Tichys Einblick
Präsident, Regierungschef, Heerführer

Erdogan errichtet Neu-Osmanien

Die Türkei, die nach dem Untergang des Osmanischen Reichs von Intellektuellen und Offizieren geschaffen worden war, ist nicht mehr. Egal, was auf dem offiziellen Etikett auch stehen mag: Die Türkei ist nun das Neuosmanische Reich.

© Kayhan Ozer/AFP/Getty Images

Im November 2016 schrieb ich hier bei TE, die Türkei sei tot. Manch einer – vor allem jene Leser mit türkischer Abstammung – beschwerte sich darüber. Gerade der Erfolg des Recep Tayyip Erdogan sei doch der beste Beweis dafür, dass die Türkei lebe. Doch sie liegen falsch – und ich bleibe dabei: Die Türkei ist tot. Abschließend jetzt, nachdem sich Erdogan die Machtfülle eines Adolf Hitler geschaffen hat, wurde sie zu Grabe getragen.

Die Türkei, die nach dem Untergang des Osmanischen Reichs von Intellektuellen und Offizieren geschaffen worden war, ist nicht mehr. Egal, was auf dem offiziellen Etikett auch stehen mag: Das, was fast einhundert Jahre die Türkei gewesen war, ist nun zum Neuosmanischen Reich geworden. Vorwärts in die Vergangenheit, ist man geneigt, diesen Prozess zu beschreiben. Doch eigentlich ist es noch viel schlimmer. Die Anatolier in Griechenlands antikem Osten, die unter Kemal Atatürk begonnen hatten, ihr islamisches Stockholmsyndrom zu überwinden, fallen derzeit zurück in jene Zeit, in der barbarische Normadenkrieger aus der asiatischen Steppe unter dem Banner Mohameds ihre christlich geprägte Hochkultur vernichteten und die Bewohner von Asia Minor – dem europäisch geprägten Kleinasien – in die Unterwerfung unter eine Imperialimusideologie aus Zentralarabien zwangen.

Tributzahlungen an den Islam

Am zweiten Montag des Juli 2018 ließ sich der Muslimbruder Erdogan zum alleinigen Machthaber der Türkei krönen. Auf einem langen Marsch über zwanzig Jahre hatte er alle Widerstände überwunden, um sein ganz persönliches Diktaturmodell durchzusetzen. Zum Erfolg beigetragen hatten nicht nur jene kemalistisch-bürgerlichen Eliten, deren Anspruch, die Türkei zu einem laizistischen Nationalstaat zu machen, über die großstädtischen Millieus hinaus nie erfolgreich war. Zum Erfolg beigetragen haben aber vor allem die USA und die Staaten Westeuropas, die, statt den Mann aus den Slums von Konstantinopel in die Schranken zu weisen, bergeweise Waffen und harte Euros in das marode Land schaufelten und es damit dem künftigen Diktator ermöglichten, sich als Begründer eines „türkischen Wirtschaftswunders“ und neuer nationaler Größe feiern zu lassen. Ob EU-Hilfen oder jener sogenannte Flüchtlingsdeal – die im Norden Europas erwirtschafteten Milliarden flossen und fließen wie dereinst die Tributzahlungen an die islamischen Barbareskenstaaten der Europa über Jahrhunderte bedrohenden Korsaren Nordafrikas.

Nicht zuletzt unter dem Druck der USA, die in der Türkei bis heute den wichtigsten Anker ihrer Südwestflanke gegen Russland sehen, spielten die Führer der EU ein Spiel, dessen Ende längst absehbar war. Vielleicht – ganz vielleicht – wäre eine demokratische Türkei, die die Archaik des Islam nicht nur in den Intellektuellenzirkeln der Großstädte, sondern auch in den zurückgebliebenen Dörfern Anatoliens hätte überwinden können, mitgliedsfähig für die Europäische Union werden können. Die nationalislamische Diktatur jedoch, die Erdogan nun mit seiner Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP – „Gerechtigkeit und Entwicklung Partei“) und seinen nationalfaschistischen Verbündeten von der Milliyetçi Hareket Partisi (MHP – „Nationalistische Bewegung Partei“) errichten wird, hat selbst als assoziierter Partner der EU nichts zu suchen. Erdogans Türkei wird den letzten Rest an westeuropäisch-aufklärerischem Einfluss kappen und die bis ins Hochmittelalter christlichen Länder Kleinasiens wie einst durch die islamisierten Barbaren aus der Turkmenischen Steppe in die Fänge des arabisch-mohamedanischen Großreichs zurückführen. Die Forderung nach Tributzahlungen allerdings – sie wird darunter nicht leiden. Ganz im Gegenteil.

