Tichys Einblick
Steuerschätzung

Die Steuerbillion kommt später, aber der Auftrag zu sparen ist schon längst da

Die Steuerschätzung sollte kein Anlass zur Klage über geringere Staatseinnahmen sein, sondern zur grundlegenden Sorge um einen Staat, dessen Regierende mit dem Geld der Bürger nicht auskommen wollen. Das Ergebnis des Migrationsgipfels könnte insofern durchaus positiv gewertet werden.

Bundesfinanzminister Christian Lindner

IMAGO / Bernd Elmenthaler
Mit dem Durchbruch durch die Steuereinnahmen-Schallmauer – eine Billion Euro – muss der deutsche Staat nun wohl doch noch ein Jahr länger warten. Nach der offiziellen Schätzung, die Finanzminister Christian Lindner heute bekanntgegeben hat, müssen sich Bund, Länder und Kommunen wohl mit 920,6 Milliarden Euro im laufenden Jahr und 962,2 Milliarden Euro für 2024 bescheiden. Grund für das Minus gegenüber der letzten Schätzung (993 Milliarden) sei vor allem der danach beschlossene Inflationsausgleich bei der Einkommensteuer.

Der Katzenjammer, mit dem auch die Presse diese Nachricht aufnimmt, zeigt nur, wie verquer die Wahrnehmung ist. Die Steuereinnahmen gehen ja nicht absolut zurück (und wenn sie es täten, wäre das auch nicht unbedingt zu bedauern), sie steigen nur nicht ganz so rasant, wie sich ausgabefreudige Regierungspolitiker dies wünschen. Zum Vergleich: Im Jahr 2022 waren es „nur“ 896 Milliarden Euro.

Man sollte eigentlich meinen, dass die Regierenden eines Staats, dessen Einnahmen derart steigen, es irgendwie fertig bringen, mit solchen Geldbeträgen auszukommen. Doch bekanntlich ist das nicht der Fall. Es ist das große, immer wieder neu ausgestellte Armutszeugnis der modernen Politik (nicht nur, aber zuletzt besonders in Deutschland), dass sie es nicht schafft, mit dem auszukommen, was sie den Steuerbürgern abnimmt. In früheren, vormodernen, vordemokratischen Zeiten sorgten Monarchen und Despoten, die sich gigantomane Schlösser bauten und Eroberungskriege führten, für leere Kassen (und schließlich 1789 zumindest in Frankreich für eine Revolution). Doch auch demokratische Regierungen scheinen bis auf wenige Ausnahmen außerstande, ohne Defizite zu regieren – auch ohne Schlösser (nun ja, die Bundesregierung gönnt sich allerdings einen gigantomanen Kanzleramtsausbau für schlappe 777 Millionen Euro).

Zur Einordnung ein paar Zahlen aus nicht so weit zurückliegender Vergangenheit: 2018 nahm der Staat rund 776 Milliarden ein, 2003 nur 442 und 1993 erst 383 Milliarden Euro. Natürlich stehen hinter dem Anstieg auch das Wirtschaftswachstum und die Inflation, aber nicht nur. Die Steuerquote, also der Anteil der Steuern am Bruttoinlandsprodukt (BIP), ist auch gestiegen: 1991 lag sie bei 22,1 Prozent, 2000 erreichte sie den damals als höchst problematisch erachteten Spitzenwert von 23,5 Prozent, doch 2022 strich der Staat 24,5 Prozent der Wirtschaftsleistung ein, auch das ein Rekord. Nimmt man die Abgaben hinzu, sind es fast 40 Prozent.

Dass diese Quote in anderen Staaten, vor allem in Nordeuropa noch höher ist, ändert nichts an dieser Tendenz: Verglichen mit den anderen Industrieländern liegt die Steuerlast in Deutschland deutlich über dem Durchschnitt. Der bei weitem größte Teil der Steuer- und Abgabenquote betrifft soziale Umverteilungsmaßnahmen des Staates oder staatlicher Versicherungen: Diese Sozialquote als Anteil der sozialen Umverteilung am BIP liegt mittlerweile deutlich über 30 Prozent. Zur Erinnerung, in der späten Schröder-Ära betrachtete man eine Quote von weniger als 29 Prozent als Alarmsignal und Grund für die Agenda-Reformen. 1970, zu Beginn der ersten sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt, lag sie bei rund 20 und 1990 erst bei 24 Prozent.

Nur in der kurzen, kaum zwei Jahrzehnte dauernden Phase der Aufbau-Jahre nach dem Krieg, in einer Zeit, die von heutigen Agenda-Setzern bestenfalls als „muffig“ diskreditiert wird, schafften es deutsche Regierungspolitiker, mit dem auszukommen, was die Bürger für den Staat erwirtschafteten. Neben dem legendären Wirtschaftsminister Ludwig Erhard war das nicht zuletzt das Verdienst des leider weitgehend vergessenen Finanzministers Fritz Schäffer, der das seltene Heldenstück vollbrachte, ein Vermögen des Bundes anzusparen. Doch seit mindestens einem halben Jahrhundert lebt der deutsche Staat nun dauerhaft im Defizit, also zunehmend auf Pump. Und die Schuldenbremse? Corona und die „Zeitenwende“ haben bewiesen, dass sie im Ernstfall sofort gelockert wurde. Was ist eine Bremse wert, die nicht zieht, wenn es darauf ankäme?

