Tichys Einblick
Plädoyer für die Kernkraft

Aller Fortschritt ist nuklear

Effizienz, Effektivität, Zusatznutzen und Expansion sind Kriterien, die auf freien, politisch unbeeinflussten Märkten über den Erfolg von Ideen entscheiden. In der Energietechnik ist aller Fortschritt nuklear. Oder er ist nicht.

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Der Weg zur Innovation beginnt mit der Besinnung auf grundlegende Prinzipien. Einerseits gilt es, den Wesenskern existierender Bedarfe jenseits der spezifischen Eigenschaften bereits verfügbarer Angebote zu identifizieren. Menschen wollen nicht zwingend Autos. Sondern mobil sein. Menschen wollen auch nicht unbedingt ein Telefon, E-Mail oder soziale Medien. Sie benötigen Kanäle für den Austausch von Informationen. Und Handelsplattformen für den Erwerb von Gütern aller Art, ganz gleich, ob dies nun Kaufhäuser, Flohmärkte oder Online-Shops sind.

Andererseits begrenzt der durch die Naturgesetze vorgegebene Rahmen den Suchraum für neue technische Lösungen, die solche und andere Begehrlichkeiten befriedigen können. So attraktiv beispielsweise die zeitverlustfreie Teleportation als ideales Transportsystem auch wäre, in der Realität muss man sich halt mit Vortrieb und Auftrieb, mit Luftwiderstand und Reibung herumschlagen. Und nirgends sind die Optionen für Tüftler geringer als ausgerechnet auf dem Gebiet der Energieversorgung, dem sich unsere Politiker dennoch mit so hoher Aufmerksamkeit widmen.

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Energie hat keinen Wert, wenn sie nicht überall und jederzeit in der benötigten Menge bereitsteht. Kein Unternehmer würde in Maschinen investieren, deren Betrieb dem Zufall unterliegt. Kein Verbraucher kauft sich ein Gerät, das er nicht garantiert genau dann einschalten und verwenden kann, wann und solange er es will. Gewerbebetriebe, Verkehrsmittel und Kommunikationsnetze aller Art sind ebenso verlässlich zu bedienen wie private Haushalte. Ein Energiesystem, das eine ausreichende Versorgungssicherheit nicht gewährleistet, ist unzureichend. Dies schließt die Skalierbarkeit ein, also die Fähigkeit, das Energieangebot bei steigender Nachfrage auch schnell und in ausreichendem Umfang ausweiten zu können.

Es stellt sich die Herausforderung, diesem Anspruch auf einem Planeten zu genügen, der augenscheinlich nicht viel mehr offeriert als ein Gravitationsfeld, eine Eigenrotation, einen stetigen Wärmestrom aus seinem Inneren, eine solare Einstrahlung zumindest zeitweise an allen Orten und aus diesen Triebfedern abgeleitete Luft- und Wasserströmungen. Denn Erdwärme, Wasser- und Windkraft, Sonnen-, Gezeiten- und Wellenenergie stehen nicht an allen Orten rund um die Uhr in beliebigen Mengen zur Verfügung. Wo kein Berg keine Talsperre, wo kein Fluss kein Laufwasserkraftwerk, bei Windstille bewegt sich kein Rotorblatt und in der Nacht liefert keine Solarzelle Strom. Zudem bietet allein die Bereitstellung von Energie in gespeicherter, jederzeit abrufbarer und transportabler Form die gewünschte räumliche und zeitliche Flexibilität. Was wiederum auf makroskopischer Ebene nur mechanisch durch Ausnutzung der Schwerkraft oder (elektro-)chemisch durch Ausnutzung der elektromagnetischen Wechselwirkung gelingen kann. Pumpspeicherkraftwerke sind ein Beispiel für den ersten Ansatz, Batterien oder synthetische Treibstoffe für den letztgenannten.

Die Produktion von elektrischer Energie durch Windräder oder Photovoltaik, deren Pufferung in großen Batteriefarmen, von denen aus sie entweder direkt in ein Stromnetz fließt oder über die Elektrolyse in Wasserstoff als dem chemischen Energieträger mit der höchsten gravimetrischen Energiedichte umgewandelt wird, stellt also ein denkbares Konzept dar.

