Tichys Einblick
Berlin zunehmend isoliert

Holt Frankreich bei der Kernenergie Deutschland zurück in die Wirklichkeit?

Die grüne Angst geht um: Mit Angela Merkel geht auch die von ihr eingefädelte Energiewende. Es wird nicht der erste deutsche Alleingang sein, der auf europäischer Ebene in Zukunft bestraft wird.

Atomkraftwerk Brokdorf in Schleswig-Holstein zwei Monate vor der geplanten endgültigen Stilllegung

MAGO / Chris Emil Janßen

In der Vergangenheit dominierte der Eindruck, Frankreich nähme Deutschland in der Europäischen Union an die Leine. Das galt besonders in Finanz- und Wirtschaftsfragen, in denen der traditionell zentralistische und protektionistische Einfluss von Paris spürbar war. Ironischerweise könnten die Franzosen die romantisch veranlagten Teutonen im energiepolitischen Bereich zurück auf den Boden holen. Denn die Debatte in Brüssel, ob Kernenergie als „grüne“ Energiequelle gelten darf, hat Frankreich vorangetrieben, indes die geschäftsführende Bundesregierung ihre letzten Tage absitzt und die Koalitionsverhandlungen noch auf Hochtouren laufen.

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Noch im November – und damit vor der Vereidigung eines neuen Bundeskanzlers – wird sich die EU-Kommission festlegen, ob sie die Kernenergie als klimafreundliche und nachhaltige Energiequelle einstuft. Daran hängen Milliardengelder – und die Zukunft der europäischen Energieindustrie. Internationale Investoren könnten dadurch animiert werden, wieder mehr Geld in die Kernenergie zu stecken. Besonders das atomaffine Frankreich könnte daran verdienen. Nicht viel anders als in Deutschland, ist der Kilmaschutz nicht so sehr eine Sache der Moral, sondern des Profits.

Bereits nach der Ölkrise in den 1970er Jahren hatte Frankreich in der Atomkraft die Lösung erblickt. Premierminister Pierre Messmer fasste den nach ihm benannten Plan: weg vom Öl, hin zur Kernenergie. Dafür ging man auch über das Parlament und die öffentliche Meinung hinweg. Von den anberaumten 170 Kraftwerken blieb zwar nur ein Drittel übrig. Doch das Ergebnis entspricht grundsätzlich den damaligen Überlegungen: energiepolitischen. Frankreich unterhält 56 Reaktoren, die rund 70 Prozent des französischen Stroms produzieren. Daneben spielt die Nutzung der Wasserkraft im Nachbarland eine große historische Rolle. Während Deutschlands Kohleverstromung die CO2-Bilanz verschmutzt, profitiert Frankreich mit seiner CO2-neutralen Energiegewinnung massiv im internationalen Vergleich.

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In der Klimadiskussion debattiert man heiß über den ökologischen Fußabdruck. Auf dem Feld haben die Franzosen bereits das geschafft, wovon die Deutschen immer noch mit Solar- und Windanlagen träumen. Es liegt daher im Interesse der Französischen Republik, ihre Hauptstromversorgung vergolden zu lassen – moralisch wie monetär. Präsident Emmanuel Macron hat erst jüngst verkündet, in Zukunft eine Milliarde Euro in „Minikraftwerke“ zu stecken. „Die Atomkraft ist ein Glück für unser Land“, betonte er. Haupteigentümer des Kernkraftwerksbetreibers EDF (Électricité de France SA) ist der französische Staat. Zugleich ist die Gesellschaft hoch verschuldet. Der Bau neuer Anlagen ist teuer. Das Land hofft auf neue Investitionen, sobald das „Bio“-Etikett auch am Atommeiler klebt.

Berlin betrachtet das französische Vorpreschen kritisch – sowohl in der alten wie in der neuen Koalition. „Es macht überhaupt keinen Sinn, in etwas einzusteigen, das viel zu gefährlich, viel zu teuer und viel zu langsam ist, um beim Klimaschutz auch nur irgendwas zur Lösung beizutragen“, sagte Umweltministerin Svenja Schulze (SPD). Auch Christian Lindner (FDP) äußerte Bedenken, denn ordnungspolitisch handele es sich um eine Energiequelle, die „im Markt zu versichern ist und daher die Staatshaftung gegen den GAU braucht“. Doch die Allianz der Atomgegner auf EU-Ebene ist klein. Deutschland stehen nur Österreich, Luxemburg sowie Spanien und die Niederlande bei. Im Zuge der Energiekrise haben aber sowohl Madrid als auch Amsterdam ihre Positionen vorsichtig revidiert. Und auch Schweden, das sich früher einen Atomausstieg verordnet hatte, sieht die Kernkraft weniger skeptisch als früher.

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Deutschland ist mit seiner Position demnach isoliert und der französische Triumph in den Verhandlungen absehbar. Besonderes Bauchgrummeln ruft das bei einem zukünftigen Partner der neuen Bundesregierung hervor. Der grüne Abgeordnete des EU-Parlaments Sven Giegold spricht von einem „Super-GAU für Europas Energiewende“. Frankreich und die osteuropäischen Staaten seien „drauf und dran“, in Brüssel vollendete Tatsachen zu schaffen. „Das Ergebnis wäre eine Entwertung aller neuen Finanzprodukte, die den Green Deal in Europa voranbringen sollten.“ Heißt: die Investitionen flössen dann nicht mehr Richtung Windkraftanlagen, sondern in neue Kernkraftwerke. Der schöne Kuchen, den man sich in den letzten zwei Jahrzehnten mühsam erkämpft hatte, er würde wieder geteilt.

Der verzweifelte Appell an Kommissionschefin Ursula von der Leyen: Man solle warten, bis sich die Ampel-Regierung in Berlin gebildet hätte. Der EU-Zug soll also eine Vollbremsung machen, weil die Deutschen ein Sonderticket brauchen, damit der grüne Zirkus mitfahren darf. Die Angst geht um: Mit Angela Merkel geht auch die von ihr eingefädelte Energiewende. Und Olaf Scholz als Newcomer kann nur noch zusehen, wie ihm die Knochen eines Festessens serviert werden, das er schlichtweg verpasst hat. Es wird nicht der erste deutsche Alleingang sein, der auf europäischer Ebene in Zukunft bestraft wird. Nicht nur in der Energiepolitik.