Tichys Einblick
Vertrauensverlust

Wenn der Staat seine Bürger zum Heucheln animiert

Viel gefährlicher als die Lügen einzelner Politiker, sind die Lügen, zu denen eine heuchlerische Politik ihre Bürger oder diejenigen, die solche werden, verleitet. Denn sie zerstören die Achtung zwischen den Bürgern und ihrem Staat.

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Viel ist in den vergangenen vier Jahren bei Journalisten und anderen Beobachtern der Zeitläufte von Lügen die Rede. Natürlich sind es stets die Lügen der anderen, über die man schreibt und spricht. „Fake News“ ist einer der zentralen Vorwürfe des politischen Diskurses geworden, ein zwielichtiger Verein ernennt sich selbst zum „Correctiv“ gegen (vermeintliche) Lügen mißliebiger Journalisten. Wer der größte Lügner sei, ist für die meisten Journalisten sowieso fraglos klar: Donald Trump selbstverständlich. „Herr der Lügen“ nennt ihn der Tagesschau-„Faktenfinder“ Patrick Gensing und zitiert eine Datenbank der Washington Post mit 22.000 „irreführenden oder falschen Behauptungen“ Trumps in dessen Amtszeit. 

Trump ist vielleicht besonders skrupellos im Lügen. Vielleicht lügt er aber auch einfach nur besonders schlecht. Und vermutlich gehören seine Lügen eher zu den harmloseren unter den vielen Lügen der Gegenwart. Denn die wirkungsvollsten, größten und wohl auch gefährlichsten Lügen sind nicht jene, die als solche erkennbar sind, sondern jene, die eben nicht als solche erkannt werden und als Wahrheiten durchgehen – oder die, die Menschen als Wahrheiten zu bekennen gezwungen sind. Das ist ja gerade das Wesen der Lügen: Sobald sie als solche entlarvt sind, und niemand sie mehr für die Wahrheit hält, sind sie entschärft, harmlos, zum Witz geworden. Das machte seinerzeit Mohammad as-Sahaff vor, der Informationsminister unter Saddam Hussein. Er verkündete 1990 im Fernsehen, dass die Ungläubigen niemals Bagdad erreichen würden, während im Hintergrund schon amerikanische Panzer zu sehen waren. So wurde er zu „Comical Ali“, dem die Karikaturisten und Parodisten für seine Absurditäten dankbar waren.

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Dass Politiker und mächtige Menschen generell lügen, ist wahrlich keine atemberaubend neue Erkenntnis. Nicolo Machiavelli hat Lügen als notwendiges Mittel der Politik erkannt und moralisch freigesprochen. Der Florentiner war ein politischer Realist und ganz und gar kein Zyniker. Für den italienischen Patrioten Machiavelli war eben Lügen und Betrügen kein Selbstzweck und hatte auch nicht der schieren Macht des Politikers allein zu dienen – sondern dem Wohl des Staates, des Gemeinwesens, des Vaterlands. Dafür muss der Politiker, das wusste Machiavelli, bisweilen zu lügen und zu betrügen bereit sein.

Ein politisches System, in dem Lügen ein Mittel der Politik sind, ist der Normalfall. Es gibt gar keines ohne sie. Es gibt nur den mehr oder weniger heuchlerischen Umgang mit politischen Lügen. Gefährlicher als lügende Politiker sind für die Regierten vermutlich jene, die den hehren Anspruch einer ganz und gar reinen, lügenfreien Politik in die Welt setzten und immer wieder neu setzen. Das ist sozusagen eine Verlogenheit zweiten Grades. Sie erst schafft die Voraussetzung dafür, ein ganzes Herrschaftssystem auf der Lüge aufzubauen. Nicht wenn die Politiker bisweilen lügen, ist ein politisches Gemeinwesen gefährdet, sondern wenn seine Bürger zum dauernden lügen verführt oder sogar gezwungen werden und sich in der Lüge einrichten müssen.

Arnold Gehlen hat dies im berühmten letzten Absatz seines Spätwerkes „Moral und Hypermoral“ (1969) in zeitlose Worte gefasst: „Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. Das geht über die Demütigung der geistigen Abtrennung noch hinaus, dann wird das Reich der verkehrten Welt aufgerichtet, und der Antichrist trägt die Maske des Erlösers (…). Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der ‚Gott’, in dem die Lüge nicht Feigheit ist, wie im Menschen, sondern Herrschaft. Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis, er stiftet das Reich der Verrücktheit, denn es ist Wahnsinn, sich in der Lüge einzurichten.“

Das gute Gewissen aus dem Musterbrief

Im Deutschland der Gegenwart hat ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bürger – sowohl der alteingesessenen Deutschen, aber vor allem der zugewanderten – sein Dasein als Bürger mit einer Lüge als negatives Initiationserlebnis begonnen. Und um es vorweg zu nehmen: Das ist nicht eigentlich ihnen vorzuwerfen.

