Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 6 -2018

Merkels Befriedungsstrategie: Mehr Sozialstaat!

Weil sich die GroKo nicht länger vorhalten lassen will, Flüchtlinge zu bevorzugen, sind jetzt die Deutschen an der Reihe. Die Salbe heißt: mehr Sozialstaat!

© Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Deutschland ist ein reiches und leistungsfähiges Land, keine Frage. Wir sind Export-Weltmeister, weil unsere Unternehmen mit ihren Mitarbeitern Produkte und Dienstleistungen anbieten, die auf dem Weltmarkt gefragt sind. Unser Sozialstaat kann pro Jahr rund 1 Billion Euro umverteilen, mehr als 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Die Infrastruktur ist im Saldo – trotz vieler Kritik – weit besser als in den meisten Staaten der Welt. Die erstklassige Leistungsfähigkeit des deutschen Gesundheitssystems steht im umgekehrten Verhältnis zur vorherrschenden Fundamentalkritik. Die öffentliche Verwaltung funktioniert und selbst um die innere Sicherheit ist es nicht so schlecht bestellt, wie es im Sekundentakt aus den sozialen Netzwerken tönt. Studenten bezahlen keine Studiengebühren, obwohl sie als Hochschulabsolventen später deutlich höhere Einkommen erzielen – oft im besser bezahlenden Ausland. Und ja, natürlich sind wir Deutschen Reise-Weltmeister, die sich auch sonst nichts gönnen können.

Migrationsthema überlagert wirtschaftliche Prosperität

Im Land aber herrschen Miesepetrigkeit und Übellaunigkeit vor – jedenfalls, wenn man an die aktuellen Debatten über Armut und Reichtum, über den Pflegenotstand oder die „islamische Republik Deutschland“ denkt. Die „Willkommenskultur“ und die offenen Grenzen darf man als Auslöser der Tristesse natürlich nicht unterschlagen. Selbst Angela Merkel widmete die lange Einleitung in ihrer gestrigen Regierungserklärung ihrem Satz „Wir schaffen das!“ vom Spätsommer 2016, der „diejenigen, die schon länger hier leben“ (*) animierte, ihren Protest gegen „die, die neu dazugekommen sind“ (*) später mit einem Kreuz bei der AfD zu quittieren. Der AfD immerhin sei zu verdanken, erwiderte deren Fraktionschef Alexander Gauland der Kanzlerin im Bundestag, dass sie in ihrer Regierungserklärung erstmals wieder von „Deutschen“ geredet habe.

Doch besser Menschland?
Deutschland - Raum ohne Volk
Übrigens ließ Gauland in seiner Kanzlerin-Replik auch eine Zahl einfließen, mit der er die Kosten der Massenmigration zu beziffern suchte: 50 Milliarden Euro. Das wäre gewiss eine horrende Zahl, die aber einer Nettobetrachtung nicht standhält, weil die ökonomischen Wirkungen (Kaufkraft der Flüchtlinge, Löhne der zusätzlich Beschäftigten, etc.) auch wieder direkt und indirekt Staatseinnahmen generieren. Die tatsächliche fiskalische Mehrbelastung Deutschlands liegt deshalb bei immer noch sehr hohen 20 bis 30 Milliarden Euro jährlich. Mit dieser kleinen Relativierung will ich die Migrationsproblematik mitnichten verniedlichen.
Im Zweifel war das Glas in Deutschland schon immer halbleer

Ich möchte einen anderen Punkt setzen mit meiner Stimmungsanalyse. Dass die Deutschen in ihrer Selbsteinschätzung ein Glas im Zweifel schon immer eher als „halbleer“, denn als „halbvoll“ einstuften, war sprichwörtlich lange vor der sogenannten Flüchtlingskrise. Die Sozialleistungen waren stets zu niedrig, die Renten zu klein, die öffentliche Verwaltung zu bürokratisch, der globale Wettbewerb zu mörderisch – trotz der eigenen Exporterfolge. Kritisiert wurde schon immer und an allen Ecken, natürlich häufig auch zu Recht. Allerdings gab es in den früheren Debatten zumindest auch einflussreiche Stimmen, die auf die teuren Folgen von immer mehr Sozialstaat hingewiesen haben. Auf das Lohnabstandsgebot gelte es zu achten, damit diejenigen, die arbeiten, auch mehr haben als Menschen, die von Sozialhilfe leben. In der Rentendiskussion wurde auf den demografischen Wandel hingewiesen und auf die Folgen der Alterung für die Beitragszahler. Auch die bequeme Lösung über immer mehr Schulden wurde zu Recht als Raubbau an künftigen Generationen gebrandmarkt.

„Bei den Banken sind sie fix, für die Kleinen tun sie nix!“

Heute sind die Volksbeglücker und Umverteiler in einer politisch fast konkurrenzlosen Situation. Aus Angst vor dem Furor der Wutbürger, die mit der AfD in vielen Parlamenten ein vermeintliches Sprachrohr haben, werden jetzt Sozialleistungen (u. a. Kindergeld, Baukindergeld) und Versicherungsleistungen (u. a. Mindestrente und Mütterrente) ohne Rücksicht auf die Kosten neu eingeführt oder ausgeweitet. Denn weder Union noch Sozialdemokraten wollen sich vorhalten lassen, dass die Deutschen darben müssen, weil die Flüchtlinge alle Ressourcen binden. Aus der Finanzkrise mit ihrer Bankenrettung durch den Steuerzahler ist der alte „Occupy“-Spruch noch im Ohr, der bei Demonstrationen damals häufig intoniert wurde: „Bei den Banken sind sie fix, für die Kleinen tun sie nix!“ Nichts scheuen die politischen Parteien mehr als eine Analogie dieses Spruchs: „Bei den Migranten sind sie fix, für die Deutschen tun sie nix!“

Die Zeche der teuren Befriedungspolitik zahlt wie immer die Mittelschicht

Die absehbare Quintessenz dieser teuren Stillhalteprämien, mit denen die kleine Große Koalition, unterstützt von Grünen und Linken, einen Teil des AfD-Wahlprotests zurückgewinnen will: Die sozialstaatliche Umverteilung wird auch in dieser Legislaturperiode schneller wachsen als die volkswirtschaftliche Leistung. In den sozialen Sicherungssystemen droht absehbar die gleiche Ausgabendynamik. Die Zeche werden auch in diesem Fall die gleichen Personengruppen bezahlen, die heute schon die Hauptlast des Sozialstaats tragen: die leistungsbereiten Mittelschichten mit steuerpflichtigen Jahreseinkünften von 60.000 bis 80.000 Euro. In dieser Einkommenshöhe schlägt die Steuerprogression am stärksten durch, greift noch die volle Sozialversicherungspflicht. Mit ihrer teuren Befriedungspolitik machen die Regierungsparteien die Rechnung ohne den Wirt. Denn wer die Leistungsbereitschaft von Millionen überstrapaziert und ihnen weitere Steuer- und Beitragserhöhungen präsentiert, der wird erst Recht Protest ernten. Außerdem werden sich Leistungsträger, die immer weniger Netto vom Brutto haben, der Abzocke entziehen, weil sie sich nicht länger melken lassen wollen. Doch Verteilungspolitik ohne Leistungsträger funktioniert nicht. Das scheint das politische Establishment in Berlin komplett auszublenden.


(*) Zitate Angela Merkel vom 9. Integrationsgipfel am 14. November 2016 in Berlin