Dem Bund fehlen also rund 20 Milliarden Euro laut letztem Stand im Haushaltsplan für 2024. Man ist an Staatsdefizite derart gewöhnt, dass man dieses Loch nach den Riesenausgaben der Corona-Zeit schon für Peanuts halten möchte. 440 Milliarden Euro soll allein der Bund laut Welt am Sonntag in den zurückliegenden drei Jahren für Corona-Zwecke ausgegeben haben, als größte Batzen darunter die Wirtschaftshilfe für Unternehmen, Profisportvereine und Kulturveranstalter (66,2 Milliarden Euro) sowie die Kosten für Impfungen, Tests und Schutzausrüstungen (63,5 Milliarden Euro). Und trotz dieser gigantischen Ausgaben ist unser Gesundheitssystem drei Jahre später so marode wie nie zuvor und Gesundheitsminister Karl Lauterbach braucht noch mehr Geld. Aber auch andere Ministerien haben hohen Mehrbedarf angemeldet: Zum Beispiel will Familienministerin Lisa Paus (Grüne) für die Kindergrundsicherung, das sozialpolitische Lieblingsvorhaben der Ampelregierung, 12 Milliarden Euro mehr – Lindner hat signalisiert, dass er maximal drei Milliarden locker machen will. Wäre es für die heute aufwachsenden Kinder möglicherweise nicht eine sinnvollere „Grundsicherung“, ihnen keinen öffentlichen Schuldenberg zu hinterlassen? 

In Interviews geben Finanzpolitiker dieses Generalversagen des Staates immer mal wieder zu. Wobei man das üblicherweise dann den Vorgängerregierungen anlastet. Es stimmt, wenn Lindner sagt: “Diese Haushaltslücke muss erwirtschaftet werden durch Verzicht.“ Und er klagt zurecht: „Die gut zehn Jahre mit Null- und Negativzins wurden leider nicht genutzt. Im Gegenteil, CDU, CSU und SPD haben die temporäre Zinsersparnis genutzt, um neue Sozialleistungen und Subventionen zu beschließen.“ Aber er selbst hat, sobald er sein Ministerium übernahm, auch fleißig mitgeholfen beim Aufnehmen neuer Schulden mit neuen Vernebelungstaktiken. Auch zwischen Finanzpolitiker-Worten und Finanzpolitiker-Taten besteht seit Jahrzehnten ein strukturelles Defizit.

Migrationsgipfel als Sparsignal?

Das Ergebnis des Migrationsgipfels könnte aus finanzpolitischer Perspektive insofern durchaus positiv gewertet werden. Dass die Bundesregierung nur eine einzige Milliarde zusätzlich für die Versorgung der Armutszuwanderer an die Länder geben will, kann Lindner, der am Migrationsgipfel nicht teilnahm, insofern als Erfolg verbuchen. Wenn die gesamte Migrationspolitik nicht so hoffnungslos von moralisierend-wirklichkeitsverleugnenden Lebenslügen verheert wäre, könnte man fast feststellen, dass endlich die Erkenntnis reift, dass die Ausgaben für die Armutsmigration – die so gründlich auf alle möglichen Etats auf allen Staatsebenen in mehreren Ressorts verteilt sind, dass sie wohl niemand eindeutig beziffern kann (und will) – endlich gedeckelt werden müssen.

Zwischen den Zeilen der offiziellen Stellungnahmen ist das Signal unübersehbar: Die Länder und Kommunen müssen sich so organisieren, dass die „Schutzsuchenden“ (sie so und nicht Versorgungssuchende zu nennen, gehört zu den erwähnten Lebenslügen deutscher Migrationspolitik) mit weniger auskommen müssen. Allerdings müssten dann auch endlich die bundesgesetzlichen Grundlagen geschaffen werden, um diese Versorgungsleistungen auf ein Maß zurückführen zu können, das Deutschland im Vergleich zu seinen EU-Nachbarn weniger anziehend machen würde. 

Wenn man diese Botschaft ehrlicher und offener kommunizierte und auch auf andere Ebenen des Sozialstaates anwenden würde, wäre das nicht nur eine mittelfristig effektivere Maßnahme zur Eindämmung der Armutsmigration als groteske Kontrollen durch Polizisten, die keinen Einwanderungswilligen abweisen dürfen. Hat etwa die Bundesregierung endlich die Wirksamkeit des Pull-Faktors erkannt? Wenn dem so wäre, könnte neben den Steuereinnahmen vielleicht auch die Hoffnung wieder ein ganz klein wenig wachsen, dass bei jenen Staatsvertretern, die den Bürgern demnächst wieder 40 Prozent ihres sauer verdienten Einkommens abknüpfen, die Erkenntnis von der Notwendigkeit des Auskommens mit dem Vorhandenen nicht ganz und gar verloren ist. 

Dagegen steht allerdings eine der mächtigsten Kräfte dieses Landes: die „Zivilgesellschaft“ der NGOs, für die die Migration neben dem Klimaschutz die wichtigste Daseinsberechtigung ist. Mit dieser Lobby, die nicht nur mit den Sozialverbänden, sondern auch mit den regierenden Parteien in einem engen Geflecht ideologischer und privater Interessen verwoben ist, für das der Habeck-Graichen-Komplex nur ein Beispiel ist, sich anzulegen, wäre die eigentliche Herkules-Aufgabe einer finanz- (und migrations)politischen Umkehr zu Maß und Vernunft. Die Besitzstände, die sich hier in den vergangenen Jahren etabliert haben, sind gemeinsam mit dem altbekannten Wagnerschen Gesetz des expandierenden Staatsapparates das Kreuz, das die Steuerzahler tragen.

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