Das „letzte Dekret“ des Ausnahmezustandes

Als letztes Dekret vor der Aufhebung des nach dem von Erdogan herbeigeputschten Staatsstreich erlassenen Ausnahmezustandes feierten nun die türkischen Staatsmedien einen erneuten Schlag gegen potentielle Kritiker. Weitere rund 9.000 Polizisten und 6.000 Militärangehörige wurden nebst Eliten aus Universitäten, Bildungssystem und Medien vor die Tür gesetzt, teilweise verhaftet und in den als Gefängnisse getarnten Lagern Erdogans konzentriert, in denen bereits jene zuvor über 70.000 ihrer Freiheit beraubten Menschen ohne Anklage und Verhandlung schmachten. Nach den angeblichen Putschisten des früheren Verbündeten und Selfmade-Predigers Fetullah Gülen wird nun auch der letzte Rest laizistischer und demokratischer Staatsdiener entfernt und durch eigene Anhänger ersetzt.

Das „letzte Dekret vor der Aufhebung des Ausnahmezustandes“? Ja, so wird es wohl sein. Erdogan benötigt den Ausnahmezustand nicht mehr. Er hat ihn mit seinem Staatsstreich legalisiert und zum Dauerzustand gemacht. Erdogan ist nun alles in einem: Präsident einer angeblichen Republik – und Regierungschef, Oberster Heerführer und Parteivorsitzender. Er kann sich seine Minister ohne Mitwirkung des Parlaments suchen und nach Belieben feuern. Er bestimmt, wer in den Gerichten nationalislamisches Recht sprechen darf. Eine große Änderung des bisherigen Verfahrens allerdings ist das nicht: Die Ergebnisse der Prozesse wegen Hochverrats, Präsidentenbeleidigung und Terrorismus kamen ohnehin längst von ihm. Warum auch nicht: Wer Dekrete mit automatischer Gesetzeskraft erlassen kann, kann auch Gerichtsurteile steuern. Niemand kann – niemand wird ihn daran hindern – auch nicht jenes Parlament, bei dessen Wahl nach Erkenntnissen internationaler Wahlbeobachter im klassischen Wortsinne „getürkt“ wurde, was das Zeug hält.

Erdogans Nepotismus-Kabinett

Kaum mit absoluter Macht versehen, stellte Erdogan sein Kabinett vor. Der Präsident, gegen dessen Sohn Bilal in Italien wegen Geldwäsche ermittelt wurde und von dem geheime Mitschnitte über Schwarzgeldsicherung geleaked wurden, übergab den wichtigen Posten des Finanzministers seinem Schwiegersohn. Nepotismus hat Tradition in jener Region – denn wirklich vertrauen mag man auf dem Raubzug nur Verwandten.

Damit bei der Plünderung des Staates niemand im Wege steht, erließ der Präsidialdiktator zeitgleich ein Dekret, wonach ab sofort die Ernennung von Präsident und Vizepräsident der türkischen Zentralbank ausschließlich bei ihm liegt. Offiziell soll diese Maßnahme dem Ziel dienen, die seit geraumer Zeit im Abwärtsstrudel taumelnde, türkische Lira zu stabilisieren. Das ist bitter nötig auch deshalb, weil Erdogan in der Vergangenheit seine Anhänger wiederholt aufgefordert hatte, gehortete Dollar und Euro in Lira zu tauschen. Sollten diese irgendwann auf die Idee kommen, angesichts einer Inflationsrate von aktuell über 12 Prozent ihre Lira zurücktauschen zu wollen, könnte der grenzenlose Glaube in die wirtschaftliche Kompetenz Erdogans erheblichen Schaden nehmen. Wie die Genesung der Wirtschaft allerdings tatsächlich gelingen kann, steht im islamischen Halbmond – oder wird, wie bereits mehrmals geschehen, im Bedarfsfall sultaninenmäßig per Präsidialdekret über FakeNews geregelt.

