwendig, einige Tatsachen und Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen. Tatsächlich hat Scholz eher seine Schwäche als seine Macht gezeigt.

IMAGO / Frank Ossenbrink

Vom „Machtwort“ sprechen viele Medien und meinen einen Formelkompromiss des Bundeskanzlers. Gar von einer Kröte, die „die Grünen“ schlucken müssten, ist in den grün durchwirkten Medienstuben die Rede, während die FDP als Gewinner dargestellt wird. Es wird wieder heftig geframt, um eine Lächerlichkeit zu finalisieren und die Rotliniengemeinschaft der „grünen“ Partei zum verbal-formalen Widerstand aufzufordern. Da scheint es angesagt, einige Tatsachen und Wahrscheinlichkeiten aufzuzeigen, die den Vorgang ins richtige Licht rücken.

1) Der sozialdemokratische Bundeskanzler hat von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch gemacht. Das geschieht in der floskelüberladenen Konsensdemokratie viel zu selten und bedeutet: Wem unter den Ministern diese Weisung nicht gefällt, der möge bitte sein Amt zur Verfügung stellen und die Koalition verlassen.

2) Richtig ist aber auch: Wer als Kanzler in einer existenziellen Frage wie der Sicherheit der Energieversorgung von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen muss, der offenbart damit seine tatsächliche Schwäche. Längst hätte es einem Bundeskanzler mit seiner persönlichen und amtlichen Autorität möglich gewesen sein müssen, seine Position ohne schriftliche Anweisung einvernehmlich zur Regierungspolitik zu machen. Roland Tichy stellt zutreffend fest: Olaf Scholz ist der schwächste Kanzler, den die Republik jemals hatte. Denn wo nichts ist, da kann man auch nichts herbeizaubern.

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3) Ob es den Akteuren bereits bewusst ist, darf angezweifelt werden – doch mit seinem Beschluss hat der Bundeskanzler dem Energieminister faktisch dessen Kompetenz entzogen. Energiepolitik ist ab sofort Kanzlerangelegenheit. Das ist im Grundsatz auch richtig, da es sich dabei um eine existenzielle Frage der Republik handelt, die in den Händen eines in der Sache desorientierten und durch demokratisch nicht legitimierte Parteitagsbeschlüsse gefesselten Ministers eine Katastrophe biblischen Ausmaßes heraufbeschwören könnte. Gespannt sein allerdings dürfen wir, ob die Kompetenzverlagerung beibehalten oder wieder an den grünen Wurschtelminister zurückgereicht wird.

4) Der Scholz-Beschluss ist mehr als nur eine Mogelpackung. Die dreieinhalb Monate, die die drei KKW nun länger laufen sollen, sind energiepolitisch ein Witz. Es ist ein Einknicken vor der Rotlinienpolitik einer grünen Bundesdelegiertenkonferenz, deren durchgezogene Linie nun scheinbar ein wenig mehr ins rosa tendiert und die dennoch den Versorgungs-GAU der Totalabschaltung fest im Blick hat.

5) Dieses Einknicken und die Verlagerung der Energiekompetenz ins Kanzleramt bedeutet: Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Kommt es im Winter zur erwartbaren Krise – und sei es nur, weil die EU die Ukraine angesichts des russischen Terrors gegen die Zivilbevölkerung mit Strom versorgen muss oder die Gasverstromung nicht mehr gewährleistet werden kann, bleibt das nächste „Machtwort“ unverzichtbar. Spätestens dann wird sich die Frage stellen, ob „Die Grünen“ ihr Ausstiegsmantra zum finalen Dogma erklären und aus der Koalition aussteigen, weil Scholz nicht umhinkommen wird, auch aus Gründen der EU-Solidarität die drei KKW noch länger am Netz zu lassen.

