Tichys Einblick
Von der Selbstgefälligkeit von Moralisten

BILD war das Feindbild der sexuellen Befreier ’68 und Sexvorwürfe sind heute ihre Waffe gegen BILD

Die Instrumentalisierung von "Sexismus" zur Bekämpfung politischer Gegner gehört mit zum Übelsten des Großen Kulturkriegs im ganzen Westen.

IMAGO / Manfred Segerer

Ist Peter Altmaier ein Sexist? Ist der Bundeswirtschaftsminister jemand, der Frauen gegen ihren Willen sexuell nötigt, vielleicht sogar zu sexuellen Handlungen drängt? Diesen Eindruck jedenfalls versuchten dieser Tage einschlägige Medien zu verbreiten. Im Zeitalter des identitätspolitischen Matriarchats sollte nun auch der bekennende Asexuelle mit Granaten des Sexismus aus den Mündungen der Gendergeschütze niederkartätscht werden. Doch irgendwie mochte der Funke nicht so recht zünden – obgleich doch Altmaier selbst hier nur instrumentalisiert werden sollte, um den alten Hassgegner der politischen Linken, das Boulevardblatt BILD, zu treffen und eine bereits erfolgreich angelaufene Kampagne zu beflügeln.

Die Causa Reichelt und der Sexismus

Was ist passiert? Kaum, dass BILD-Chef Julian Reichelt sich der alten Stärken des Boulevardblatts besann und den Versuch startete, vom Propagandaorgan des Kanzleramts wieder zu Volkes Stimme zu werden, wurde offenbart: Der 1980 in Hamburg geborene, frühere Kriegsberichterstatter der BILD soll quasi reihenweise Kolleginnen sexuell belästigt haben. Die Rede ist von „rund einem halben Dutzend“ Fällen – was die konkrete Zahl auf fünf annähern lässt.

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Nun ist es an sich nicht ungewöhnlich, dass in den stets auf Adrenalin agierenden Redaktionsetagen gelegentlich auch nach klassischen Wegen der Entspannung gesucht wird. Gut erinnere ich mich noch an einen Chefredakteur, der regelmäßig gegen Mittag mit der Ressortleiterin Kultur in die obere Etage des Ostberliner Verlagshauses entschwand – nach gut einer halben Stunde tauchten beide wieder auf. Glücklich beseelt und entspannt, voll frischer Energie, um sich auf die nächste Rechercheschlacht zu stürzen.

Doch das war einmal, in einer anderen Zeit und einer anderen Welt, als die Nachwirkungen der sexuellen Befreiung der Sechziger- und Siebzigerjahre noch in der Luft lagen und die Kinder jener zumeist eher der linken Szene entsprungenen Free-Sex-Generation noch nicht als neue Savonarolisten ihren Kampf um die absolute Prüderie aufgenommen hatten.

Der Sexismus-Vorwurf zerstört Karrieren

Gleichwohl: Auch damals schon konnte der Vorwurf sexueller Belästigung eine Art Todesurteil für den beschuldigten Mann bedeuten. Denn zumeist hatte und hat er kaum eine Chance, sich dagegen erfolgreich zu wehren. Wie sollte er auch, liegt die behauptete Handlung doch sachbedingt zumeist im Dunkelfeld des Ausschlusses der Öffentlichkeit und nicht selten bereits so lang zurück, dass sich gerichtfeste Beweise und Gegenbeweise unmöglich erbringen lassen. Das mussten, vor allem in den USA, schon ganz andere als Julian Reichelt erfahren.

Zwar mag der Opfertäter oder das Täteropfer (um allen möglichen Varianten des tatsächlichen Geschehens sowie der Zuweisung von Schuld und Unschuld einigermaßen gerecht zu werden) vielleicht noch eine kleine Chance haben, den Verwurf nur mit erheblichem Imageverlust zu überstehen, wenn es sich bei der Klägerin (oder im Zeitalter des allgegenwärtigen Allover-Sexismus besser: dem Klagenden m/w/d/x) nur um eine Person handelt. Sind es jedoch, wie im Fall Reichelt, „rund ein halbes Dutzend“ Frauen, die inhaltsähnliche Anschuldigungen erheben, ist das Täteropfer chancenlos. Dann gilt das erfolgreiche metoo-Credo: Mehr als eine Frau als selbstbenanntes Opfer beweist die Tat!

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Das Urteil steht insofern bereits fest. Selbst für den Fall, dass die Sexismus-Vorwürfe aus der Luft gegriffen oder Teil einer fein gesponnene Intrige sein sollten – im Falle eines Freispruchs Reichelts müssten im Gegenzug jene – schätzen wir sie einmal auf fünf – Frauen der Lüge und üblen Nachrede überführt sein. Der schlechte Ruf eines männlichen Sexisten gegen den guten Ruf von fünf weiblichen Sexismusopfern? Warum der Springer-Verlag bei einer solchen Konstellation noch eine „Compliance-Untersuchung“ gegen Reichelt eingeleitet und eine Anwaltskanzlei mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragt hat, wird das Geheimnis der ASV-Geschäftsleitung bleiben. Vermutlich reine Formsache, um sich selbst die Finger nicht zu schmutzig machen zu müssen und die Strafversetzung des ASV-Zöglings durch ein neutrales Gutachten begründen zu können.

