Tichys Einblick
Fehler der Grünen haben System

Das Phänomen Baerbock zeigt, wohin ein Klima der Kritikverweigerung führt

In der Affäre um Annalena Baerbock machen die Grünen einen Fehler nach dem anderen. Ihr Krisen-Dilettantismus ist eine Folge mangelnder Kritik-Erfahrung. Nachdem sie von den Medien stets gehätschelt wurden, stolpern Baerbock und Co jetzt über ihre eigenen Füße.

Annalena Baerbock im Bundestag am 24. Juni 2021

IMAGO / Future Image

Die Grünen haben getan, was alle tun, die nicht genug kritisiert werden: Sie haben nicht nur Fehler gemacht, sondern den Schaden durch weitere Fehler noch verschlimmert. Eine fatale Personalentscheidung wird jetzt durch eine dilettantische Krisenkommunikation erst recht zum Bein, das sich die Lieblingspartei des Juste Milieu selbst stellt. 

Der Ursprungsfehler war die Wahl von Annalena Baerbock an die Parteispitze und ihre Hinterzimmerkür als Parteivorsitzende. Das war allerdings kein Ausrutscher, sondern nur die Spitze eines Eisberges grüner Inkompetenz, der aus dem Zusammenspiel von Quotenregel, unkritisch-grünenfreundlichen Medien und den Mechanismen der Negativauslese aller Parteien des Parteienstaates erwachsen ist. 

Einen besonders drastischen Blick auf das Ausmaß dieses Eisbergs gewährte – für Baerbock und die Grünen zur Unzeit – die Schmonzette von Saarbrücken: Die Wahl eines Mannes zum Spitzenkandidaten löste parteiinterne Empörung aus, während die Wahl einer auf geradezu groteske Weise überforderten Frau auf den aussichtsreichen zweiten Platz erst von außen und im Nachhinein zur Detonation führte.

Spätestens nach dem Bekanntwerden der ersten Unklarheiten in ihrem veröffentlichten Lebenslauf hätte auch innerhalb der Grünen Partei ein Prozess der Kritik einsetzen müssen. Wenn schon Baerbock nicht selbst auf den Gedanken kam, dass es in einer solchen Situation nur eine Lösung der Schadensbegrenzung gibt: nämlich die Falschangaben sofort und radikal so zu korrigieren, dass sie absolut jedem weiteren Nachbohren standhalten, dann hätten ihr kluge Mitarbeiter und Parteifreunde unbedingt und unmissverständlich dazu raten müssen. 

Zeit zum Lesen
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Dass dies nicht geschah, und Baerbock sich nur scheibchenweise und höchst unglaubwürdig korrigierte, kann man dadurch erklären, dass Baerbock und die Grünen sich in Sicherheit wähnten. Die weitestgehende Kritikverweigerung, ja fast schon obszöne Zuneigung, die ein Großteil des Medienbetriebs mit den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten vorneweg seit Jahren den Grünen und ganz besonders Annalena Baerbock zeigten, haben diese womöglich so verzärtelt, dass sie der harten Wirklichkeit der Kampagnen und Skandale nicht gewachsen sind.

Und so beging Baerbock einen weiteren Fehler: Als Kanzlerkandidatin glaubte sie der Öffentlichkeit ein Buch schuldig zu sein. Eigentlich hätte ihr klar gewesen sein müssen, dass dieses Buch so kurz vor der Wahl und angesichts der Entlarvungen über ihren verfälschten Lebenslauf genau unter die Lupe genommen würde. Natürlich hat kaum ein Berufspolitiker unmittelbar vor einer Bundestagswahl Zeit, so ein Buch selbst zu verfassen. Das besorgen üblicherweise Ghostwriter. Baerbock hätte daher spätestens nach Beginn der Affäre um ihren Lebenslauf die Notbremse ziehen müssen, wenn auch nur der geringste Verdacht bestünde, dass auch nur der geringste Makel an dem Manuskript sein könnte. Dass ein Ghostwriter sich die Auftragsarbeit durch Copy-Paste einfacher macht, sollte niemanden überraschen. Das bedeutet auch nicht unbedingt einen Verstoß gegen das Urheberrecht. Aber peinlich ist es allemal, weil eben offensichtlich wird, dass da jemand nicht tief recherchiert und nachgedacht, sondern schnell zusammengeschustert hat.

Auch das hätten ihr, wenn sie schon selbst nicht darauf kam, Berater und Parteifreunde klarmachen müssen. Doch wie schon im Fall ihres Lebenslaufes scheinen Baerbock und ihr Umfeld nicht auf den Gedanken gekommen zu sein, dass jemand dieses Buch auf Schwächen abklopfen würde. Auch das ist nur dadurch zu erklären, dass Baerbock und ihr Umfeld öffentliche Kritik kaum kennen, also auch nicht gewöhnt sind, ihr im Vorhinein keine Nahrung zu geben. Und so erschien das Buch. 

Momentaufnahme
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Der Plagiatsjäger Stefan Weber, der die mutmaßlichen Copy-Paste-Passagen im Baerbock-Buch öffentlich machte, ist ein professioneller Dienstleister. Man kann ihn mieten. Für 4 Euro pro Prüfseite – laut eigener Website – hätte Weber vermutlich auch Baerbocks Buch auf Plagiate geprüft. Keine 1.000 Euro hätte es Baerbock also gekostet, das Buch niet- und nagelfest zu machen. Das hätte sie sich leisten sollen. Nun arbeitet Weber auf eigene Rechnung – und gewinnt dadurch bundesweite Bekanntheit. Er ist zweifellos der größte Sieger der ganzen Affäre.