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Innovativ ist es allerdings nicht. In der Kette Windrad/Solarzelle-Akkumulator-Elektrolyse-Wasserstofftank-Brennstoffzelle-Elektromotor findet sich beispielsweise keine Technologie, die nicht mindestens einhundert Jahre alt und daher längst bis nahe an das theoretische Optimum perfektioniert worden wäre. Natürlich lassen sich mit erheblichem Aufwand noch immer an der ein oder anderen Stelle die Umwandlungsverluste ein wenig reduzieren. An dem erforderlichen Ressourceneinsatz für die Herstellung, Errichtung und Instandhaltung von Unmengen an Windkraftanlagen, Solarfarmen und Akkumulatoren und deren enormem Flächenverbrauch ändert sich dadurch aber kaum etwas. Die Wasserstoffwirtschaft wird teuer. Und, viel wichtiger noch, sie bietet keine Verbesserung der Versorgungssicherheit. Denn ein solches System fände seine Grenzen immer am überhaupt erntefähigen Angebot an Wind- und Sonnenenergie und an der errichteten Speicherkapazität. Es setzt daher ein prinzipielles Limit für die Energiemenge, die in einem gewissen Zeitraum, beispielsweise während einer winterlichen Dunkelflaute, maximal vorhanden ist. Man darf die Speicher ja nicht schneller leeren, als sie wieder gefüllt werden können. Sonst herrschen zumindest phasenweise Finsternis und Kälte. Biomasse – als natürlich bereitgestellter Speicher eine denkbare Ergänzung – unterliegt denselben absolut gesetzten Schranken wie die Umgebungsenergieflüsse. Die Fläche, auf der sie wächst, und die Geschwindigkeit, in der sie sich regeneriert, sind ebenfalls endlich und nicht beliebig steigerungsfähig.

Mehr Windräder erzeugen nicht mehr Wind und mehr Solarzellen nicht mehr Sonnenschein. Mehr Bohrlöcher und Bergwerke aber bringen es schon. In Kohle, Erdgas und Erdöl wurden durch das Zusammenspiel von Sonnenlicht, Erdwärme und Schwerkraft ohne menschliches Zutun Unmengen an Energie abgelegt. Selbst die kleinsten Poren der Erdkruste haben sich im Verlauf der letzten etwa zwei Milliarden Jahre, in denen das irdische Leben Photosynthese betrieben hat, mit Kohlenwasserstoffen gefüllt. Durch immer neue Bergbauverfahren, wie beispielsweise die hydraulische Stimulation, gelangen immer mehr dieser Vorkommen in technische Reichweite. Kohle, Erdöl, Erdgas und Methan aus den gigantischen Methanhydrat-Vorkommen am Meeresboden bilden ein für alle sinnvollen Planungszeiträume als unendlich anzusehendes Reservoir, gestatten ein elastisches Energieangebot und sind zudem unter Normbedingungen beliebig lange verlustfrei lagerfähig und einfach zu befördern. Alternativen mit vergleichbaren Eigenschaften bietet dieser Planet nicht. Schwefelwasserstoffe, Azane (Verbindungen aus Stickstoff und Wasserstoff) oder Azine (Verbindungen aus Stickstoff, Wasserstoff und Kohlenstoff), kommen in der Natur schlicht in zu geringen Mengen vor. Und molekularer Wasserstoff findet sich überhaupt nicht.

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Wer sich an den mit dem Gebrauch dieser Energieträger verbundenen Abgasen stört, hat die längst vorhandenen Demonstratoren für vollständig emissionsfreie thermische Kraftwerke in sein Kalkül einzubeziehen. Außerdem lässt sich Kohlendioxid auch wieder aus der Atmosphäre entfernen. Klimaschutz ist kein Argument gegen Kohle, Erdöl und Erdgas, weil deren Nutzung mit dieser Forderung in Einklang gebracht werden kann. Sofern man dies als unbedingt notwendig ansieht.

Zur Verbesserung eines Energiesystems, dessen von den fossilen Kohlenwasserstoffen gebildetes Fundament alle gegenwärtigen Kundenwünsche erfüllt, taugt nur die Kernenergie. Mir ihr allein kann es funktionieren, nicht hinter das bereits erreichte Niveau an Versorgungssicherheit zurückzufallen.