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In meiner Generation hat ein großer Teil der männlichen Deutschen im Alter von 18 oder 19 Jahren einen Brief ans Kreiswehrersatzamt geschrieben, in dem er den Kriegsdienst aus „Gewissensgründen“ verweigerte. Was man da über sein vermeintliches Gewissen reinschreiben musste, konnte man im Gegensatz zur Abiturprüfung ohne größeres Risiko schon im Vor-Internet-Zeitalter aus verschiedenen Quellen von bereits erfolgreichen Verweigerern munter abschreiben. Es kursierten allerhand Musterbriefe, die herumgereicht wurden. Vor 1983 gab es noch eine mündliche Anhörung zuerst vor einem „Prüfungsausschuss“, bei Ablehnung vor einer Prüfungskammer (2. Instanz). Aber auch dafür gab es, so wurde mir berichtet, Musterantworten auf fast immer ähnlich lautende Fragen. Ich habe nie jemanden kennengelernt, der da durchfiel und dann doch zum Militär musste.

Nicht, dass ich es nicht für möglich halte, dass der Dienst mit der Waffe einen jungen Menschen tatsächlich in Gewissensnot bringt. Im Gegenteil. Mir selbst war auch mulmig, als ich zum ersten Mal mit dem Gewehr auf Ziele geschossen hatte, die menschliche Umrisse hatten. Aber ist das nicht allgemein menschlich? Will man einem Soldaten tatsächlich unterstellen, er habe gar kein Gewissensproblem beim Gedanken an die potentielle Notwendigkeit zu töten? 

Die meisten meiner Bekannten, die nicht zum „Bund“ gingen, taten dies jedenfalls allzu offensichtlich und oft auch mir gegenüber zugegebenermaßen nicht, weil ihr Gewissen ihnen verbot, eine Waffe in die Hand zu nehmen. „Zivildienst“ machte man zumindest in meinem persönlichen Umfeld, weil der einfach ein sehr viel günstigeres Geschäft als die Bundeswehr war. Entscheidende Argumente waren ganz profane Gründe: Dafür, dass „Zivis“ nicht in 6-Bett-Stuben in einer unter Umständen weit von zuhause entfernten Kaserne schlafen mussten, sondern im heimischen Kinderzimmer bleiben konnten, bekamen sie nämlich auch noch Wohngeld ausgezahlt. Und dafür, dass sie die Uniform nicht tragen mussten, bekamen sie auch noch Kleidergeld. Als „Zivi“ bekam man also mehr Geld für etwas, das sowieso angenehmer war. 

Deswegen und angesichts einer ohnehin bestenfalls gleichgültigen bis offen feindseligen Haltung der Öffentlichkeit gegenüber den Soldaten des eigenen Landes gehörte spätestens ab den 1980er Jahren schon ein gewisses Maß an Idealismus dazu, nicht unter Verweis auf sein Gewissen, den Kriegsdienst zu verweigern. Und so stieg die Zahl der KDV-Anträge von wenigen Tausend in den 60er Jahren auf weit über Hunderttausend pro Jahr. Es gab damals und gibt sicher auch heute noch einige junge Männer, die sich aus welcher Überzeugung auch immer sich lieber einsperren lassen würden, als eine Waffe zu ergreifen, aber das waren damals und wären auch heute sicher nicht Hunderttausende. 

Sven Regener hat diese Verweigerungswirklichkeit in seinem Jugenderinnerungsroman „Neue Vahr Süd“ ganz ehrlich beschrieben. Sein Roman-Ego muss sich von Eltern und Freunden und überall verächtlich fragen lassen, warum er denn überhaupt beim Bund sei. Er habe „vergessen zu verweigern“, sagt er jedes mal. Und schließlich verweigert er noch nachträglich. Der ganze Roman dreht sich um das Verweigern, aber vom Gewissen ist ehrlicherweise nie die Rede. Höhepunkt ist schließlich ein öffentliches Gelöbnis, das von Linksradikalen (darunter auch Kumpels des Romanhelden) verhindert wird, indem sie Steine auf die Soldaten werfen und sie verprügeln.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, das im Grundgesetz als Grundrecht (Art. 4, Abs. 3) festgeschrieben ist, hatte im Zusammenspiel mit einer zunehmend freigebigen Auslegung ganz offensichtlich einen wachsenden Teil der jungen Deutschen dazu verleitet, dem Staat (vertreten durch das Kreiswehrersatzamt) über so etwas Intimes und schwer Greifbares wie das eigene Gewissen aus meist profanem Interesse mehr oder weniger taktisch konstruierte oder gar von anderen übernommene Behauptungen aufzutischen. 

Und ein großer Teil der Männer (in diesem Fall geht es wirklich nur um sie), die jetzt in der Politik und anderen wichtigen Positionen des Staates Verantwortung tragen, haben ihr Verhältnis zum eigenen Staat mit einem solchen negativen Initiationserlebnis begonnen.

