Tichys Einblick
Keine unabhängige Wissenschaft

Der Ausstieg aus Kohle und Kernkraft ist mit »Ethikkommissionen« gepflastert

In der 17-köpfigen Ethikkommission Atomkraft saß niemand vom Fach. Die Politik-Aufgabe der Laien war: »Begründen Sie die Notwendigkeit des Atomsausstiegs!« Unabhängige Professoren hätten diese Aufgabenstellung der Ethikkommission vor 10 Jahren abgelehnt.

IMAGO/Wolf P. Prange
Der Weg zum Ausstieg aus Kohle und Kernkraft in Deutschland ist mit »Ethikkommissionen« gepflastert. Die Grundlagen wurden vor zehn Jahren gelegt. Am 30. Juni 2011 beschloss der Bundestag bekanntlich den sogenannten »Atomausstieg«. Eine vorgeschobene Ethikkommission lieferte die bestellte Rechtfertigung, dass dieser Beschluss in Ordnung ist. Die sollte Widersprüche und Kritik zukleistern.

Das passt in ein Zeitalter, in dem nicht mehr mit Interessen, politischen Argumenten oder gar gleich mit wissenschaftlichen Begründungen argumentiert wird, sondern mit Moral und Ethik.

In dieser Ethikkommission saßen Soziologen, eine Philosophin, eine Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin, eine Politikwissenschaftlerin – jedoch kein einziger Energiefachmann oder gar Kraftwerksfachmann. Die hätten mit ihrer Sachkompetenz nur gestört. Immer wieder wurde deshalb diese Ethikkommission auch in TE wegen mangelnder Kompetenz kritisiert.

Doch erst zehn Jahre später war offenbar die Zeit reif für eine Diskussion darüber, wie unabhängig und kompetent tatsächlich diese Kommission war und wie unabhängig heute noch Wissenschaft ist.

Denn genau zehn Jahre danach hat ein Wissenschaftler einen deutlichen offenen Brief an die Mitglieder der Ethikkommission geschrieben und ein Urteil über das Versagen von Wissenschaft gefällt, wie es härter nicht ausfallen kann.

„Zusammenfassend komme ich zu dem Schluss, dass die drei Professorinnen und fünf Professoren der Ethikkommission dem Leitbild unabhängige Wissenschaft nicht gerecht geworden sind. Sie haben sich allem Anschein nach vereinnahmen lassen und das politisch erwartete Ergebnis geliefert.«

Der das geschrieben hat, ist André Thess, Professor für Thermodynamik. Er leitet den Bereich „Energiespeicherung“ an der Universität Stuttgart.
Tichys Einblick veröffentlichte im Mai 2021 diese Kritik. Die rief eine sehr lebhafte Diskussion auch unter Wissenschaftlern hervor. Es hat sich ein Netzwerk „Freiheit der Wissenschaft“ gegründet.
Angesichts der Abschaltungen der letzten Kernkraftwerke in Deutschland muss noch einmal an diesen offenen Brief mit Sprengkraft erinnert werden.

In der 17-köpfigen Ethikkommission Atomkraft saßen – dies zu Erinnerung – unter anderem der Soziologe Ulrich Beck von der LMU München, der Mikrobiologe Jörg Hacker von der Universität Würzburg, der Forst- und Bodenwissenschaftler Reinhard Hüttl von der BTU Cottbus, die Philosophin Weyma Lübbe von der Universität Regensburg, die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlerin Lucia Reisch von der Copenhagen Business School, der Soziologe und Risikoforscher Ortwin Renn von der Universität Stuttgart sowie die Politikwissenschaftlerin Miranda Schreurs von der TU München befanden. Die lieferten – wie bestellt – die Grundlage für den Atomausstieg.

Seinen Brief richtete Thess an Professor Matthias Kleiner von der TU Dortmund. Kleiner ist nicht irgendwer, sondern war Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und stand für »die Stimme der Wissenschaft« (Thess) in jener legendären Ethikkommission. Dessen Worte bei der öffentlichen Vorstellung des Abschlussberichts klangen genauso hehr und hohl wie »Deutschlands Energiewende – Ein Gemeinschaftswerk für die Zukunft«, so der Titel der Empfehlung: »Wir haben unsere Arbeit in diesen zwei Monaten in aller Unabhängigkeit getan […] das möchte ich zu Beginn deutlich hervorheben und an dieser Stelle auch meinen Dank insbesondere für diese Unabhängigkeit, die wir genossen haben, an die Bundesregierung, die Bundeskanzlerin sagen.«

Thess will in seinem offenen Brief nicht die Frage »Atomausstieg – richtig oder falsch« erörtern, sondern fragt, ob die acht Professoren tatsächlich unabhängig votiert haben und damit dem Vertrauen gerecht geworden seien, »welches die Gesellschaft beamteten Hochschullehrern auf Lebenszeit schenkt«. Ihn interessiert eine Diskussion über die tatsächliche Unabhängigkeit von Wissenschaft.