Gehen wir also davon aus, dass das Urteil längst feststeht und Reichelt eher über kurz als über lang einer anderen Verwendung im Verlagshaus zugeführt werden wird. Womit spätestens dann auch der Sexismus-Vorwurf als bewiesen gilt selbst dann, wenn er nicht bewiesen werden konnte, weil es außer den Aussagen des halben Dutzends niemanden gibt, der als Zeuge des Reichelt‘schen Sexismus zu benennen war.

Die Sittenblockwarte wittern ihre Chance

Für Reichelt steht es also schlecht und die Savonarolisten reiben sich bereits die Hände. Mit seinem Versuch, alte BILD-Tugenden als Volkes Stimme wiederzubeleben, hat er eindeutig gegen den haltungspopulistischen Kodex seiner Zunft verstoßen. Denn merke: Das Volk ist rechts und Volkes Stimme ist Nazi, und wer sich mit ihm gemein macht, ist es erst recht. So stimmt das alte Sponti-Weltbild wieder: Zerstören wir nicht mehr nur die BILD-Lieferwagen, nehmen wir gleich den Chef des reaktionären Hetzblatts!

Damit allerdings wollten es die Blockwarte der linken Sittenprüderie nicht auf sich beruhen lassen. Und so wurden sie schnell fündig. Denn aus welchen Gründen auch immer: Just in das gendergerechte Trommelfeuer hinein twitterte Daniel Cremer, der das BILD-Ressort Bayern leitet, am 8. März kommentarlos einen Auszug aus einem Gedicht Heinrich Heines. Die Zeilen lauteten:

„Den Schiffer im kleinen Schiffe ergreift es mit wildem Weh; er schaut nicht die Felsenriffe, er schaut nur hinauf in die Höh. Ich glaube, die Wellen verschlingen am Ende Schiffer und Kahn; und das hat mit ihrem Singen die Lore-Ley getan.“

Kurz darauf meinte der amtierende Bundeswirtschaftsminister, sich via Twitter ebenfalls als Gedichtkundiger ausweisen zu müssen. Den Tweet Cremers ergänzend, setzte er mit dem Versuch, dem Zitat eine minnende Note zu geben, hinzu:

„Ich weiß nicht was soll es bedeuten, dass ich soo trauaurig bin, ein Märchen aus uralten Zeiten, das geht mir nicht aus dem Sinn. … Die schönste der Jungfrauen sitzet, dort ooben wunderbar, ihr goldnes Geschmeide Blitzer, sie kämmt ihr goldenes Haar…“

Das nun war perfektes Futter für die Sittenwächter des sexualisierten Moralismus! Nach dem bekannten Muster, dass die eigene Gedankenwelt notwendig die einzig zulässige Interpretation des Gegenübers liefert, fielen die Haltungspopulisten nun auch über Cremer und Altmaier her.

Von Gedankenprojektion and Victim-Blaming

Tatsächlich hatte Heine seinerzeit eine alte Rheinlegende aufgegriffen, wonach auf dem gleichnamigen Felsen die betörend hübsche Jungfrau Lorelei säße, die mit ihrem Singen die arglosen, männlichen (und vielleicht auch etwas am Hormonstau leidenden) Rheinschiffer derart betöre, dass diese willenlos ihren Kahn auf Grund setzen und mit diesem in den Fluten des Stroms versinken.

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Es ist in gewisser Weise ein klassisches Motiv, welches die Verführbarkeit des Mannes durch die weiblichen Reize zu ver- und erklären sucht. Bereits der Weltreisende Odysseus konnte sich in Homers Saga der betörend singenden Damenwelt der Sirenen nur dadurch erwehren, dass er sich und seine Mannschaft (einer unbeweibten Macho-Clique) an den Masten festband oder wahlweise die Ohren verstopfte.

Nun also reichten die wenigen Zeilen eines harmlosen Gedichts, mehr oder weniger originalgetreu zitiert von zwei Männern, völlig aus, um der haltungspopulistischen Kampagne die nächste Umdrehung geben zu wollen. Lorenz Meyer, Autor eines links-orientierten Blogs, projizierte unvermittelt ebenfalls via Twitter mit folgender Aussage:

„Das muss man erstmal bringen: Ein hochrangiger Vertrauter von ‚Bild“-Chef Reichelt will mit dem zitierten Gedicht offensichtlich seinen Chef hinsichtlich des in Rede stehenden Fehlverhaltens gegenüber Frauen reinwaschen und der Wirtschaftsminister macht beim Victim Blaming mit.“

Die Vorverurteilung in Meyers Welt

Tatsächlich offensichtlich ist: Für den Autor ist das Urteil längst gesprochen – doch das bedarf eigentlich keiner Erwähnung mehr. Bemerkenswert ist vielmehr, wie hier einmal mehr ein Linksideologe sein eigenes Denken und Vorgehen unverblümt zur Schau stellt. Wir lernen: Hätte es einen Vertrauten Meyers getroffen, wäre ein von Meyer zitiertes Lorelei-Gedicht zweckgerichtet auf Entlastung des Beschuldigten und sogenanntes „victim blaming“ ausgerichtet gewesen. Denn die Wahl der Floskel „will … offensichtlich“ ist eine nur mühsam hinter dem Anschein einer Meinungsäußerung versteckte Tatsachenbehauptung, die Meyer als Resultat seiner eigenen Gedankenwelt ohne jeglichen Beweis in den Raum stellt.