Erdogan auf dem Weg in den Ein-Parteien-Staat?

Ist Erdogan mit dieser absoluten Machtfülle nun am Ziel seiner Wünsche?
Fast. Denn noch immer hat er ein Parlament, in dem einige Parteivertreter sitzen, die ihm gegenüber kritisch bis ablehnend eingestellt sind. Da aber Erdogan Deutschlands Hitler zutiefst bewundern soll, wird er genau geschaut haben, wie dieser nach Ermächtigungsgesetz und Vereinigung von Präsidial- und Kanzleramt agiert hat. Insofern ist naheliegend, dass jene verbliebenen Restbestände kritischer Opposition demnächst Opfer eines der ersten Präsidialdekrete nach der Aufhebung des Ausnahmezustandes werden.

Mit einem gleichgeschalteten Obersten Gericht ist einem Präsidialdekret des Parteiverbots kein Riegel mehr vorgeschoben. Der altbekannte Vorwurf des Terrorismus oder der Terrorismusunterstützung musste jüngst erneut herhalten, um die vorerst letzten, der möglichen Illoyalität verdächtigten Skeptiker aus der Exekutive zu entfernen. Er wird auch beim Parteienverbot helfen.

Die linksliberale Halkların Demokratik Partisi (HDP – Demokratische Partei der Völker), deren Führer Selahattin Demirtaş seit eineinhalb Jahren ohne Anklage in Untersuchungshaft interniert ist, wird es wegen ihrer Kurdennähe als erstes treffen. Sitzen ohnehin bereits zahlreiche Mitglieder der Partei in endloser Untersuchungshaft, wird die von Erdogan ständig behauptete Terrorismusunterstützung – in realita: die Bereitschaft, für die Belange der türkischen Kurden einzutreten – unproblematisch ihr Ziel erreichen.

Danach steht die einst von Atatürk gegründete Cumhuriyet Halk Partisi (CHP – Republikanische Volkspartei) auf dem Plan. Die zu ihr stehende, laizistische Militärführung wurde bereits 2013 in den sogenannten Ergenekon-Prozessen ausgeschaltet. Erdogan wird es nicht schwerfallen, irgendwelche nach wie vor bestehenden Verbindungen zwischen den Abgeurteilten und der Parteiführung konstruieren zu lassen.

Bleiben am Ende nur die ihm treu ergebene AKP und der Noch-Verbündete der MHP. Doch wie es Verbündeten ergeht, wenn sie zu viel Macht bekommen, hatte Erdogan bereits bei seinem langjährigen Intimfreund Gülen exekutiert. Gut möglich also, dass am Ende auch die Nationalfaschisten per Dekret verschwinden – oder im Zuge eines Vereinigungsparteitages mit der AKP verschmolzen werden.

Gefahr droht nur bei außenpolitischen Abenteuern

Gefährlich werden kann dem Mann aus dem kleinkriminellen Milieu der Bosporus-Stadt eigentlich nur noch sein außenpolitischer Abenteuergeist. Erdogans Sinn steht – das hat er immer wieder wissen lassen – nach Restauration des Osmanischen Kolonialreichs. Mit der Quasi-Annexion des nordwestsyrischen Afrin ist ein erster Schritt getan, die territoriale Expansion nach Süden einzuleiten. Unabhängig davon, ob er als nächstes die syrischen Kurdengebiete in Rojava angreift oder unter dem Vorwand, die Kurdische Arbeiterpartei PKK im Nordirak vernichten zu wollen, seine Präsenz im Zweistromland ausbaut – dort kollidieren seine Interessen mit denen Russlands und des Iran ebenso wie mit denen der USA und Saudi-Arabiens.