Denn jene merkwürdige Empfehlung der damaligen Ethikkommission ist immer noch eine der erstaunlichsten Vorgänge jener unseligen »Energiewende«. Auf dieses Votum stützte sich bekanntlich die Politik bei ihrem deutschen Sonderweg »Atomausstieg«.
In sechs an Kleiner gerichteten Thesen fasst Thess seine Kritik zusammen:

1. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium verfügte nicht über hinreichende Fachkompetenz, um die Risiken eines Verbleibs in der Kernenergie gegenüber denen eines Ausstiegs umfassend und sachgerecht abzuwägen.«
Das zählte seinerzeit zu den verblüffendsten Tatsachen, dass sich in der Ethikkommission kein Kraftwerkstechniker und kein Fachmann befand, der sich mit der Energieversorgung eines Industrielandes auskennt. Der hätte vermutlich nur gestört, indem er auf physikalische Tatsachen hingewiesen hätte.
Schwer wiegt auch die nächste These:

2. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat eine Aufgabenstellung mit politisch vorgegebenem Untersuchungsergebnis anscheinend widerspruchslos entgegengenommen.«
Bundeskanzlerin Merkel, Bundeswirtschaftsminister Brüderle und Bundesumweltminister Röttgen formulierten die Aufgabe der Ethikkommission so, dass die nur noch über das wie zu befinden hatte, nicht aber, ob eine »Energiewende« möglich und sinnvoll ist. »Wie kann ich den Ausstieg mit Augenmaß so vollziehen, dass der Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien ein praktikabler ist, ein vernünftiger ist, und wie kann ich vermeiden, dass zum Beispiel durch den Import von Kernenergie nach Deutschland Risiken eingegangen werden, die vielleicht höher zu bewerten sind als die Risiken bei der Produktion von Kernenergie-Strom im Lande?«
Unabhängige Professoren hätten diese Aufgabenstellung (»Begründen Sie die Notwendigkeit des Atomsausstieges!«) abgelehnt.

3. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat nicht von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die politische Vorgabe durch ein Sondervotum zu einer ergebnisoffenen Aufgabe auszuweiten und die Risiken von Kernenergieausstieg versus Kernenergieverbleib aus ganzheitlicher Perspektive fachgerecht abzuwägen.«
Merkwürdig war damals die Einstimmigkeit des Votums der Professoren, die Thess heute anprangert. Wissenschaft lebt vom Diskurs, Aufgabe der Ethikkommission wäre gewesen, ein gesellschaftliches Meinungsbild von allen Seiten unparteiisch darzustellen.

4. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat den internationalen Stand der Wissenschaft unberücksichtigt gelassen und dadurch einem nationalen Alleingang Deutschlands Vorschub geleistet.«
Die Professoren in der Ethikkommission haben – so Thess – den falschen Eindruck erweckt, Wissenschaftler in aller Welt lehnten Atomenergie ab. Dagegen erweist sich heute der deutsche Weg als Sonderweg, für den die Professoren keine sachliche Begründung geliefert hätten.

5. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat anscheinend versäumt, bei der Formulierung des Abschlussberichts eine klare Trennung von Fakten und Meinungen durchzusetzen.«
Thess weist darauf hin, dass glaubwürdige und unabhängige Wissenschaftler klar zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlichen Werturteilen trennen würden. Das haben die Professoren der Ethikkommission nicht getan.

6. »Das von Ihnen repräsentierte Kollegium hat einem Dokument zugestimmt, dessen Präsentationsform den Grundsätzen wissenschaftlichen Politikberatung nicht gerecht wird.«
Denn Wissenschaft müsse klar zwischen wissenschaftlichen Untersuchungsergebnissen und Handlungsempfehlungen trennen. Das ist in der Ethikkommission nicht geschehen. Vielmehr betonen die eilfertigen Professoren »Die Energiewende muss gestaltet werden« und unterscheiden nicht zwischen Fragestellung, Voraussetzungen, Methoden, Ergebnissen, Schlussfolgerungen und Empfehlungen. Sie appellieren unter dem Begriff »Gemeinschaftswerk Energiezukunft Deutschlands« an Verbundenheit und Eintracht, anstatt dass sie Fakten herausarbeiten.

Das Scheitern von Atomausstieg und Energiewende machen deutlich: Wenn Wissenschaft meint, politisch werden zu müssen, muss sie scheitern.

Mit Professor Thess hatte damit endlich ein unabhängiger Wissenschaftler eine Diskussion über die Unabhängigkeit von Wissenschaft angestoßen. Er erinnerte nicht zuletzt an den Beamtenstatus, der allen Professoren intellektuelle Freiheit und Unabhängigkeit von politischen Vorgaben ermöglicht.

Häufig genug ist davon nichts mehr zu bemerken: ein großer Teil des Elends der derzeitigen katastrophalen Lage.

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