Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 10-2022

Die Schuldenbremse ist tot – Es lebe das „Sondervermögen“

In der Pandemie wurde sie ausgesetzt, für den Klimaschutz wurden Corona-Kredite trickreich umgewidmet. Putins Angriffskrieg versetzt der Schuldenbremse den Todesstoß.

IMAGO / photothek

Ich weiß, wie langwierig und mühsam die Versuche waren, der Politik „das süße Gift der Staatsverschuldung“ zu entziehen. In den neunziger Jahren, in den alten Bonner Zeiten, als Theo Waigel noch als „Herr der Haushaltslöcher“ fungierte, forderten grüne Realos eine Schuldenbremse nach Schweizer Vorbild – im Grundgesetz verankert. Ich war damals haushaltspolitischer Sprecher der Grünen Bundestagsfraktion.

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Es dauerte aber noch mehr als ein Jahrzehnt, bis die Schuldenregel dann mit der nötigen Zweidrittel-Mehrheit im Rahmen der Föderalismusreform II den Weg ins Grundgesetz fand. Selbst der Bundesrat votierte mit Zweidrittel-Mehrheit dafür, obwohl den Ländern ab 2011 die Kreditfinanzierung zur Gänze untersagt war, während der Bund noch einen kleinen Kreditfinanzierungspuffer in Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts eingeräumt bekam. Auch eine Notfall-Ausnahme wurde im Grundgesetz verankert, mit präzisen Tilgungsvorgaben für die Rückzahlung.
Das Märchen vom sozialen Kaputtsparen

Seit ihrem Inkrafttreten ist die Schuldenbremse vor allem von der politischen Linken attackiert worden. Sie sei verantwortlich für eine Sparpolitik, die systematischen Sozialabbau erfordere und die soziale Schieflage im Land verstärke. Das Narrativ hat sich so in den Köpfen verankert, dass heute selbst liberalen Politikern das Wort vom Kaputtsparen locker über die Lippen geht. Dabei ist am Sozialstaat in toto überhaupt nicht gespart worden, ganz im Gegenteil. Seit Inkrafttreten der Schuldenbremse sind die Sozialausgaben ständig gestiegen, obwohl beispielsweise die Zahl der Hartz IV-Bezieher im vergangenen Jahrzehnt im Saldo massiv zurückging – und das trotz eines deutlichen Anstiegs der Bezieher, die aus dem Asylbewerberleistungsgesetz in die Grundsicherung wechselten.

Das war kein Wunder, weil die Beschäftigungsquote in Deutschland eine Rekordmarke erreichte und die Arbeitslosigkeit rapide zurückging. In solchen Zeiten müssten die Sozialausgaben normalerweise signifikant sinken, wenn nicht eine große Sozialstaatskoalition zur gleichen Zeit die Ausgaben für die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung und diverse andere soziale Wohltaten ausgeweitet hätte. Auch die Massenmigration forderte ihren sozialen Preis. „Gespart“ wurde schon – bei den Investitionen. Der Substanzverlust in der öffentlichen Infrastruktur ist deutschlandweit zu besichtigen.

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Doch die linke Polemik gegen die Schuldenbremse fruchtete zunächst genauso wenig wie die gegen Ende des letzten Jahrzehnts aufkommende Klima-Apokalypse. Sie bescherte 2018 und 2019 den Grünen formidable Wahlergebnisse in Bayern, Hessen und bei der Europawahl und löste bei nahezu allen politischen Parteien einen wahren Klimaschutz-Überbietungswettbewerb aus. Die Kosten einer möglichst schnellen Klimaneutralität Deutschlands interessierten nur wenig, weil es sich angeblich um „rentierliche“ Investitionen handelt, mit denen die immensen Kosten der Unwetterkapriolen vermieden werden. Der Einwand, dass sich das Weltklima nicht um die deutsche CO2-Vermeidung kümmert, wenn gleichzeitig große CO2-Emittenten wie China oder Indien ihren Klimaausstoß um wesentlich größere Volumina erhöhen als Deutschland reduziert, verpuffte im Klimaschutz-Hype.
In der Pandemie wurden die Schleusen geöffnet

Doch dann kam die Corona-Pandemie und mit ihr wurde der grundgesetzliche Ausnahmetatbestand für die Schuldenbremse per absoluter Mehrheit im Bundestag und Bundesrat aktiviert. Innerhalb von drei Haushaltsjahren (2020 bis 2022) wurde die sagenhafte Summe von annähernd 500 Milliarden Euro Nettokreditaufnahme allein im Bundeshaushalt mobilisiert. Der heutige Kanzler und damalige Finanzminister nannte es „Bazooka“ und erinnerte damit an einen Begriff, den einst Mario Draghi während der Eurokrise für die schier grenzenlose Geldflut der EZB prägte.

