Tichys Einblick
METZGERS ORDNUNGSRUF 28-2020

Die politische Maxime lautet: Nach uns die Sintflut!

Regierung und Opposition pflegen die kollektive Verdrängung der säkularen Probleme des Landes. Stattdessen übt man sich in Koalitions- und Personalvisionen.

Als ein sozialdemokratischer Kanzler vor 17 Jahren seine Agenda 2010-Reformstrategie mit einer mutigen Rede im Deutschen Bundestag startete, war der vorpolitische Raum, also Medien und Parteien, bereits einige Jahre stark von der Sorge beherrscht, wie der demografische Wandel, der ab den zwanziger Jahren die Herausforderung schlechthin für die Sozialversicherungen, ja den gesamten Sozialstaat darstellen würde, gestaltet werden könnte. Die Arbeitsmarktreformen (Hartz IV) waren ein wichtiger Baustein auf diesem Reformweg, deren Erfolge sich in dem Beschäftigungswunder der Jahre 2006 bis 2019 niederschlugen. Die stufenweise Erhöhung des Renteneintrittsalters im Jahr 2006, dann schon in der ersten Merkel-Koalition mit der SPD, war nochmals ein zwar umstrittener, aber objektiv mehr als notwendiger Reformschritt eines sozialdemokratischen Akteurs: Franz Müntefering setzte das vor allem durch. Doch danach war Schluss mit einer Politik, die auf die objektive Problemlage vorsorgend reagierte. Stattdessen wurde rückabgewickelt – mit allen negativen Folgen für die nachhaltige Finanzierung des Sozialstaats. Dabei weiß jeder verantwortungsvolle Politiker, dass zu späte Reformen immer umso brutaler ausfallen müssen.

Heute, in der Corona-Rezession, spielt finanzpolitische Vorsorge überhaupt keine Rolle mehr. Eine unsinnige Grundrente, die Armut nicht wirksam bekämpft, sondern eherne Grundprinzipien der Rente außer Kraft setzt und kapitale Ungerechtigkeiten mit sich bringt, wird im Schweinsgalopp vor der parlamentarischen Sommerpause verabschiedet. Ein leibhaftiger sozialdemokratischer Bundesfinanzminister markiert mit seinen neuen dreistelligen Milliarden-Krediten in Comic-Manier das große „Wumms“. Ein christdemokratischer Wirtschaftsminister rettet jeden Arbeitsplatz, als ob sich eine von der Politik stellgelegte Wirtschaft vom Staat wieder aufbauen ließe wie eine Spielzeugeisenbahn. In der Rentenpolitik, in der Beamtenversorgung und im Gesundheitssystem wird agiert, als ob es keine demografisch bedingte Alterung gäbe, die unseren üppigen Sozialstaat in den Abgrund zu führen droht. Soviel Wertschöpfung kann die schrumpfende aktive Erwerbsgeneration überhaupt nicht erwirtschaften, als dass man die immer größer werdenden Ruhestandskohorten weiter so bedienen könnte wie bisher. Denn die steigenden Steuer- und Abgabequoten werden für die junge Generation eine nahezu erdrosselnde Wirkung entfalten. Die teure Energiewende mit ihrem Einspeisevorrang für volatile Energieträger war für die Politik nicht Mahnung, sondern politischer Fehlanreiz, möglichst bald und teuer auch aus der Kohleverstromung auszusteigen. Dafür importiert Deutschland in der Dunkelflaute Atomstrom aus Frankreich und Kohlestrom aus Polen. Ein Irrwitz!

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Obwohl die Corona-Pandemie das globale Wachstum – pro Kopf gerechnet – stärker einbrechen lässt als nach der Großen Depression im Jahr 1930, basteln Regierungs- und Oppositionsparteien an Wahlprogrammen für das kommende Bundestagswahljahr, die so gut wie alle demografischen und ökonomischen Risiken ausblenden. Denn ansonsten kann man dem Volk glaubwürdig keine neuen Wohlfahrtleistungen offerieren, nach denen die Wähler leider nur zu oft auch selbst gieren. Die Corona-Rezession ist mitnichten ausgestanden, eine zweite Infektionswelle wird nicht nur Kalifornien, Texas oder Israel heimsuchen. Deshalb verstummen auch immer mehr Gutgläubige, die sich noch vor wenigen Monaten eine V-förmige Erholung nach dem Absturz des Lockdown versprochen haben.

Hauptsorge des politischen Establishments ist derzeit, wie man möglichst von der objektiven Problemlage unbeschadet bis zum September 2021 kommt. Weder Regierungs- noch Oppositionsparteien wollen den Wählern vor der Bundestagswahl die Zeche präsentieren, die für ihre verantwortungslose Politik fällig sein wird. „Nach uns die Sintflut!“ nannte man eine solche Politik in früheren Zeiten. Stattdessen wird im politischen Berlin und in den Leitmedien lieber über die Kanzlerkandidaten oder die Koalitionsoptionen spekuliert, weil Personalfragen appetitlicher zu präsentieren sind als fundamentale wirtschaftliche und soziale Veränderungen. Wenn Friedrich Merz im Spiegel-Interview seine Grünen Seiten entdeckt, garantiert ihm das mediale Aufmerksamkeit. Dass eine deutsche Bundeskanzlerin mit einem bayerischen Ministerpräsidenten in der Kutsche vorfährt oder ein nordrhein-westfälischer Regierungschef mit dem französischen Präsidenten diniert, erfährt in den Medien jedenfalls mehr Aufmerksamkeit als die Tatsache, dass drei deutsche Autobauer – Volkswagen, Daimler und BMW – im Verschuldungsranking der größten 900 globalen Unternehmen inzwischen die Plätze 1, 3 und 8 belegen. Und der „Wumms“-Finanzminister wird plötzlich sogar von seinem lieben Parteivorsitzenden-Duo in Interviews für kanzlerkandidatentauglich gehalten. Wenn das keine Nachricht wert ist!

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