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In seiner Welt also wollen Cremer und Altmaier den für Meyer bereits überführten Reichelt (denn die als Tatsache aufgestellte Behauptung des Vorhandenseins von „victims“ – Opfern – macht das Vorhandensein eines überführten Täters unvermeidlich) dadurch entlasten, dass sie die „Schuld“ an den behaupteten sexuellen Übergriffen den Beschuldigerinnen überhelfen. Meyer versteht die Heine-Zitate derart, dass die Damen den willenlosen BILD-Chef mit ihrer Schönheit und ihren weiblichen Reizen derart betört haben sollen, dass dieser zwangsläufig jegliche Kontrolle über seine Triebsteuerung verlieren musste.

Unabhängig davon, dass auch hier die Frage nach der tieferen Ursache der Projektion des Meyer‘schen Seins auf das behauptete Reichelt‘sche Tun spannend wäre, ist dieses Motiv ebenfalls nicht neu: Bereits im Buch Genesis ist es die Frau Eva, die den arglosen und bis hierhin asexuellen Adam infolge des Einwirkens eines sexistischen Influencers namens Satan derart betört, dass der väterliche Gott keine andere Chance mehr hat, als beide aus dem Paradies der Unbedarftheit zu werfen.
Die darin enthaltene Unterstellung, dass nicht Männer das Unglück der Frauen sind, sondern es sich umgekehrt verhalte, sollte bis in die Gegenwart sogar die Rechtsprechung prägen. So gilt in vielen Ländern vor allem des islamischen Kulturkreises auch heute noch als ausgemacht, dass eine vergewaltigte Frau selbst die Schuld an ihrem Schicksal trage, denn sie habe den offenbar grundsätzlich zur Selbstkontrolle unfähigen, triebgesteuerten Mann durch ihre Reize quasi gezwungen, seine Männlichkeit unter Beweis zu stellen.

Der Versuch der Skandalisierung

Nach Meyer versuchten sich auch andere Haltungspopulisten an der Skandalisierung einiger weniger Gedichtzeilen. Allerdings – so recht zünden wollte die linke Hatz dieses Mal nicht. Das mag zum einen daran liegen, dass Cremer offen gleichgeschlechtlich lebt, während Altmaier – nun, siehe oben. Sexismus aus dem Elfenbeinturm des Asexuellen hat nun einmal eher etwas Surreales als den Stoff, aus dem offenbar die hetzenden Träume mancher Bessermenschen sind.

Vielleicht aber merkte deshalb sogar die sonst zu jedem Rufmord dann bereite Meute, wenn es vermeintlich gegen rechts geht, dass dieser übermediale Skandalisierungsversuch eines Heine-Gedichts zum Rohrkrepierer werden musste. Cremer jedenfalls begnügte sich mit einem kurzen Tweet: „Merke, zwei (nachgewiesene) Liebhaber der Werke von Heine, dürfen keinen kl. Austausch über ein Gedicht haben, ohne das wildeste Falschbehauptungen aufgestellt werden. In jede Richtung, die sich jeweilig bietet. Ich lese in der Wanne jetzt nur noch Twitter.“ Und Altmaier ließ den Skandalisierungsversuch schlicht kommentarlos an sich abperlen.

Von der Selbstgefälligkeit von Moralisten
Bemerkenswert ist der Vorgang dennoch. Nicht deshalb, weil zwei Herren Heine zitieren, sondern weil hier exemplarisch aufgezeigt wurde, mit welchen Methoden die linken, selbsternannten Bessermenschen gegen ihre vermeintlichen Gegner vorgehen. Unterstellung, Projektion der eigenen Gedankenwelt als verachtenswertes Verhalten des Gegners, beweisentbehrende Diffamierung durch unbewiesene Behauptungen und darauf basierend der moralinsaure, vor Selbstgefälligkeit triefende Versuch der Skandalisierung durch Mobilisierung der Bessermenschenmeute.

Das Muster funktioniert. Fast immer und viel zu häufig. Dabei sollte doch jedem halbwegs gebildeten Europäer die Lehre der Französischen Revolution im Gedächtnis sein. Dort waren es am Ende auch jene über die Maßen selbstgefälligen und übereifrigen Obermoralisten, die andere aufs Schafott geführt hatten, welche ihren Kopf unter das Beil der Guillotine legen mussten.

Hoffen wir für die Meyers dieser Welt, dass es ihnen nicht eines Tages ebenso ergeht wie jenen moralisierenden Selbstgefälligen – im übertragenen Sinn, versteht sich.

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