Klimamiliarden Ja, Verbraucherentlastung Nein
Lindner: „Wir werden alle ärmer“
Mit dem Krisenmodus der Pandemie wurde die Schuldenbremse zum Auslaufmodell. Denn plötzlich bekamen auch die Klimaschützer Oberwasser. Als Sozialdemokraten, Grüne und Liberale sich zur Ampel-Koalition zusammenfanden, stellten sie ruckzuck fest, dass ihnen Abermilliarden Euro für ihre politischen Versprechen fehlten. Also widmete kurzerhand der neue Finanzminister Christian Lindner ein Paket von 60 Milliarden Euro an nicht verbrauchten Corona-Krediten für das „Sondervermögen“ Energie- und Klimafonds um. Die Mehrheit segnete den Trick vor Weihnachten im Bundestag ab, auch der Bundesrat gab seinen Segen.

Die Union schäumte zwar und reichte Klage in Karlsruhe ein. Doch ob diese Klage überhaupt aufrechterhalten wird, steht in den Sternen. Denn inzwischen kam der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dazwischen, der Deutschlands mangelnde Verteidigungsfähigkeit selbst in sozialdemokratischen und grünen Kreisen schlagartig bewusst gemacht haben muss. Denn selbst dort wird inzwischen ein „Sondervermögen“ für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro kreiert, das nichts anderes darstellt, als ein kreditfinanziertes Aufrüstungsprogramm für die marode deutsche Truppe.

Weil SPD- wie Grüne Basis in gewohnter pazifistischer Grundhaltung darauf sehr verhalten reagieren, mussten der liberale Finanzminister Lindner und der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck ganz schnell mit einem noch höheren Volumen für die Energiewende und den Klimaschutz nachlegen. Sie machten aus den 30 Milliarden Euro, die dem Energie- und Klimafonds in diesem Jahr zufließen sollen, 200 Milliarden Euro. „Sie nehmen einfach alles hinzu, was ohnehin schon dafür da oder absehbar war, zudem blicken sie bis ins Jahr 2026“, analysierte Manfred Schäfers in der FAZ.

Damit ist das gewünschte optische Ergebnis erreicht, damit auch die Grünen die 100-Milliarden-Druckbetankung für das Militär schlucken. Keiner soll sagen können, dass die Ampelkoalition die Energiewende wegen des russischen Überfalls auf die Ukraine vernachlässige. Was allerdings passiert, wenn das Bundesverfassungsgericht über die Klage der Unionsfraktion gegen die Umwidmung der Corona-Kredite positiv entscheidet, steht in den Sternen. Viel wahrscheinlicher scheint mir, dass sich die Union, die voll hinter dem Sondervermögen für die Bundeswehr steht, ihre Klage in Karlsruhe „abverhandeln“ lässt – gegen eine entsprechende Einbindung in die konkrete Investitionsplanung für die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit Deutschlands.

Sendung 10.03.2022
Tichys Ausblick Talk: Geld zurück! Warum wir einen Inflationsausgleich brauchen
Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter. Damit bekommen die diversen Sondervermögen, die allesamt in Wahrheit nichts anderes als kreditfinanzierte Ausgabentöpfe darstellen, eine Dauerlegitimation. Dass der FDP-Parteivorsitzende und Finanzminister sich angesichts dieser Schmierenkomödie hinstellt und auf der Einhaltung der grundgesetzlichen Schuldenbremse ab dem kommenden Haushaltsjahr beharrt, grenzt an Realitätsverlust. Die Schuldenbremse ist tot. Das ist die traurige Realität. Die politischen Mehrheiten haben eine selbst geschaffene Fessel für solideres Haushaltsgebaren erfolgreich sturmreif geschossen. Sie werden künftig auch in normalen Zeiten wieder großzügig auf Kosten der Zukunft auf Pump gestalten können.
Lieber eine kurze Rezession als eine dauerhafte Inflation

Doch der Preis ist hoch. Die Europäische Zentralbank wird im Krisenmodus bleiben. Dank Putin wird sie die angesichts der Inflation so dringend nötige Zinswende vorerst verschieben oder nur in homöopathischen Dosen verabreichen. Die EZB wird die Staatsschulden weiter monetarisieren. Die EU wird aus dem Ausnahmetatbestand der gemeinsamen Corona-Kreditaufnahme eine Dauereinrichtung machen. Die Transfers in Euroland werden weiter wachsen.

Die Inflation wird uns auf Jahre begleiten und massive soziale Verwerfungen provozieren, die auch demokratische Staaten im Kern erschüttern können. Dabei wäre eine Zinswende und ein Ausstieg aus der Staatsschuldenfinanzierung durch die Notenbank, auch wenn sie eine kurze Rezession hervorrufen würde, aus meiner Sicht weit weniger schlimm als eine lang anhaltende Inflation.


Mit diesem Ordnungsruf verabschiede ich mich erst einmal aus dem Rhythmus der wöchentlichen Kolumne. 

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