Tichys Einblick
Precisi­on Farming

Das Weizenkorn, ein genetisches Monster

Die Funktionsweise eines Weizenkorns ist ein Wunderwerk der Natur. Mit den Fortschritten in Züchtung, Düngung, Mechanisierung, Sensorik und grüner Gentechnik wird es gelingen, bis zu 15 Milliarden Menschen auf dem Globus zu ernähren

picture alliance / Bildagentur-online/McP-SHU

Ein Weizenkorn – das Korn, das die Welt in Gang hält. Präzisions­maschinen haben den Sämann abgelöst und drillen die Körner gleich­ mäßig in den Boden. Diese Wunder der Technik haben die Ernteergebnisse aus dem Vorjahr im Steuercomputer, um die Korndichte den Bodenverhältnissen angepasst dosieren zu können. Precisi­on Farming heißt das. In bis zu 40 Rei­hen nebeneinander ziehen die größten Einzelkornsämaschinen eine Furche, legen Saatkörner hinein und decken die Furche wieder mit Erde zu.

Mit zehn Kilometern pro Stunde donnern die 18 Meter breiten Kolosse über die Äcker und bereiten das ideale Saatbett. Sie berücksichtigen sogar un­terschiedliche Verhältnisse auf einem Ackerschlag – in der einen Ecke eher feucht, in der anderen trocken und san­dig. Jedes Saatkorn soll später ausrei­chend Wasser und Nährstoffe aus dem Boden bekommen. Zwischen 250 und 300 keimende Körner sollen pro Qua­dratmeter in den Boden gelegt werden – je nach Qualität der Standorte.

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Dann spielt sich das Wunder der Na­tur ab: Die Körner nehmen Wasser auf und quellen; dafür ist ein möglichst guter Bodenschluss wichtig, wissen die Landwirte. Die Bodenpartikel rund um das Saatkorn sollten also nicht zu grob sein. Entscheidend ist auch die Saat­tiefe, in der noch genügend Wasser vor­handen ist, aber andererseits der Pflan­ze ein schneller Feldaufgang möglich sein muss, sie also nach oben ans Licht durchdringen kann. Wenn der Wasser­gehalt auf 45 bis 60 Prozent gestiegen ist, keimt das Korn. Nach zwei bis drei Wochen sind die ersten Keimblätter auf dem Feld sichtbar.

Die Samen sind so etwas wie Le­bewesen in Ruhestellung. Ihre Stoff­wechselaktivität ist auf ein Minimum beschränkt. Erst wenn Wasser aufge­nommen wird, wacht der Samen auf, die Keimruhe wird beendet. Bereits 1865 hat der Botaniker Julius Sachs gezeigt, dass neben dem Licht auch die Temperatur eine entschei­dende Rolle spielt, um die Keimruhe zu stoppen und den Samen gewisserma­ßen zu aktivieren.
Ausreichende Wasserversorgung und geeignete Temperatur, das sind wichtige anregende Faktoren. Den entscheiden­den allerdings liefert die Sonne. Bereits eine sehr kurze Bestrahlung reicht aus, um die Keimung anzuregen. Bei einer ganzen Reihe von Pflanzenarten ist üb­rigens eine Brandkatastrophe vonnö­ten, um den Prozess in Gang zu setzen.

Erstaunlich hoch kann der mechani­sche Druck werden, wenn Samen Was­ser aufnehmen, denn sie haben eine bemerkenswerte Saugkraft. Trockene Erbsensamen können sogar einen Glas­behälter zerspringen lassen. In frühe­ren Jahrhunderten stachen Schiffe mit trockenen Getreidesorten in See. Geriet
ein Schiff in einen heftigen Sturm, so konnte es geschehen, dass Wasser in die Lagerräume mit dem Getreide ein­ drang. Das Getreide quoll auf, und dies manchmal so stark, dass sogar der höl­zerne Schiffskörper zerbrach und das Schiff mit Mann und Maus absoff.

Ohne Quelldruck kein Wachstum

Die Bedeutung des hohen Quelldrucks ist offensichtlich: Die Samen in der Erde müssen große mechanische Widerstän­de überwinden, um die Bodenpartikel auseinanderzuschieben und Raum für ihr Wachstum zu schaffen. Die nächste Phase tritt ein, wenn die Quellung been­det ist und das Wachstum beginnt. Der Mehlkörper ist der mit Stärke gut gefüll­te Energietank der künftigen Pflanze – das, was wir als Mehl benutzen. Doch die Stärke im Korn muss erst in Zucker umgewandelt werden, diesen Prozess setzt ein Biokatalysator in Gang.

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Der Keimling wandelt die Stärke in Zucker um, die eigentliche Energie für den Aufbau des gesamten Körpers. Warum speichert das Weizenkorn seine Energie nicht gleich in Form von Zu­cker? Der Grund verblüfft: Dann wür­den sich die osmotischen Verhältnis­se ändern. Das Zuckermolekül bindet deutlich mehr Wasser als das Stärke­molekül, die Zelle würde platzen. Danach versorgt das Keimblatt die Pflanze mit Energie, der Spross beginnt zu wachsen, während der Mehlkörper schrumpft und die leere Samenhülle abfällt. Erstaunlich sind die relativ ho­hen Wachstumsgeschwindigkeiten von ein bis zwei Millimeter in der Stunde.