6) Damit stellt sich die Frage nach dem Austausch der verbrauchten Brennstäbe. Den Betreibern wäre zu empfehlen, solche bereits zu ordern, um sie zum Stichtag vorrätig zu haben. Sollte wider Erwarten doch eine unsinnige Abschaltung erfolgen, können die neuen Brennstäbe immer noch an Frankreich oder andere KKW-Nutzer weitergereicht werden. Es sollte niemanden wundern, wenn nicht bereits entsprechende Geheimabsprachen zwischen Scholz und Betreibern getroffen worden sind – schließlich ist Scholz Meister in der Politik des offiziell Nicht-Gesagten.

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7) Apropos Geheimabsprachen: Glaubt jemand allen Ernstes, dass die dem „Machtwort“ zugrundeliegende Erkenntnis dem Olaf Scholz erst nach dem grünen Parteitag gekommen ist? Politik mag zwar so tun, als liebe sie gelegentlich den Überraschungseffekt – naheliegender allerdings ist, dass dieser Einsatz der Richtlinienkompetenz als Rettungsanker der Koalition bereits in den Gesprächen zwischen Scholz, Habeck und Lindner festgelegt worden war und lange vor dem grünen Ideologentreffen feststand. Warum? Sie rettet die RG2-Koalition und verhilft den beiden ineinander verhakten Ministern zur Gesichtswahrung.

8) Die Annahme, dass es eine solche Absprache gegeben hat, manifestiert sich nicht zuletzt über die unmittelbare Reaktion der beiden vorübergehend an die Kette Gelegten. Robert Habeck stellt umgehend fest: „Ich kann mit diesem Weg gut leben!“ – Er gehe davon aus, dass die notwendige Gesetzesänderung nicht an der Fraktion seiner Gesinnungsgenossen scheitern werde. Und Christian Lindner verkündet: „Die weitere Nutzung des Kernkraftwerks Emsland ist ein wichtiger Beitrag für Netzstabilität, Stromkosten und Klimaschutz.“ Des Scholzens Beschluss finde die volle Unterstützung der FDP.

9) Die Reaktionen der beiden Minister Habeck und Lindner lässt tief blicken auf den Charakter oder Nichtcharakter dieser beiden Herren. Noch am Wochenende stellte sich Habeck vor seine Delegierten und verkündete die Ultima Ratio des kerntechnologisch unmöglichen Vorhaltebetriebs zweier der drei Kraftwerke. Er sollte zu diesem Zeitpunkt längst gewusst haben, dass Scholz am Montag die Laufzeitverlängerung der drei Werke bis Mitte April verkündet. Habeck hat entweder sein Parteivolk an der Nase herumgeführt – oder seine Untauglichkeit als Vizekanzler und Superminister für Wirtschaft und Energie bewiesen. Oder auch beides.

Lindner gibt von allen drei Beteiligten die jämmerlichste Figur. Seine FDP war angetreten, angesichts des Energiedesasters die drei Kraftwerke mindestens bis 2024 laufen zu lassen und im optimalen Falle noch weitere, bereits abgeschaltete, ans Netz zu nehmen. Die Laufzeitverlängerung von dreieinhalb Monaten ist angesichts dieser Ankündigungen und angesichts der akuten energiepolitischen Risiken beispielsweise eines Anschlags auf die Nordsee-Pipelines ein schlechter Witz. Linder aber meint: „Es ist im vitalen Interesse unseres Landes und seiner Wirtschaft, dass wir in diesem Winter alle Kapazitäten der Energieerzeugung erhalten.“ Salami-Taktik oder Rückgratlosigkeit des Einknickens? Wenn dann noch aus den Reihen der FDP-Fraktion weiteres Lob für Scholz kommt, bleibt leider nur die Feststellung: Diese Partei hat fertig!