Die starke Kernkraft wirkt im Gegensatz zu elektromagnetischen Wechselwirkung und zur Gravitation nur über die sehr geringen Distanzen innerhalb von Atomkernen. Sie verleiht den Kernbausteinen, also den Protonen und Neutronen (beziehungsweise den diese bildenden Quarks) das Potential, an ihrer Umgebung Arbeit zu leisten. Durch Veränderungen der Kernstruktur kann diese Energie in kinetische Bewegung oder in Strahlung umgewandelt werden. Falls der dazu erforderliche Aufwand geringer ist als der Ertrag, hat man einen Gewinn aus einem von der Natur angelegten Depot gewonnen. Wozu sich unterschiedliche, teils noch kaum erforschte Methoden eignen.

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Lediglich in Nischenanwendungen etabliert ist beispielsweise die Nutzung des natürlichen radioaktiven Zerfalls mittels Radionuklidbatterien oder betavoltaischen Zellen, die zwar nur eine vergleichsweise geringe elektrische Leistung erzeugen, dies aber wartungsfrei über sehr lange Zeiträume von einigen Jahrzehnten. Sehr hohe Leistungsdichten könnten dagegen nukleare Batterien auf Basis metastabiler Kerne erreichen. Zu prüfen bleibt, ob Prozesse wie der Protoneneinfang oder der Neutroneneinfang jemals mit einem Netto-Energiegewinn realisierbar sind. Gleiches gilt für die vollständige Umwandlung von Materie in Energie durch die Materie-Antimaterie-Reaktion, die eine unter Umständen zu aufwendige Produktion von Antimaterie verlangt. Die Fusion leichter Kerne hingegen befindet sich bereits in den Startlöchern.

Schon diese knappe Aufzählung verdeutlicht die intellektuelle Schludrigkeit einer Debatte, in der Kernenergie mit der Spaltung schwerer Kerne und dieses Verfahren wiederum mit dem Leichtwasserreaktor herkömmlicher Bauart gleichgesetzt wird. Obwohl doch Kernkraftwerke, in denen es keine Kernschmelzen mehr geben kann, die selbst bei einem Störfall kein strahlendes Material mehr in die Umgebung freisetzen und die keine langlebigen und toxischen Abfälle produzieren, längst machbar sind. Fortschritt erfordert, zwischen einem Prinzip (Kernenergie) und einer konkreten Nutzungsvariante (Leichtwasserreaktor) strikt zu unterscheiden. Das eine determiniert nicht das andere. Erst die Emanzipation von bestehenden technischen Pfadabhängigkeiten induziert echte Kreativität.

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Zumal Innovationen nicht als Problemlösungen entstehen. Sondern als Wegbereiter neuer Möglichkeiten, die vorhandene Grenzen pulverisieren. Die Kernkraft ist das mit Abstand stärkste natürliche Kraftfeld. Sie steht daher für die Form der Energiegewinnung mit dem geringstmöglichen Material- und Flächenverbrauch. Das durch sie erschließbare Energieangebot übersteigt das aller anderen Quellen um viele Größenordnungen. Ihre Nutzung ist außerdem mit Kernumwandlungen verbunden, durch die sich neue, in der Natur kaum oder nicht (mehr) vorhandene Stoffe mit überaus interessanten Eigenschaften etwa für die Nuklearmedizin oder für die Sensortechnik erschaffen lassen.

Die künftige von fliegenden Autos, Hyperloops und privaten Raumjachten, von künstlichen Intelligenzen, Quantencomputern, Robotern, umfassenden Breitband-Kommunikationsnetzen, dem Internet der Dinge, der Blockchain und vielen anderen äußerst hungrigen Applikationen geprägte Hochenergiegesellschaft wird nur durch die Kernenergie gesättigt werden können. Kerosin bringt die Menschheit zwar bis in den Erdorbit, aber schon der sichere Betrieb einer autarken Mondkolonie verlangt ein anderes Instrumentarium. Jenseits der Marsbahn schließlich eignen sich Solarzellen noch nicht einmal mehr als Ergänzungs- oder Notfallsystem.

Effizienz, Effektivität, Zusatznutzen und Expansion sind die Kriterien, die auf freien, politisch unbeeinflussten Märkten über den Erfolg von Ideen entscheiden. Hinsichtlich der Energieversorgung bietet dieses Universum mit der Kernenergie nur eine einzige Perspektive auf Optimierung in diesen Aspekten. In der Energietechnik ist aller Fortschritt nuklear. Oder er ist nicht.

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