Auch im Westen des Neuosmanischen Reichs stehen derzeit noch Feinde, die Erdogan jedoch für deutlich schwächer hält als jene Geistesverwandten Nordarabiens und Mesopotamiens. Griechen und Bulgaren besetzen in der Welt des Präsidialdiktators ur-osmanische Territorien. Dass all diese Territorien einstmals ihren christlichen Besitzern gestohlen und lediglich von den früheren Eigentümern zurückerobert worden waren, spielt in der islamisch-osmanischen Weltsicht keine Rolle. Insofern wird Erdogan bei beiden Zielen wie einst Hitler zuwarten, immer neue Ansprüche stellen und irgendwann, wenn er die Chance auf Erfolg wittert, zuschlagen.

Das Ende des EU-Beitritts

Das Europa-Abenteuer, dieser von ihm stets abgelehnte Beitritt einer demokratischen Türkei zur Europäischen Union, ist für Erdogan anders als für die Traumtänzer in den Chefetagen von EU-Institutionen ohnehin abgehakt. Weshalb er folgerichtig bei seiner Regierungsbildung auch das Europa-Ministerium als überflüssig erkannte und einsparte.

Wenn Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz die Notwendigkeit der Sicherung der EU-Außengrenzen betont, dann sollte er den Blick auch und insbesondere auf das Neuosmanische Reich richten. Die Entfernung zwischen den islamisierten Küsten Mysiens, Kariens und Lydiens und den christlichen Inseln Griechenlands stellt schon für die illegalen Schlepper kein Problem dar. Spätestens dann, wenn die innenpolitische und wirtschaftliche Unfähigkeit Erdogans innere Unruhen könnte entstehen lassen, wird der neuosmanische Sultan zwecks Ablenkung außenpolitische Abenteuer vom Zaun brechen, an denen er sich die Finger verbrennen könnte.

Dem Verbot von „Osmanen Germania“ müssen weitere folgen

Um dieses zu vermeiden, könnte Erdogan seine fünften Kolonnen in den Staaten der Europäischen Union aktivieren, um dort die notwendige Ablenkung vom eigenen Versagen zu besorgen. Seine DITIB-Agenten ebenso wie jene dank Verramschens bundesdeutscher Pässe in den Startlöchern stehenden Agenten-Parteien sind längst mittendrin im Kern des „Goldenen Apfels“, als welchen sie Westeuropa seit dem Mittelalter bezeichnen.

Vielleicht ist es insofern nur ein erster Schritt, wenn der bundesdeutsche Minister des Inneren nun die laut Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen in Verbindung mit Erdogans Umfeld stehende Rockergruppe „Osmanen Germania“ nebst allen Unterorganisationen wegen „schwerwiegender Gefährdung für individuelle Rechtsgüter und die Allgemeinheit“ verbieten ließ.

Ist Horst Seehofer konsequent, müssten DITIB und Co. umgehend folgen. Schließlich hätte nach 1933 auch kein demokratisch aufgestellter Staat Organisationen auf seinem Territorium geduldet, die aus Berlin gesteuert und finanziert wurden oder sich offen als Vertreter eines national-faschistischen Staates zu erkennen gaben. Eine schwerwiegende Gefährdung der Allgemeinheit stellen diese Vereine mit ihrer Islamisierung im Auftrag Erdogans ohnehin schon lange dar.
Und doch – sollte Seehofer tatsächlich Konsequenz beweisen, wird damit zu rechnen sein, dass Merkels Sozialdemokratie ihm einmal mehr in die Arme fällt. Nicht umsonst hat Merkels Kabinett den Gazprom-Lobbyisten und Erdogan-Vertrauten, Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder, als offiziellen Vertreter von Vilayet Almanya zur Inthronisation des Sultans von Neu-Osmanien geschickt. Eine gute Wahl – denn wer könnte besser mit den kleinen Diktatoren dieser Welt als dieser Sozialdemokrat?

So oder so – wie auch immer deutsche Politikeliten nicht von ihrem orientalischen Traum auf dem Diwan aus Tausendundeinenacht lassen können: Das, was einmal Türkei war, ist tot. Es lebe das Neuosmanische Reich, welches sich ab sofort abschließend in die Reihe der islamic-failed states einreihen wird.