Die Zellen nehmen immer mehr Wasser auf, das Volumen wird erhöht, die Zellen strecken sich – in Längsrichtung stärker als in Querrichtung. So wachsen die Stängel und werden zu mechanischen Wunderwerken: Sie sind elastisch und lassen sich biegen. Gleichwohl bauen sie Sekundärwände an, um die Konstruktion mechanisch zu stabilisieren. Denn oben an der Spitze bildet der Keimling Ähren, wird schwerer und droht umzukippen.

Welche Kräfte wachsende Wurzeln ausüben können, lässt sich angesichts von Durchbrüchen von Wurzelwerk durch zum Beispiel dicke Asphaltdecken ermessen. Es handelt sich um außergewöhnlich hohe hydrostatische Drücke in den Zellen, die enorme Widerstände überwinden können. Doch die exakten physikalischen Prozesse derartiger pflanzlicher Kraftakte sind noch nicht in allen Details geklärt.
In den Wurzelspitzen sitzen Sensoren für ein ganzes Arsenal an Größen wie mechanischer Druck, Feuchtigkeit und sogar für die Schwerkraft. So fallen in der sogenannten Wurzelhaube schwere Partikel (Statolithen) aus Stärke oder
Kalk immer nach unten und lösen einen mechanischen Reiz aus. So wissen die Wurzeln, wo oben und unten ist, wohin sie wachsen müssen. Die Wurzelspitzen leisten Schwerarbeit, wenn sie das Erdreich durchbohren. Sie ölen daher ihre Spitze mit einem Schleim und ersetzen die abgenutzten Zellen innerhalb weniger Tage. Sie ändern erstaunlicherweise ihre Wuchsrichtung bereits, bevor sie auf ein Hindernis stoßen. Sie prallen also nicht auf ein Hindernis, sondern umgehen es frühzeitig.

Wurzelspitze das Gehirn der Pflanze

Die Wurzelspitzen bezeichnete bereits Charles Darwin als „Gehirn“ der Pflanzen. Und der italienische Biologe Stefano Mancuso weiß: „Automatische Reiz-Reaktions-Schemata können den widersprüchlichen Anforderungen, die an die Wurzelspitze gestellt werden, nicht gerecht werden. Doch jede Wurzelspitze allein ist schon ein Datenverarbeitungszentrum und arbeitet dazu nicht isoliert, sondern in einem Netz aus Millionen anderer Wurzelspitzen, die zur Community des Wurzelwerks gehören.“ Offen ist allerdings, wie die Wurzelspitzen zusammenarbeiten.

Weizen ist, wie der Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera betont, ein „genetisches Monster aus der Steinzeitära“, das in der freien Natur nicht entstanden wäre und ohne die Hilfe des Menschen im Freiland auch nicht überlebensfähig wäre. Dies gilt insbesondere für die durch klassische Züchtung generierten Hochertragssorten der 1960er-Jahre.

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Norman Borlaug ist ein amerikanischer Agrarwissenschaftler, der 1944 in Mexico Mitarbeiter eines Forschungslabors wurde. Dort entwickelte er neue Getreidesorten und bessere Anbaumethoden – Hochertragssorten verdreifachten die Erträge innerhalb von 40 Jahren. So bewahrte der Bauernsohn aus Iowa Millionen von Menschen vor dem Hungertod: 1960 galten 40 Prozent der Menschheit als unterernährt, heute nur noch 17 Prozent. Um 1850 holten die Bauern aus einem Hektar Erträge von zehn bis zwölf Dezitonnen (à 100 Kilogramm). Die steigerten sich langsam auf 16 bis 22 Dezitonnen um 1900, heute sind es 70 bis 75 Dezitonnen.

Fatal wird sich allerdings die neue Düngeverordnung auswirken. Rund 15 Prozent des in Deutschland verbrauchten Weizens werden heute importiert. Diese Menge dürfte sich erhöhen, weil die Düngemengen drastisch reduziert werden müssen. Das lässt die Erträge sinken. Weizen droht knapp zu werden.

Zurück zur reinen, ursprünglichen Natur des Weizenkorns? Nein, wir könnten die Weltbevölkerung allein mit Wildgewächsen nicht ernähren. Fachleute gehen davon aus, dass mit Einsatz der grünen Gentechnik sogar 15 Milliarden Menschen auf der Welt satt würden. Als Folge moderner Technik stehen heute also so vielen Menschen wie noch nie saubere, gesundheitlich unbedenkliche und preiswerte Lebensmittel zur Verfügung. So hängen Lebensmittelreichtum oder Hunger auf der Welt von dem kleinen Wunderwerk Weizenkorn ab.

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