Die Grünen haben Weber sogar selbst schon einmal gemietet. 2017 schrieb Weber ein Gutachten, in dem er einen Plagiatsvorwurf der Grünen bestätigte. Damals ging es gegen einen „Bewertungsbericht des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) und damit die wissenschaftliche Grundlage für die von der EU-Kommission vorgeschlagene Zulassungsverlängerung von Glyphosat“. Das ist auf der Website des grünen Bundestagsabgeordneten Harald Ebner noch nachzulesen.

Baerbock und die Grünen kamen aber offenbar nicht auf die Idee, das Buch vorsorglich abzusichern. Nun ziehen sie stattdessen nachträglich mit viel Getöse in die mediale Abwehrschlacht. Statt kostengünstiger 1.000 Euro für die Plagiatskorrektur zahlen sie nun das sicherlich deutlich höhere Honorar des berüchtigten Medienanwalts Christian Schertz und sparen auch nicht mit wütenden Angriffen gegen diejenigen, die über Webers Vorwürfe berichten. Weber versuche „bösartig ihren Ruf zu schädigen“, heißt es, der grüne Altmeister Jürgen Trittin spricht von einer „Dreckskampagne“. In den sozialen Netzwerken hat die Parteiführung außerdem ihre Basis und ihre treuen Anhänger zum unbedingten Schulterschluss mit Baerbock motiviert

Das Ergebnis ist: #baerplag trendet bei Twitter und die Copy-Paste-Vorwürfe verbreiten sich erst recht in Windeseile.

Indem sie den berüchtigten Schertz engagierten, haben die Grünen außerdem allen Medien, die es wagen zu berichten, den direkten Kampf vor Gericht angedroht. Auch das ist ein fataler taktischer Fehler. Bislang waren es gerade nicht die so genannten Leitmedien und schon gar nicht die öffentlich-rechtlichen, die Baerbocks Lebenslauflügen aufdeckten und zuerst über die Plagiatsvorwürfe berichteten. Publizistische Einzelkämpfer, Blogger und wenige kritische Publikationen wie TE brachten den Stein ins Rollen. 

Wie ungewohnt für Grüne die Rolle des Kritisierten ist, offenbaren nun ihre völlig unverhältnismäßigen Reaktionen darauf, dass auch die ihnen gewogenen Medien über die Vorwürfe gegen Baerbock berichten. 

Selbst ein höchst grünen-freundliches Blatt wie der Spiegel wird aber das Engagement von Schertz und andere Drohgebärden womöglich mit Liebesentzug beantworten. Und der ist für Baerbock viel schwerwiegender als die Aussicht, vor Gericht irgendeinen missliebigen Journalisten zum Schweigen zu bringen. Ihr müsste es darum gehen, den Eindruck der eigenen Inkompetenz und intellektuellen Leichtgewichtigkeit, der nun in der Welt ist, möglichst klein und unauffällig zu halten. Nicht der große Gegenschlag ist in einer solchen Situation angebracht, sondern das Flachhalten der Welle, also möglichst wenig Anlass für Artikel und Fernsehberichte bieten. 

Die Parteiführung der Grünen hat sich letztlich, wie Don Alphonso klug resümiert, ihrer Kanzlerkandidatin ausgeliefert, indem sie deren privates Buch zu einer höchsteigenen Parteiangelegenheit machte. Die Partei, die das Land regieren möchte, hat sich damit in Abhängigkeit eines Ghostwriters begeben. Nach allen Erfahrungen mit Baerbocks Lebenslauf und ihrem Umgang damit, hat man jetzt erst recht Anlass und Motivation, dieses Buch genauer zu betrachten. 

Die Grünen werden nicht, wie sie glauben machen wollen, Opfer einer Kampagne mächtiger Medien und anderer Parteien. Im Gegenteil, die meisten Medien und erst recht die anderen Parteien (von der AfD natürlich abgesehen) gehen immer noch sehr schonend mit Baerbock und den Grünen um. Sie stolpern über ihre eigenen Füße, sie sind das Opfer ihrer eigenen Unfähigkeit, mit Kritik umzugehen, die sie von einer sie sonst blind anhimmelnden Öffentlichkeit und ihnen opportunistisch nacheifernden Parteien nicht gewohnt sind. 

Ein Hashtag macht Politik
Baerbock auf Mitleidstour und Laschet kommt per Schlafwagen ins Amt
Das Phänomen Annalena Baerbock, ihr fataler Aufstieg als Liebling des Berliner Betriebes und zur Kanzlerkandidatin trotz offenkundig fehlender Kompetenzen, ist ein Beispiel dafür, wie wichtig und heilsam eine kritische Öffentlichkeit ist – und wie fatal ihr Fehlen. Sowohl Baerbocks Aufstieg, als auch der selbstschädigende Umgang der Grünen mit ihrer Entzauberung sind die Folge eines Klimas der Kritikverweigerung in weiten Teilen des Medien- und Politikbetriebs.

Baerbock ist die zur modernen Wirklichkeit gewordene Version des Märchens „Des Kaisers neue Kleider“. Doch offenbar wollen die Grünen und viele ihrer Anhänger immer noch nicht wahrhaben, dass ihr Kaiser Baerbock nackt ist. Das ist ja auch nicht nur für den Kaiser peinlich, sondern noch mehr für jene, die ihm zujubelten. Nicht Baerbocks Versäumnisse und Mängel sind erschreckend, sondern dass sie überhaupt so weit kommen konnte im deutschen Politik- und Medienbetrieb. 

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