Theodor Heuss, einer der Väter des Grundgesetzes und der erste Bundespräsident, hat die tiefe Problematik erkannt. Er, der im Gegensatz zu den meisten seiner Generation auf Grund einer Verletzung nicht Soldat werden musste und ganz und gar nicht militaristisch veranlagt war, wollte das Recht auf Kriegsdienstverweigerung deswegen nicht ins Grundgesetz aufnehmen, weil eine Gewissensentscheidung wegen des individuellen Charakters des Gewissens nie bewiesen noch widerlegt werden könne. 

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Es kam bekanntlich anders. Man könnte verkürzt sagen: Der Staat verführte im Laufe der Geschichte der Wehrpflicht seit 1956 seine jüngsten Bürger immer verlockender dazu, ihm einen Bären aufzubinden. Sie konnten sich durch eine unwiderlegbare Behauptung in eine materiell angenehmere Lage versetzen und sich dadurch zugleich noch in der Gesellschaft und vielleicht sogar vor sich selbst auch noch als besserer Mensch präsentieren – nämlich als einer mit gutem Gewissen und besonderer Friedensliebe. Und das unter Verweis auf ein Grundrecht, also höchstes Verfassungsgut, und ausgerechnet auf dem Feld, wo sich beide Seiten – Staat und Jungbürger – erstmals und in einer existentiellen Angelegenheit begegneten. So wurde der KDV-Antrag zu einem Anti-Initiationserlebnis junger Bürger, die dem Staat angeblich ihr Gewissen offenlegten, um einen ungewünschten Dienst für diesen Staat zu vermeiden. 

Ein ähnliches negatives Initiationserlebnis gegenüber dem Staat, in dessen Hoheitsbereich sie fortan leben würden, durchlaufen auch Hunderttausende Zuwanderer, die einen Antrag auf Asyl wegen politischer Verfolgung stellen. Auch dieses Recht steht als Grundrecht im Grundgesetz: „Politisch Verfolgte genießen Asyl“. Auch dieses Recht beruft sich auf höchste Ideale – und verspricht zugleich denen, die es beanspruchen, eine enorme materielle Besserstellung. 

Auch hier wissen eigentlich alle Beteiligten, dass sehr viele, vermutlich die meisten Antragsteller in ihrem Antrag angeben und in ihren Vernehmungen sagen, was sie von Vorangegangenen oder Anwälten oder Hilfsorganisationen als besonders aussichtsreich erfahren haben. Sie lügen, nicht weil sie gerne lügen, sondern weil die Versuchung des lockenden Lebens in Deutschland allzu groß, und das Risiko bei Entlarvung so gut wie null ist. Nicht die Asylbewerber sind die eigentlichen Urheber der hunderttausendfachen Asylheuchelei, die längst einen großen Teil der deutschen Gerichtsbarkeit beansprucht, und ein Heer von Anwälten ernährt. Der Ursprung der Heuchelei ist nicht individuell, sondern strukturell. Letztlich heuchelt der Staat vor sich selbst.

Auch hier prüft der Staat die Antragsteller, ohne dass er es in vielen Fällen tatsächlich kann. Und auch wenn die Prüfung negativ ausfällt, kann der Antragsteller mit Unterstützung der öffentlichen Meinung fast immer damit rechnen, dass er de facto seinen Wunsch erfüllt bekommt: ein Leben in Deutschland samt allen – im Vergleich mit seinem Herkunftsland – verführerischen sozialstaatlichen und sonstigen Annehmlichkeiten. Ebenso wie die KDV-Prozeduren es waren, sind auch Asylverfahren allzu häufig Farcen, bei denen alle Beteiligten wissen, dass die Wahrheit nicht verhandelt wird. 

Aber was bedeutet es für die Beziehung des Asylantragstellers zu dem Staat, in dem er künftig leben wird und dessen Staatsbürgerschaft er nach ein paar Jahren erhalten kann, wenn sein erster Kontakt mit diesem Staat eine Farce aus Heuchelei und juristischen Schattenfechtereien ist? Wenn alle Beteiligten, der Antragsteller selbst und die Menschen in den Behörden eigentlich wissen, dass sie ein unwahrhaftiges Prozedere veranstalten, in dem es vermeintlich um politische Verfolgung und ein hehres Grundrecht, aber tatsächlich um einen Platz im Wohlfahrtsstaat geht?

Lügen können Mittel der Macht zu politischen Zwecken sein. Sie können zerstören (das ist ein politischer Zweck!), aber sie können niemals langfristig eine nachhaltige Grundlage neuer sozialer und kultureller Ordnung sein. Verhältnisse zwischen Menschen und deren Organisationen, die mit einer fundamentalen Lüge beginnen, sind von Anfang an mit einer schweren Hypothek belastet. Ihnen fehlt das, was jede positive menschliche Beziehung festigt: Vertrauen.

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