10) Apropos Reaktionen. Die Grünen agieren, je nach parteiinternem Dienstgrad, mit unterschiedlicher diplomatischer Deutlichkeit. Der heimliche Parteivorsitzende Jürgen Trittin prophezeit: „Die Ampel tritt in einen Stresstest!“ – Ist er bereits darüber informiert, dass die abschließende Entscheidung über den Weiterbetrieb mit dem faulen Formelkompromiss aus dem Kanzleramt nur aufgeschoben ist? Er meint: „Mag sein, dass der Brief von der Geschäftsordnung der Bundesregierung gedeckt ist, vom Grundgesetz ist er es nicht.“ Nun ist bekannt, dass der Maoist es mit dem Grundgesetz nicht so hat, denn vom Grundgesetz gedeckt ist Scholzens Brief durchaus. Ebenso, wie es vom Grundgesetz gedeckt wäre, wenn „Die Grünen“ und andere bei der Abstimmung über die nun notwendige Gesetzesvorlage dem Bundeskanzler nicht folgten und dieser möglicherweise in eine Vertrauensfrage gezwungen würde. Aber offenbar hat der Rätevertreter Trittin längst verinnerlicht, dass die Abgeordneten des Bundestags nur noch willenlose Marionetten sind, die hirnlos jeder Exekutivorder folgen. Das entspricht zwar dann tatsächlich nicht dem Geist des Grundgesetzes, scheint aber gängige Praxis. Vermutlich also hat Trittin hier seine GG-Vorstellung mit dem geschriebenen Wort verwechselt.

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In besonderem Maße lächerlich machen sich Anton Hofreiter und ein Nachwuchssektierer mit dem Namen Timon Dzienus. Hofreiter meint, die FDP sei im „Atomstreit ideologisch verbohrt“. Dzienus, laut Wikipedia seit 2014 Student der Politischen Wissenschaft an der Universität Hannover und damit gegenwärtig im 16. Studiensemester, protestiert vehement gegen Scholz: „Das ist Basta-Politik, die brauchen wir nicht!“ Verkennt der eine, dass eine Partei, die über keinerlei politische Inhalte und Grundsätze verfügt, auch über keine Ideologie verfügen kann, offenbart der andere das seiner Gruppierung eigene Politikverständnis: Rote Linien aufzuzeigen, die keinesfalls überschritten werden dürfen und die als absolutes Dogma verkündet werden, hat demnach nichts mit „Ideologie“ und „Basta“ zu tun! Wie heißt es so schön: Merkste selber …

Immerhin aber benennt zumindest Hofreiter den wahren Verlierer der Debatte: „Die FDP wollte unbedingt neue Brennelemente. Das kommt nicht.“ Noch nicht, sollte sachlich korrekt hinzugefügt werden.

11) Bleibt der Blick auf das, was sich „Opposition“ nennt. Bayerns Markus Söder hat einen kurzen Lichtblick, wenn er feststellt: „Das Stromproblem ist nur vertagt!“ Und die zutreffende Erkenntnis: „Diese Koalition ist ein Risiko für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Die Grünen haben ihre Ideologie durchgesetzt und die FDP hat wieder einmal zu viel versprochen.“ Friedrich Merz von der Unionsschwester analysiert: „Dieses Machtwort des Bundeskanzlers war wohl notwendig, um die Ampel auf Kurs zu bringen. Trotzdem greift diese Entscheidung zu kurz. Die deutschen Atomkraftwerke müssen – wie es die FDP gefordert hat – bis 2024 mit neuen Brennstäben weiterlaufen.“

Damit liegen der oberste CDU-Verwalter und der um seine Wiederwahl bangende CSU-Franke zwar nicht falsch, doch den Mut, im Bundestag einen Antrag auf echte Laufzeitverlängerung einzubringen, der mit den Stimmen von Union, FDP und AfD eine Mehrheit bekommen könnte, werden sie einmal mehr nicht aufbringen, weil sie in Sachen AfD die unvermeidbare Schelte der rotgrünen Mediendominanz fürchten und zudem wissen, dass es leichter ist, einen Wackelpudding an die Wand zu nageln, als die FDP dazu zu bringen, nach ihren vielleicht noch irgendwo verschüttet vorhandenen Restüberzeugungen zu handeln.

Tatsächlich und ausnahmsweise bleibt es in dieser Angelegenheit nur, dem kommunistischen Führungskader Dietmar Bartsch zuzustimmen. Der nennt dieses Ringen um die Energiesicherheit nebst Kanzler-„Machtwort“ ein „absurdes Schmierentheater“. Mehr ist dazu tatsächlich kaum zu sagen.

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